Dass Earthboi, der so alt ist wie das Leben auf der Erde selbst, sich ausgerechnet zu unserer Zeit in menschlicher Form manifestiert, kann kein Zufall sein. Er kennt die Natur und ihre Lebewesen in allen Facetten, er hat ihre Entstehung beobachtet und begleitet. Und nun betrachtet er entsetzt die verheerenden Auswirkungen des Anthropozäns auf die Natur, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Er entwickelt eine App, die UserInnen ein ökologisches Bewusstsein "einpflanzt" und wird zu einem globalen Anführer, einer Art Messias, dessen Anhängerschar stetig wächst. Ist die Rettung des Planeten vereinbar mit der Rettung der Menschheit?Lukas Jüligers "Unfollow" stößt mitten in die Klimadebatte. Kritisch setzt er sich mit aktuellen Fragen auseinander: Gibt es alternative, nachhaltige Lebensentwürfe? Wie gehen wir mit den gewaltigen ökologischen und sozialen Umwälzungen als Folge des Klimawandels um, mit denen wir uns künftig immer stärker konfrontiert sehen werden? Und ist ein Personenkult im digitalen Zeitalter plan- und konstruierbar?
buecher-magazin.de„Immer mehr Tiere verschwanden. Etwas störte den natürlichen Lauf. (…) Mikroplastik zerkratzte seine Kiemen, Ölteppiche verklebten seine Federn, Gase brannten in seinen Lungen.“ Das Bewusstsein der Erde manifestiert sich in einem siebenjährigen Jungen. Er erlebt eine Kindheit „in Langeweile und Überfluss“. Als seine Adoptivmutter immer wieder tote Tiere unter seinem Bett findet, landet er in der Psychiatrie. Er übt eine natürliche Anziehungskraft auf die anderen Kinder aus, und eines dieser Kinder erzählt uns diese Geschichte. Was wir glauben, bleibt uns überlassen. Der Junge flieht aus der Psychiatrie, stiehlt ein Smartphone und ein Solarpanel und wird unter dem Namen @realearthboi zum Influencer. Er lenkt die Aufmerksamkeit des Netzes auf die Zerstörung des Planeten, erfindet eine nachhaltigere Nahrung, programmiert eine Meditations-App und gründet schließlich zusammen mit einem anderen Internet-Wunderkind eine Kommune: Erde, ein Zentrum für „assistierte Evolution“. Lukas Jüligers hübsche, detaillierte, auf eine seltsam entschlossene Weise verspielte Zeichnungen in meist kalten, gedeckten Farben haben dunkle Untertöne. In dieser Geschichte liegt ein Abgrund. Sie ist so vieldeutig, dass sich noch Tage nach der Lektüre mögliche Interpretationen zusammensetzen wie Bilder in einem Kaleidoskop. Vielleicht ist „Unfollow“ die Geschichte einer Befreiung.
© BÜCHERmagazin, Elisabeth Dietz (ed)
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Christoph Haas hat zwei neue Comics zur Klimakatastrophe gelesen. In Lukas Jüligers "Unfollow" wird mit "Earthboi" eine Art Messias in die Umweltzerstörung hineingeboren, der im Wald eine Schar von Influencer-Jünger*innen um sich herum versammelt, erzählt der Kritiker. Er bescheinigt Jüliger ein großes Talent, mit seinen Bildern eine beklemmende Stimmung zu erzeugen, wirft ihm aber zugleich vor, erzählerisch zu viel zu wollen: Durch die gleichzeitige Thematisierung von "Japanophilie und Influencer-Kultur, Klimakrise und Weltrettung, Sekten- und Amokwahn" entstehen dem Rezensenten zufolge einige Unklarheiten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.07.2020Dieses wunderbare Füllegefühl
Die Gegenwart in gezeichnete Bilder zu fassen ist schwer. Lukas Jüliger hatte es 2013 mit seinem Comic-Debüt getan. Mit "Unfollow" trifft er nun abermals den Nerv der Zeit.
Als Lukas Jüliger 2013 seinen Comic "Vakuum" herausbrachte, war das eines der verblüffendsten deutschen Debüts in dieser Erzählform. Denn Jüliger kam aus dem Nichts, konnte aber scheinbar schon alles: Er zeichnete, als hätte er bei Hayao Miyazaki einen Meisterkurs belegt (und war während des Studiums an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften doch nicht einmal in der Klasse von Anke Feuchtenberger gewesen). Er schrieb, als wollte er eine Essenz der Comic-of-Age-Literatur seit dem "Fänger im Roggen" gewinnen (und war dabei doch so eigenständig, dass man sich seinen Stoff nur in der unmittelbaren Gegenwart angesiedelt vorstellen konnte - sowohl inhaltlich wie äußerlich). Er konzipierte Panel-Arrangements, die den Bildsequenzen die seitenarchitektonische Stabilität eines Gebirges verliehen (und ließ doch auch immer wieder sichtbar werden, auf welch schwankendem Grund sich seine Geschichte bewegte). Man las diesen Band wie ein Generationenfanal (obwohl es kaum einen Autor gibt, der weniger von sich preisgibt als der 1988 geborene Jüliger; auf seiner Homepage beschränken sich die Angaben zur Person auf "currently living and working in Berlin"). Dass "Vakuum" bei Reprodukt erschien, dem deutschen Verlag mit dem größten Renommee in Sachen anspruchsvoller Comics, tat ein Übriges. Man könnte es paradox ausdrücken: "Vakuum" erzeugte ein Füllegefühl.
Und dann tatsächlich wieder nichts. Fünf Jahre lang nichts. Bis in der von Isabel Kreitz beim Carlsen Verlag herausgegebenen Schauercomicreihe "Die Unheimlichen" - mit Interpretationen klassischer Horrorgeschichten - Jüligers Umsetzung von Edgar Allan Poes Erzählung "Berenice" erschien und sich das Füllegefühl sofort wieder einstellte, trotz der bescheidenen Länge und der fremden Vorlage. Poes tragischer Spuk wurde unter Jüligers Feder absolut modern, weil der ihn in einer Welt der Internet-Mangakultur ansiedelte, in der die Kategorien von Erleben und Überleben ähnlich phantastische Züge aufweisen wie in der Gruselgeschichte aus dem neunzehnten Jahrhundert. 2018 war aber auch bekanntgeworden, dass Jüliger schon seit Jahren an einem großen eigenen Projekt saß, das sich um einen Influencer in den sozialen Medien drehen sollte. "Berenice" war offenbar so etwas wie die Fingerübung dazu.
Nun ist dieser große Comic da, wieder bei Reprodukt erschienen, und er heißt "Unfollow". Der Titel weist bereits auf den dystopischen Charakter der Geschichte hin, denn in einer Welt, in der die Zahl der Follower alles bedeutet, ist die Option "unfollow" Ausdruck von Verweigerung. Es ist bei Jüliger der Influencer selbst, der das followship mit seiner Gemeinde aufkündigt; die Folgen der resultierenden Enttäuschung für das erzählende "Wir" des Comics sind dessen eigentliches Thema.
Fixpunkt des Geschehens ist Earthboi, ein junger Mann unbestimmten Alters, der in einem Heim für verhaltensauffällige Jugendliche aufgewachsen ist und danach als Youtuber mit Videos übers natürliche Leben einen Kult um seine Person entfesselt hat, die dem eigenen Anspruch an Integrität nicht mehr gerecht werden kann. Anfangs wird Earthboi alles zum Erfolg, bis hin zur Liebe seiner Bewunderin Yu, die wie eine Wiedergängerin des Mangamädchens aus Jüligers "Berenice" erscheint. Sie hält Earthboi noch die Treue, als das kollektive "Wir" sich gegen ihn wendet, doch zu retten ist in der manichäischen Welt der sozialen Medien für niemanden etwas. "Unfollow" ist das desillusionierende Porträt des geplatzten Traums von Partizipation im Netz. Der Influencer bleibt ebenso allein wie seine Follower.
Jüliger findet für diese Geschichte eine graphische Form, die durch Verzicht auf Sprechblasen, Panelumrahmungen und Lautmalereien die Instagram-Ästhetik in den Comic überführt: Die Texte wirken wie Kommentare zu den Panels, obwohl sie autonom erzählen. Auch "Unfollow" wirkt wie ein Fanal. Nur diesmal nicht das einer Generation, sondern einer Kommunikationsstruktur.
ANDREAS PLATTHAUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Gegenwart in gezeichnete Bilder zu fassen ist schwer. Lukas Jüliger hatte es 2013 mit seinem Comic-Debüt getan. Mit "Unfollow" trifft er nun abermals den Nerv der Zeit.
Als Lukas Jüliger 2013 seinen Comic "Vakuum" herausbrachte, war das eines der verblüffendsten deutschen Debüts in dieser Erzählform. Denn Jüliger kam aus dem Nichts, konnte aber scheinbar schon alles: Er zeichnete, als hätte er bei Hayao Miyazaki einen Meisterkurs belegt (und war während des Studiums an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften doch nicht einmal in der Klasse von Anke Feuchtenberger gewesen). Er schrieb, als wollte er eine Essenz der Comic-of-Age-Literatur seit dem "Fänger im Roggen" gewinnen (und war dabei doch so eigenständig, dass man sich seinen Stoff nur in der unmittelbaren Gegenwart angesiedelt vorstellen konnte - sowohl inhaltlich wie äußerlich). Er konzipierte Panel-Arrangements, die den Bildsequenzen die seitenarchitektonische Stabilität eines Gebirges verliehen (und ließ doch auch immer wieder sichtbar werden, auf welch schwankendem Grund sich seine Geschichte bewegte). Man las diesen Band wie ein Generationenfanal (obwohl es kaum einen Autor gibt, der weniger von sich preisgibt als der 1988 geborene Jüliger; auf seiner Homepage beschränken sich die Angaben zur Person auf "currently living and working in Berlin"). Dass "Vakuum" bei Reprodukt erschien, dem deutschen Verlag mit dem größten Renommee in Sachen anspruchsvoller Comics, tat ein Übriges. Man könnte es paradox ausdrücken: "Vakuum" erzeugte ein Füllegefühl.
Und dann tatsächlich wieder nichts. Fünf Jahre lang nichts. Bis in der von Isabel Kreitz beim Carlsen Verlag herausgegebenen Schauercomicreihe "Die Unheimlichen" - mit Interpretationen klassischer Horrorgeschichten - Jüligers Umsetzung von Edgar Allan Poes Erzählung "Berenice" erschien und sich das Füllegefühl sofort wieder einstellte, trotz der bescheidenen Länge und der fremden Vorlage. Poes tragischer Spuk wurde unter Jüligers Feder absolut modern, weil der ihn in einer Welt der Internet-Mangakultur ansiedelte, in der die Kategorien von Erleben und Überleben ähnlich phantastische Züge aufweisen wie in der Gruselgeschichte aus dem neunzehnten Jahrhundert. 2018 war aber auch bekanntgeworden, dass Jüliger schon seit Jahren an einem großen eigenen Projekt saß, das sich um einen Influencer in den sozialen Medien drehen sollte. "Berenice" war offenbar so etwas wie die Fingerübung dazu.
Nun ist dieser große Comic da, wieder bei Reprodukt erschienen, und er heißt "Unfollow". Der Titel weist bereits auf den dystopischen Charakter der Geschichte hin, denn in einer Welt, in der die Zahl der Follower alles bedeutet, ist die Option "unfollow" Ausdruck von Verweigerung. Es ist bei Jüliger der Influencer selbst, der das followship mit seiner Gemeinde aufkündigt; die Folgen der resultierenden Enttäuschung für das erzählende "Wir" des Comics sind dessen eigentliches Thema.
Fixpunkt des Geschehens ist Earthboi, ein junger Mann unbestimmten Alters, der in einem Heim für verhaltensauffällige Jugendliche aufgewachsen ist und danach als Youtuber mit Videos übers natürliche Leben einen Kult um seine Person entfesselt hat, die dem eigenen Anspruch an Integrität nicht mehr gerecht werden kann. Anfangs wird Earthboi alles zum Erfolg, bis hin zur Liebe seiner Bewunderin Yu, die wie eine Wiedergängerin des Mangamädchens aus Jüligers "Berenice" erscheint. Sie hält Earthboi noch die Treue, als das kollektive "Wir" sich gegen ihn wendet, doch zu retten ist in der manichäischen Welt der sozialen Medien für niemanden etwas. "Unfollow" ist das desillusionierende Porträt des geplatzten Traums von Partizipation im Netz. Der Influencer bleibt ebenso allein wie seine Follower.
Jüliger findet für diese Geschichte eine graphische Form, die durch Verzicht auf Sprechblasen, Panelumrahmungen und Lautmalereien die Instagram-Ästhetik in den Comic überführt: Die Texte wirken wie Kommentare zu den Panels, obwohl sie autonom erzählen. Auch "Unfollow" wirkt wie ein Fanal. Nur diesmal nicht das einer Generation, sondern einer Kommunikationsstruktur.
ANDREAS PLATTHAUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main