Egon Schwarz wurde 1938 als Sechzehnjähriger von den Nazis aus Österreich vertrieben und zog in einer ein Dutzend Jahre währenden Irrfahrt durch die halbe Welt. Als Hilfsarbeiter, Hausierer, Laufbursche, Dolmetscher und in etlichen anderen aus der Not geborenen Berufen schlug er sich mehr schlecht als recht durch, bis er gegen alle Wahrscheinlichkeit noch seinen Lebenswunsch verwirklichen und studieren konnte. Heute, nach Professuren in Harvard und St. Louis, ist Egon Schwarz einer der renommiertesten Germanisten der USA. Sein berühmter Lebensbericht, der hier erstmals in einer Paperback-Ausgabe vorliegt, ist, nicht zuletzt weil die sozialen Bedingungen an jedem der vielen Aufenthaltsorte anschaulich werden, ein ebenso berührendes wie aufschlußreiches biographisches Dokument und ein bedeutender Beitrag zur deutschen Exilliteratur.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nicht nur beeindruckt, sondern regelrecht ergriffen zeigt sich Rezensentin Susanne Klingenstein von Egon Schwarz' Autobiografie. Dazu trägt der "formal vollendete" Stil des Buches bei, der ohne jede Verklärung oder unnötige Emotion das Schicksal Schwarz' und seiner Bekannten: angefangen von den Mitgliedern der Familie, denen die Flucht vor der Vernichtung nicht gelang, über die Wiener Juden bis zu den ausgebeuteten Indios in den Bergwerken Boliviens, wo der Autor zwei Jahre lang arbeiten musste. Wichtig sei auch Schwarz' Hinweis am Ende seines Berichtes, dass ihm aller Überlebenswille und auch alle Fähigkeiten nichts genutzt hätten, wenn ihm nicht im entscheidenden Moment hier und da andere Menschen geholfen hätten. Ein "aufrüttelndes" Buch, resümiert die Rezensentin.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.11.2006Ins Wort gerettet
Lebensroman eines Schicksalhaften: Egon Schwarz erzählt
In der reichen und vielfältigen Memoirenlandschaft, die die Flüchtlinge vor Hitlers Terror im Lauf der Jahrzehnte geschaffen haben, nehmen die Erinnerungen des Literaturhistorikers Egon Schwarz einen besonderen Platz ein. Sie stellen, um im Bild zu bleiben, einen ganz eigenen, nur von ihnen besetzten Gipfel auf dem weiten Feld des Abgründigen und Ungeheuerlichen dar. Denn nur selten hatte es Juden aus Wien so total, so mittellos, so ohne jede Möglichkeit weiteren Entkommens in die finsterste Kolonialzeit verschlagen wie die Familie Schwarz am Ende ihrer Verzweiflungsfahrt in die Bergbaugebiete Boliviens. Und noch seltener ist einer der Verschlagenen in die Welt des europäischen Intellekts zurückgekehrt, um in einer formal vollendeten, von aller Romantik, Emotion und Schönrednerei gereinigten Autobiographie vom Leben in der feudalistischen Hölle der Anden Bericht zu erstatten.
Dabei hatte es das Schicksal zunächst so schlecht mit Egon Schwarz nicht gemeint. Er kam 1922 im verarmten Wien der Republik als einziger Sohn jüdischer Kleinbürger zur Welt, die den Sprung aus der Provinz in die Hauptstadt gewagt hatten. Obgleich dem Vater der materielle Aufstieg nicht gelang, schickte er den begabten Sohn aufs Gymnasium. Es wurde dem Sohn zur psychischen Qual. Nach dem Einmarsch Hitlers floh die Familie illegal nach Preßburg (Bratislava), wurde dort festgenommen und zusammen mit mehreren hundert anderen gesellschaftlich Ausgestoßenen im Niemandsland zwischen der Slowakei und Ungarn einfach abgesetzt.
Aus dieser Vorhölle gelang wiederum die Flucht zunächst zurück nach Preßburg und von dort nach Prag, wo der Familie im Februar 1939 ein Einreisevisum nach Bolivien erteilt wurde. Jüdische Hilfsorganisationen in Paris stellten das Reisegeld zur Verfügung. "Ordunã", die Krähe, brachte die Familie übers Meer nach Chile. Noch eine Zugfahrt von sechzehn Stunden, und die Wiener Flüchtlinge standen auf dem Bahnhof von La Paz. Sie würden die einzigen Überlebenden ihres großen Clans sein. Doch das würden sie noch lange nicht wissen. Die nächsten sechs Jahre waren sie vollständig auf materielle und psychische Probleme zurückgeworfen. Zwischen ihnen und der einheimischen Bevölkerung "klaffte ein unüberbrückbarer Abgrund von Kulturäonen".
Schwarz beschreibt eindringlich die feudalistisch segregierte Struktur der Bevölkerung, die totale Isolation der Emigranten und den rapiden materiellen Abstieg seiner Familie, der sich physisch im Umzug in stets kleinere Provinznester ausdrückte, wo durch das eine oder andere Geschäftsunternehmen den verarmten Indios noch die Centimos zum eigenen Überleben aus der Tasche gelockt werden mußten. Schwarzens eigener Tiefpunkt scheint erreicht, als er mit seinem Hausiererkoffer in der toteinsamen, windgepeitschten Erzgrube Pulacayo ankommt, um mit einem Plakat auf dem Rücken seine Socken, Kämme und Seifen anzupreisen.
Doch es geht noch tiefer. Die Arbeit in den berüchtigten Minen von Potosí liegt noch vor ihm. Dort erst ist er in der Hölle, wird Teil und Zeuge der brutalen Ausbeutung der Indios durch internationale Gesellschaften. Doch weil Schwarz Europäer ist, obgleich als Jude nur ein Europäer unterster Stufe, gelingt es ihm nach zwei Jahren, im Spätherbst 1944, den Minen körperlich zu entkommen. Seelisch bleiben sie ihm eingeschrieben und bestimmen fortan sein Verhältnis zu Kapitalismus und Kultur. Monate in Chile und Jahre in Ecuador als Buchhalter der United Fruit Company folgen. Das Schicksal scheint Schwarz nun im trüben Tümpel südamerikanischer Kleinbürgerlichkeit verenden lassen zu wollen.
Doch da geschieht es: Gallige Bitternis darüber, nicht studiert haben zu können, und geballte Unzufriedenheit mit seinem stupiden Job treiben Schwarz noch einmal zu einer massiven Anstrengung an. Er verschafft sich die rettende Matura und schreibt sich an einer Provinzuniversität Ecuadors zum Studium ein. Von hier gelingt ihm der Sprung an eine amerikanische Universität. Was sich hinter "verschafft" und "gelingt" verbirgt, sind Abenteuer, Anstrengungen und die unwahrscheinlichsten aller Zufälle, die eindrücklichst vorführen, wie wenig ein aus seiner Sozialsphäre gerissener Mensch Herr über sein Schicksal ist.
So kulminiert denn der Lebensbericht von Egon Schwarz, der 1991 als renommierter Germanist an der Washington University in St. Louis, Missouri, emeritiert wurde, in der Erkenntnis, daß "mir alles Wollen und Tun nichts genutzt hätte", wenn nicht an entscheidenden Punkten des Lebens ein Mensch - sei es ein Paul Rosenzweig in Cartagena oder ein Bernhard Blume in Columbus, Ohio - sich zur tatkräftigen Hilfe verstanden hätte.
Trotz des guten Ausgangs für den Autobiographen selbst sind diese kühlen Memoiren ein aufrüttelndes Buch, denn sie begnügen sich nicht damit, den Leser einen Blick in die existentiellen Qualen einiger Emigranten tun zu lassen; sie zwingen ihn zu der Erkenntnis, daß sich hinter der reichen Memoirenlandschaft der ins Wort Geretteten die unendlichen Gefilde der Stummen auftun, der Indios und jener Emigranten, für die es die Glücksbegegnung mit dem rettenden Menschen nicht gab.
SUSANNE KLINGENSTEIN
Egon Schwarz: "Unfreiwillige Wanderjahre". Auf der Flucht vor Hitler durch drei Kontinente. Mit einem Nachwort von Uwe Timm. C. H. Beck Verlag, München 2005. 260 S., geb., 12,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lebensroman eines Schicksalhaften: Egon Schwarz erzählt
In der reichen und vielfältigen Memoirenlandschaft, die die Flüchtlinge vor Hitlers Terror im Lauf der Jahrzehnte geschaffen haben, nehmen die Erinnerungen des Literaturhistorikers Egon Schwarz einen besonderen Platz ein. Sie stellen, um im Bild zu bleiben, einen ganz eigenen, nur von ihnen besetzten Gipfel auf dem weiten Feld des Abgründigen und Ungeheuerlichen dar. Denn nur selten hatte es Juden aus Wien so total, so mittellos, so ohne jede Möglichkeit weiteren Entkommens in die finsterste Kolonialzeit verschlagen wie die Familie Schwarz am Ende ihrer Verzweiflungsfahrt in die Bergbaugebiete Boliviens. Und noch seltener ist einer der Verschlagenen in die Welt des europäischen Intellekts zurückgekehrt, um in einer formal vollendeten, von aller Romantik, Emotion und Schönrednerei gereinigten Autobiographie vom Leben in der feudalistischen Hölle der Anden Bericht zu erstatten.
Dabei hatte es das Schicksal zunächst so schlecht mit Egon Schwarz nicht gemeint. Er kam 1922 im verarmten Wien der Republik als einziger Sohn jüdischer Kleinbürger zur Welt, die den Sprung aus der Provinz in die Hauptstadt gewagt hatten. Obgleich dem Vater der materielle Aufstieg nicht gelang, schickte er den begabten Sohn aufs Gymnasium. Es wurde dem Sohn zur psychischen Qual. Nach dem Einmarsch Hitlers floh die Familie illegal nach Preßburg (Bratislava), wurde dort festgenommen und zusammen mit mehreren hundert anderen gesellschaftlich Ausgestoßenen im Niemandsland zwischen der Slowakei und Ungarn einfach abgesetzt.
Aus dieser Vorhölle gelang wiederum die Flucht zunächst zurück nach Preßburg und von dort nach Prag, wo der Familie im Februar 1939 ein Einreisevisum nach Bolivien erteilt wurde. Jüdische Hilfsorganisationen in Paris stellten das Reisegeld zur Verfügung. "Ordunã", die Krähe, brachte die Familie übers Meer nach Chile. Noch eine Zugfahrt von sechzehn Stunden, und die Wiener Flüchtlinge standen auf dem Bahnhof von La Paz. Sie würden die einzigen Überlebenden ihres großen Clans sein. Doch das würden sie noch lange nicht wissen. Die nächsten sechs Jahre waren sie vollständig auf materielle und psychische Probleme zurückgeworfen. Zwischen ihnen und der einheimischen Bevölkerung "klaffte ein unüberbrückbarer Abgrund von Kulturäonen".
Schwarz beschreibt eindringlich die feudalistisch segregierte Struktur der Bevölkerung, die totale Isolation der Emigranten und den rapiden materiellen Abstieg seiner Familie, der sich physisch im Umzug in stets kleinere Provinznester ausdrückte, wo durch das eine oder andere Geschäftsunternehmen den verarmten Indios noch die Centimos zum eigenen Überleben aus der Tasche gelockt werden mußten. Schwarzens eigener Tiefpunkt scheint erreicht, als er mit seinem Hausiererkoffer in der toteinsamen, windgepeitschten Erzgrube Pulacayo ankommt, um mit einem Plakat auf dem Rücken seine Socken, Kämme und Seifen anzupreisen.
Doch es geht noch tiefer. Die Arbeit in den berüchtigten Minen von Potosí liegt noch vor ihm. Dort erst ist er in der Hölle, wird Teil und Zeuge der brutalen Ausbeutung der Indios durch internationale Gesellschaften. Doch weil Schwarz Europäer ist, obgleich als Jude nur ein Europäer unterster Stufe, gelingt es ihm nach zwei Jahren, im Spätherbst 1944, den Minen körperlich zu entkommen. Seelisch bleiben sie ihm eingeschrieben und bestimmen fortan sein Verhältnis zu Kapitalismus und Kultur. Monate in Chile und Jahre in Ecuador als Buchhalter der United Fruit Company folgen. Das Schicksal scheint Schwarz nun im trüben Tümpel südamerikanischer Kleinbürgerlichkeit verenden lassen zu wollen.
Doch da geschieht es: Gallige Bitternis darüber, nicht studiert haben zu können, und geballte Unzufriedenheit mit seinem stupiden Job treiben Schwarz noch einmal zu einer massiven Anstrengung an. Er verschafft sich die rettende Matura und schreibt sich an einer Provinzuniversität Ecuadors zum Studium ein. Von hier gelingt ihm der Sprung an eine amerikanische Universität. Was sich hinter "verschafft" und "gelingt" verbirgt, sind Abenteuer, Anstrengungen und die unwahrscheinlichsten aller Zufälle, die eindrücklichst vorführen, wie wenig ein aus seiner Sozialsphäre gerissener Mensch Herr über sein Schicksal ist.
So kulminiert denn der Lebensbericht von Egon Schwarz, der 1991 als renommierter Germanist an der Washington University in St. Louis, Missouri, emeritiert wurde, in der Erkenntnis, daß "mir alles Wollen und Tun nichts genutzt hätte", wenn nicht an entscheidenden Punkten des Lebens ein Mensch - sei es ein Paul Rosenzweig in Cartagena oder ein Bernhard Blume in Columbus, Ohio - sich zur tatkräftigen Hilfe verstanden hätte.
Trotz des guten Ausgangs für den Autobiographen selbst sind diese kühlen Memoiren ein aufrüttelndes Buch, denn sie begnügen sich nicht damit, den Leser einen Blick in die existentiellen Qualen einiger Emigranten tun zu lassen; sie zwingen ihn zu der Erkenntnis, daß sich hinter der reichen Memoirenlandschaft der ins Wort Geretteten die unendlichen Gefilde der Stummen auftun, der Indios und jener Emigranten, für die es die Glücksbegegnung mit dem rettenden Menschen nicht gab.
SUSANNE KLINGENSTEIN
Egon Schwarz: "Unfreiwillige Wanderjahre". Auf der Flucht vor Hitler durch drei Kontinente. Mit einem Nachwort von Uwe Timm. C. H. Beck Verlag, München 2005. 260 S., geb., 12,90 [Euro].
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