Wie sagt ein ungarisches Sprichwort: "Außerhalb von Ungarn gibt es kein Leben; und wenn, dann ist es nicht dasselbe." Was prägte die Ungarn? Was waren die zentralen historischen Erfahrungen der Bewohner eines Landes, das immer wieder erobert, zerstückelt, beherrscht und fremden Zielen unterworfen wurde? Ursprünglich sind die Ungarn ein aus Asien stammendes Nomadenvolk. Am Ende des 1. Jahrtausends christianisiert und unter Stephan dem Heiligen den Anschluß an die westeuropäische Kultur suchend, führten die Ungarn über Jahrhunderte hinweg einen Abwehrkampf gegen Mongolen, Türken und schließlich auch gegen die Habsburger, die die Ungarn erst 1918 in die Unabhängigkeit entließen. Heute steht das Land vor dem Beitritt in die EU 2004 und unterhält auch intensive Beziehungen zu Deutschland. Der Schriftsteller György Dalos fängt in seinem prägnanten, brillant geschriebenen Überblick über die mehr als 1000jährige Geschichte Ungarns die Essenz des ungarischen Lebens ein.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.02.2005Helden sterben, Dichter singen
György Dalos erzählt die kollektive Biographie seiner Heimat Ungarn
Ungarn war immer eine Nußschale, unsanft herumgewirbelt auf dem stürmischen Meer europäischer Machtpolitik, und so lag es nahe, auch seine tausendjährige Geschichte in eine winzige Nußschale zu packen. György Dalos, ungarischer Autor, Kulturvermittler und übrigens auch diplomierter Historiker, hat jetzt die "kollektive Biographie" seines Landes in knappen Skizzen und launigen Anekdoten erzählt.
Erklären heißt auf ungarisch "magyarázni", ungarisch machen, und so erklärt er sein Ungarn der Welt als ein "unerschöpfliches Märchen": Ein wildes Steppenvolk, berüchtigt für seine barbarische Arglist und Räubereien, wird auf dem Lechfeld 955 gezähmt, unter König Stephan christianisiert, vom Renaissancemenschen Matthias Corvinus humanisiert und europäisiert - und bleibt doch der ewige Verlierer. Ungarn war Schwert und "Schild der Christenheit" gegen Mongolen, Türken und Russen; aber immer wenn es ernst wurde - 1241 bei Mohi, 1526 bei Mohács, 1848 und noch 1956 -, wurden seine vielbesungenen Freiheitskämpfer von Europa allein gelassen: ein Trauma, das bis in die Gegenwart fortwirkt und seine Intellektuellen früh zu einer skeptisch-melancholischen Ironie erzog.
So schrieb der humanistische Dichter Janus Pannonius 1464 in seiner "Rechtfertigung meines Fernbleibens von der Schlacht" mit der Kühnheit des Feiglings: "Wenn ich tatenlos zusehe, wie sich die anderen schlagen / Glaubt mir, dann ist es nicht Angst, was mich zur Vorsicht gemahnt. / Sicher erstrebt doch ihr Helden für euch langwährende Ehre: / Das macht die Wunden euch leicht, das macht willkommen den Tod. / Doch wenn irgendein Unglück den kämpfenden Dichter hinwegrafft / wer singt dann eurem Tod, eurem Begräbnis ein Lied?"
Dalos singt den Nationalhelden und Widerstandskämpfern sein Lied. Er rühmt das "Ungarn im Konjunktiv", die unausgeschöpften Möglichkeiten seiner Geschichte; aber er ist auch Realist genug, um Ungarn im Indikativ zu betrachten und im europäischen Kontext zu situieren. Er macht dem Westen keinen Vorwurf, daß er beim Budapester Aufstand den Frieden im Kalten Krieg nicht aufs Spiel setzen mochte. Und waren die fremden Eroberer nicht oft humaner als die Befreier? Ungarn lebte kommod unter türkischer Herrschaft, blühte auf unter den ungeliebten Habsburgern und war selbst unter der kommunistischen Diktatur die "lustigste Baracke im sozialistischen Lager". Selbst für Miklós Horthy, den "Reichsverweser" der Nazis, findet Dalos ein paar verständnisvolle Worte, ohne seine Mitschuld an der Ermordung von 500 000 ungarischen Juden zu unterschlagen.
Dalos bläst also keine Trübsal und gerät nie ins Eifern. Gelassen, fast heiter, gewinnt er den Tragödien Ungarns immer wieder hellere Seiten ab: tragikomische Schnurren, fröhliche Seufzer, hoffnungsvolle Ausblicke auf eine düstere Zukunft. So hält sein Kompendium die Balance zwischen der nüchternen Distanz des - an Marx geschulten - Historikers und der leidenschaftlichen Nähe des Patrioten, zwischen Stolz und Trauer, leiser Ironie und der eher trockenen Rekapitulation von dynastischen Wirren und Kriegen. Im Zweifelsfall nimmt sich der Schriftsteller Dalos zugunsten des Historikers zurück: Die Fakten, Daten, Anekdoten und literarischen Zitate sind mehr durch ihre chronologische Ordnung als durch eine literarische Subjektivität oder gar essayistische Höhenflüge verknüpft. Selten nur läßt Dalos seine Nußschale mit bunten Wimpeln und geschwellten Segeln in unerforschte Gewässer treiben.
Inzwischen hat Ungarn das zerbeulte Schild des Abendlandes und auch die Behelfskrücke "Mitteleuropa" weggeworfen und ist wieder friedlich in Europa angelangt. Das bestärkt Dalos nur in seiner auf- und abgeklärten Zuversicht. "Was Ungarn im 21. Jahrhundert am meisten braucht", heißt es in seinem Schlußwort, "ist eine reife Zivilgesellschaft, die den Versuchungen widerstehen kann, soziale Fragen autoritär zu lösen, Minderheiten im Ernstfall zum Sündenbock zu stempeln und Offenbarungen einander befehdender Eliten für bare Münze zu nehmen". Sein größter Wunsch ist, daß seine Landsleute ihr lang gehätscheltes "tragisches Pathos" endlich mit einer "ruhigen, ironischen Skepsis" vertauschen; mit seinem Geschichtsbüchlein hat er das Seine dafür getan.
MARTIN HALTER
György Dalos: "Ungarn in der Nußschale. Geschichte meines Landes". Verlag C. H. Beck, München 2004. 200 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
György Dalos erzählt die kollektive Biographie seiner Heimat Ungarn
Ungarn war immer eine Nußschale, unsanft herumgewirbelt auf dem stürmischen Meer europäischer Machtpolitik, und so lag es nahe, auch seine tausendjährige Geschichte in eine winzige Nußschale zu packen. György Dalos, ungarischer Autor, Kulturvermittler und übrigens auch diplomierter Historiker, hat jetzt die "kollektive Biographie" seines Landes in knappen Skizzen und launigen Anekdoten erzählt.
Erklären heißt auf ungarisch "magyarázni", ungarisch machen, und so erklärt er sein Ungarn der Welt als ein "unerschöpfliches Märchen": Ein wildes Steppenvolk, berüchtigt für seine barbarische Arglist und Räubereien, wird auf dem Lechfeld 955 gezähmt, unter König Stephan christianisiert, vom Renaissancemenschen Matthias Corvinus humanisiert und europäisiert - und bleibt doch der ewige Verlierer. Ungarn war Schwert und "Schild der Christenheit" gegen Mongolen, Türken und Russen; aber immer wenn es ernst wurde - 1241 bei Mohi, 1526 bei Mohács, 1848 und noch 1956 -, wurden seine vielbesungenen Freiheitskämpfer von Europa allein gelassen: ein Trauma, das bis in die Gegenwart fortwirkt und seine Intellektuellen früh zu einer skeptisch-melancholischen Ironie erzog.
So schrieb der humanistische Dichter Janus Pannonius 1464 in seiner "Rechtfertigung meines Fernbleibens von der Schlacht" mit der Kühnheit des Feiglings: "Wenn ich tatenlos zusehe, wie sich die anderen schlagen / Glaubt mir, dann ist es nicht Angst, was mich zur Vorsicht gemahnt. / Sicher erstrebt doch ihr Helden für euch langwährende Ehre: / Das macht die Wunden euch leicht, das macht willkommen den Tod. / Doch wenn irgendein Unglück den kämpfenden Dichter hinwegrafft / wer singt dann eurem Tod, eurem Begräbnis ein Lied?"
Dalos singt den Nationalhelden und Widerstandskämpfern sein Lied. Er rühmt das "Ungarn im Konjunktiv", die unausgeschöpften Möglichkeiten seiner Geschichte; aber er ist auch Realist genug, um Ungarn im Indikativ zu betrachten und im europäischen Kontext zu situieren. Er macht dem Westen keinen Vorwurf, daß er beim Budapester Aufstand den Frieden im Kalten Krieg nicht aufs Spiel setzen mochte. Und waren die fremden Eroberer nicht oft humaner als die Befreier? Ungarn lebte kommod unter türkischer Herrschaft, blühte auf unter den ungeliebten Habsburgern und war selbst unter der kommunistischen Diktatur die "lustigste Baracke im sozialistischen Lager". Selbst für Miklós Horthy, den "Reichsverweser" der Nazis, findet Dalos ein paar verständnisvolle Worte, ohne seine Mitschuld an der Ermordung von 500 000 ungarischen Juden zu unterschlagen.
Dalos bläst also keine Trübsal und gerät nie ins Eifern. Gelassen, fast heiter, gewinnt er den Tragödien Ungarns immer wieder hellere Seiten ab: tragikomische Schnurren, fröhliche Seufzer, hoffnungsvolle Ausblicke auf eine düstere Zukunft. So hält sein Kompendium die Balance zwischen der nüchternen Distanz des - an Marx geschulten - Historikers und der leidenschaftlichen Nähe des Patrioten, zwischen Stolz und Trauer, leiser Ironie und der eher trockenen Rekapitulation von dynastischen Wirren und Kriegen. Im Zweifelsfall nimmt sich der Schriftsteller Dalos zugunsten des Historikers zurück: Die Fakten, Daten, Anekdoten und literarischen Zitate sind mehr durch ihre chronologische Ordnung als durch eine literarische Subjektivität oder gar essayistische Höhenflüge verknüpft. Selten nur läßt Dalos seine Nußschale mit bunten Wimpeln und geschwellten Segeln in unerforschte Gewässer treiben.
Inzwischen hat Ungarn das zerbeulte Schild des Abendlandes und auch die Behelfskrücke "Mitteleuropa" weggeworfen und ist wieder friedlich in Europa angelangt. Das bestärkt Dalos nur in seiner auf- und abgeklärten Zuversicht. "Was Ungarn im 21. Jahrhundert am meisten braucht", heißt es in seinem Schlußwort, "ist eine reife Zivilgesellschaft, die den Versuchungen widerstehen kann, soziale Fragen autoritär zu lösen, Minderheiten im Ernstfall zum Sündenbock zu stempeln und Offenbarungen einander befehdender Eliten für bare Münze zu nehmen". Sein größter Wunsch ist, daß seine Landsleute ihr lang gehätscheltes "tragisches Pathos" endlich mit einer "ruhigen, ironischen Skepsis" vertauschen; mit seinem Geschichtsbüchlein hat er das Seine dafür getan.
MARTIN HALTER
György Dalos: "Ungarn in der Nußschale. Geschichte meines Landes". Verlag C. H. Beck, München 2004. 200 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Auf Ungarisch heißt erklären "magyarazni", also "ungarisch machen", hat die Rezensentin Sabine Vogel bei György Dalos erfahren. Und darin liege auch Dalos' Absicht in diesem Buch, nämlich dem deutschsprachigen Leser sein Heimatland Ungarn "ungarisch zu machen", zu erklären. Genau dies gelingt ihm aber in den Augen der Rezensentin nicht, denn seine "kühn" knappe Ungarngeschichte liest sich wie eine "leichte Plauderei zwischen Menschen, denen die Details vertraut sind". Der Leser begegne "hingeworfenen Stichworten und Zitaten, Perspektivenwechsel von inneren zu äußeren Entwicklungen, Zeitsprüngen von damals nach heute", vermisse Daten und Karten der sich oft verschiebenden ungarischen Grenzen, kurz: "Anhaltspunkte". Dadurch bleiben die historischen Akteure "konturlos" (während die Akteurinnen durch Abwesenheit glänzen), und die Ereignisabfolge nicht nachvollziehbar. Schade, meint die Rezensentin, denn die Passagen, die sich auf den im Titel des Buches angesprochenen Aspekt (das treibende Schicksal der ungarischen Nussschale) beziehen und in denen Dalos "Ungarn als kleines Land zwischen Großmächten behandelt" seien außerordentlich spannend. Hier werde plastisch, dass Ungarn oft vergeblich auf Hilfe von außen gewartet habe, etwa im neuzeitlichen Kampf gegen die Türken oder auch beim Aufstand von 1956; dass es oft nichts als "Wechselgeld im Kuhhandel der Großmächte" gewesen sei. Eine "stärkere Fokussierung" auf diesen Aspekt, glaubt die Rezensentin, hätte den historischen Gesamtzusammenhang "verständlicher" gemacht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ein spannendes Buch, das man in einem Atem liest."
Das Parlament
"Ein knappes, aber hilfreiches Kompendium zur ungarischen Anatomie. Ein Blitzkurs zum Werdegang eines Landes mit Eigenschaften."
Neue Zürcher Zeitung
Das Parlament
"Ein knappes, aber hilfreiches Kompendium zur ungarischen Anatomie. Ein Blitzkurs zum Werdegang eines Landes mit Eigenschaften."
Neue Zürcher Zeitung