Produktdetails
- Verlag: Arche Verlag
- Seitenzahl: 186
- Deutsch
- Abmessung: 195mm
- Gewicht: 252g
- ISBN-13: 9783716022887
- ISBN-10: 3716022888
- Artikelnr.: 09817350
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.09.2001Schlangenlinie am Himmel
Peter Stamm liest die nordische Landschaft · Von Friedmar Apel
Jede Landschaft, so meinte einst ein Genfer Melancholiker, sei ein Zustand der Seele, und wer in beiden lese, sei erstaunt, die Ähnlichkeit in jeder Einzelheit wiederzufinden. In den Gegenden jenseits des Polarkreises ist es aber nicht immer leicht, Einzelheiten wahrzunehmen. Die Weite, das Licht, der Schnee, die Dunkelheit verwischen die Unterschiede zwischen den Dingen. Der Erzähler von Peter Stamms drittem Roman liest diese "ungefähre Landschaft" wie beiläufig. In scheinbar absichtsloser Symbolik nimmt er mit der Spur durch die Landschaft den Lebensweg seiner Heldin in den Blick: "Später, als sie schon wieder unterwegs war, bildete sich leichter Dunst, eine Art Nebel, und der Himmel verlor seine Bläue und wurde immer blasser. Aber sie kannte den Weg, sie war schon oft beim Leuchtturm gewesen, und auch als die Sonne endlich nicht mehr zu sehen und das Licht so diffus war, daß alles verschwamm, lief sie weiter und hatte keine Angst, sich zu verlaufen."
Geschrieben steht hier die Landschaft um ein Dorf im nördlichen Norwegen. Dort gibt es einen Hafen, einen Leuchtturm, eine Fischfabrik, einen Supermarkt, ein Fischerheim und ein Wirtshaus. Das Leben ist eintönig, besonders im Winter, wenn es die ganze Zeit dunkel ist. Da trinkt der eine zuviel, ein anderer denkt sich sein Leben aus, wieder ein anderer versucht, einen Sinn zu vermitteln, an den er selbst nicht glaubt. Dumm, spießig und scheinheilig sind die meisten. Kathrine ist Zöllnerin, sie muß russische Schiffe nach geschmuggeltem Wodka durchsuchen. Das hat keinen Sinn. Sie hat ein Kind, ist geschieden und heiratet noch einmal. Das hat auch keinen Sinn. Kathrine haßt die Dunkelheit, im Winter ist ihr, "als lebe sie nicht". Kathrine lacht viel, wie die anderen auch. Später wird sie nur lachen, "um sich lachen zu hören", noch später viel weinen. Ihr Erzähler läßt sie dasein wie die Landschaft, wie von ungefähr. Er stochert nicht in ihrer Seele, sondern reiht Bilder und Sätze des äußeren Lebens aneinander. Bei der Perspektive mogelt er manchmal ein bißchen, und manchmal scheint er vergessen zu haben, was er schon erzählt hat. Das stört den Leser nicht. Kathrine schließt er schnell ins Herz und wünscht ihr Sinn und Glück. Sie aber will gar nichts aus sich machen.
Die wunderliche Person erwacht aus ihrer wunschlosen Verlorenheit, als ihr die Menschen einen geraden Strich durch ihre Seelenlandschaft machen. Sie reist nach Süden, nach Frankreich. Aber sie findet kein anderes Leben, denn sie nimmt sich selbst mit und ihren traurigen Blick. Auch in der anderen Landschaft findet sie nur die Gestalt ihrer Seele. "Das Meer war gelbgrün und der Himmel von bläulichem Grau. Sie ging am Strand entlang und dachte, daß es dasselbe Meer war, das Tausende von Kilometern weiter im Norden an die Felsen schlug. Es war das Meer, an dem sie so oft gesessen hatte, wenn sie unglücklich war . . ." Wäre sie in Frankreich aufgewachsen, wäre ihr Leben nicht anders verlaufen. "Bestimmt stand da auch eine Kathrine, eine Cathérine mit einem Kind und einem Mann und einem Liebhaber. Sie stand da jeden Morgen, fuhr zur Arbeit, kochte Kaffee, aß mit ihren Kolleginnen und Kollegen zu Mittag und fuhr wieder nach Hause."
Aber dann geschieht während der Reise doch noch allerlei, wenn auch nichts Erfreuliches, und es ändert sich etwas in Kathrines Seelenverfassung. In lakonischer Nüchternheit wird ihr das eigene Leben bewußt. "Kathrine zählte. Helge, Thomas, Christian, Morten. Dreitausend Kronen auf dem Konto, ein paar Bücher, ein paar Kleider, ein paar Küchenmaschinen. Ein Laptop. Ein Kind." In der Bilanz gewinnt sie erst ein Verhältnis zu sich, eine Gelassenheit im Selbstsein, an der die Schlechtigkeit der Welt ganz unspektakulär zuschanden geht: "Ich laufe nicht noch einmal davon." Für einen Moment blitzt in ihrer Landschaft sogar etwas wie eine Ekstase des Glücks auf: das Nordlicht. "Wie ein feiner Vorhang zog es sich von Horizont zu Horizont. Plötzlich war es nur noch ein dünner Streifen, eine zuckende grüne Linie, eine Schlange, die sich wild am Himmel wand." In der Veränderung bleibt sie, wie sie war: wahrhaftig auch im Lügen.
In einem an Johann Peter Hebel erinnernden Stil artistischer Kunstlosigkeit erzählt Peter Stamm von den Wunderlichkeiten des normalen Lebens. Die rührende Solidarität des Erzählers mit seiner Figur rechtfertigt die Welt nicht und enthält sich jedes Glücksversprechens. Glück ist für Kathrine allenfalls Treue zu sich selbst, Standhaftigkeit in der Vermeidung des falschen Lebens. Dennoch scheint im erzählten Verhältnis von Individuum und Landschaft in der Ferne die Idee der Versöhnung auf, und der Leser fühlt sich am Ende milde getröstet. Wie leichter Dunst über einer Landschaft schwebt ein Hauch von Kitsch über dieser bitterschönen Ballade des alltäglichen Lebens. Gerade das aber schreibt Stamms Bild einer Landschaft mit Kathrine inmitten der vielen aussagestarken Gedächtnisromane dieses Herbstes das Signum der Unverwechselbarkeit ein.
Peter Stamm: "Ungefähre Landschaft". Roman. Arche Verlag, Zürich und Hamburg 2001. 192 S., geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Peter Stamm liest die nordische Landschaft · Von Friedmar Apel
Jede Landschaft, so meinte einst ein Genfer Melancholiker, sei ein Zustand der Seele, und wer in beiden lese, sei erstaunt, die Ähnlichkeit in jeder Einzelheit wiederzufinden. In den Gegenden jenseits des Polarkreises ist es aber nicht immer leicht, Einzelheiten wahrzunehmen. Die Weite, das Licht, der Schnee, die Dunkelheit verwischen die Unterschiede zwischen den Dingen. Der Erzähler von Peter Stamms drittem Roman liest diese "ungefähre Landschaft" wie beiläufig. In scheinbar absichtsloser Symbolik nimmt er mit der Spur durch die Landschaft den Lebensweg seiner Heldin in den Blick: "Später, als sie schon wieder unterwegs war, bildete sich leichter Dunst, eine Art Nebel, und der Himmel verlor seine Bläue und wurde immer blasser. Aber sie kannte den Weg, sie war schon oft beim Leuchtturm gewesen, und auch als die Sonne endlich nicht mehr zu sehen und das Licht so diffus war, daß alles verschwamm, lief sie weiter und hatte keine Angst, sich zu verlaufen."
Geschrieben steht hier die Landschaft um ein Dorf im nördlichen Norwegen. Dort gibt es einen Hafen, einen Leuchtturm, eine Fischfabrik, einen Supermarkt, ein Fischerheim und ein Wirtshaus. Das Leben ist eintönig, besonders im Winter, wenn es die ganze Zeit dunkel ist. Da trinkt der eine zuviel, ein anderer denkt sich sein Leben aus, wieder ein anderer versucht, einen Sinn zu vermitteln, an den er selbst nicht glaubt. Dumm, spießig und scheinheilig sind die meisten. Kathrine ist Zöllnerin, sie muß russische Schiffe nach geschmuggeltem Wodka durchsuchen. Das hat keinen Sinn. Sie hat ein Kind, ist geschieden und heiratet noch einmal. Das hat auch keinen Sinn. Kathrine haßt die Dunkelheit, im Winter ist ihr, "als lebe sie nicht". Kathrine lacht viel, wie die anderen auch. Später wird sie nur lachen, "um sich lachen zu hören", noch später viel weinen. Ihr Erzähler läßt sie dasein wie die Landschaft, wie von ungefähr. Er stochert nicht in ihrer Seele, sondern reiht Bilder und Sätze des äußeren Lebens aneinander. Bei der Perspektive mogelt er manchmal ein bißchen, und manchmal scheint er vergessen zu haben, was er schon erzählt hat. Das stört den Leser nicht. Kathrine schließt er schnell ins Herz und wünscht ihr Sinn und Glück. Sie aber will gar nichts aus sich machen.
Die wunderliche Person erwacht aus ihrer wunschlosen Verlorenheit, als ihr die Menschen einen geraden Strich durch ihre Seelenlandschaft machen. Sie reist nach Süden, nach Frankreich. Aber sie findet kein anderes Leben, denn sie nimmt sich selbst mit und ihren traurigen Blick. Auch in der anderen Landschaft findet sie nur die Gestalt ihrer Seele. "Das Meer war gelbgrün und der Himmel von bläulichem Grau. Sie ging am Strand entlang und dachte, daß es dasselbe Meer war, das Tausende von Kilometern weiter im Norden an die Felsen schlug. Es war das Meer, an dem sie so oft gesessen hatte, wenn sie unglücklich war . . ." Wäre sie in Frankreich aufgewachsen, wäre ihr Leben nicht anders verlaufen. "Bestimmt stand da auch eine Kathrine, eine Cathérine mit einem Kind und einem Mann und einem Liebhaber. Sie stand da jeden Morgen, fuhr zur Arbeit, kochte Kaffee, aß mit ihren Kolleginnen und Kollegen zu Mittag und fuhr wieder nach Hause."
Aber dann geschieht während der Reise doch noch allerlei, wenn auch nichts Erfreuliches, und es ändert sich etwas in Kathrines Seelenverfassung. In lakonischer Nüchternheit wird ihr das eigene Leben bewußt. "Kathrine zählte. Helge, Thomas, Christian, Morten. Dreitausend Kronen auf dem Konto, ein paar Bücher, ein paar Kleider, ein paar Küchenmaschinen. Ein Laptop. Ein Kind." In der Bilanz gewinnt sie erst ein Verhältnis zu sich, eine Gelassenheit im Selbstsein, an der die Schlechtigkeit der Welt ganz unspektakulär zuschanden geht: "Ich laufe nicht noch einmal davon." Für einen Moment blitzt in ihrer Landschaft sogar etwas wie eine Ekstase des Glücks auf: das Nordlicht. "Wie ein feiner Vorhang zog es sich von Horizont zu Horizont. Plötzlich war es nur noch ein dünner Streifen, eine zuckende grüne Linie, eine Schlange, die sich wild am Himmel wand." In der Veränderung bleibt sie, wie sie war: wahrhaftig auch im Lügen.
In einem an Johann Peter Hebel erinnernden Stil artistischer Kunstlosigkeit erzählt Peter Stamm von den Wunderlichkeiten des normalen Lebens. Die rührende Solidarität des Erzählers mit seiner Figur rechtfertigt die Welt nicht und enthält sich jedes Glücksversprechens. Glück ist für Kathrine allenfalls Treue zu sich selbst, Standhaftigkeit in der Vermeidung des falschen Lebens. Dennoch scheint im erzählten Verhältnis von Individuum und Landschaft in der Ferne die Idee der Versöhnung auf, und der Leser fühlt sich am Ende milde getröstet. Wie leichter Dunst über einer Landschaft schwebt ein Hauch von Kitsch über dieser bitterschönen Ballade des alltäglichen Lebens. Gerade das aber schreibt Stamms Bild einer Landschaft mit Kathrine inmitten der vielen aussagestarken Gedächtnisromane dieses Herbstes das Signum der Unverwechselbarkeit ein.
Peter Stamm: "Ungefähre Landschaft". Roman. Arche Verlag, Zürich und Hamburg 2001. 192 S., geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit einiger Hingabe und vielen Zitaten erzählt Friedmar Appel die Geschichte der Zöllnerin Katherine nach. Von "absichtsloser Symbolik" ist die Rede, vom leichten Dunst in norwegischer Landschaft. Kurz: der Rezensent klingt ziemlich angetan. In einem an Johann Peter Hebel erinnernden Stil kunstvoller Beiläufigkeit erzähle Autor Stamm von den "Wunderlichkeiten des normalen Leben", lesen wir. Der Rezensent zeigt sich berührt von der "Solidarität des Erzählers mit seiner Figur". Ihn erinnert der Roman an eine Ballade, über fast kitschige Momente muss er zuweilen hinwegsehen. Aber gerade dies, meint Apel, mache Stamms Buch unverwechselbar.
© Perlentaucher Medien GmbH
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