Was geschieht, wenn einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller, der selbst ein Muslim ist, sich in die christliche Bildwelt versenkt? Navid Kermani sieht staunend eine Religion voller Opfer und Klage, Liebe und Wunder, unvernünftig und abgründig, zutiefst menschlich und göttlich: ein Christentum, von dem Christen in dieser Ernsthaftigkeit, Kühnheit und auch Begeisterung nur noch selten sprechen.
Es ist ein Wagnis: Offenen Herzens, mit einer geradezu kindlichen Neugier steht Navid Kermani vor den großen und vor unbekannten Werken der christlichen Kunst. Und es wird zum Geschenk: Denn seine berückend geschriebenen Meditationen geben dem Christentum den Schrecken und die Schönheit zurück. Kermani hadert mit dem Kreuz, verliebt sich in den Blick der Maria, erlebt die orthodoxe Messe und ermisst die Größe des heiligen Franziskus. Er lehrt uns, in den Bildern alter Meister wie Botticelli, Caravaggio oder Rembrandt auch die Fragen unserer heutigen Existenz zu erkennen - mitklarem Blick für die wesentlichen Details und die untergründigen Bezüge auch zu entfernt scheinenden Welten, zur deutschen Literatur, zum mystischen Islam und selbst zur modernen Heilgymnastik. Seine poetische Schule des Sehens macht süchtig: süchtig nach diesem speziellen Blick auf das Christentum und sehnsüchtig danach, selbst so sehen zu können.
Es ist ein Wagnis: Offenen Herzens, mit einer geradezu kindlichen Neugier steht Navid Kermani vor den großen und vor unbekannten Werken der christlichen Kunst. Und es wird zum Geschenk: Denn seine berückend geschriebenen Meditationen geben dem Christentum den Schrecken und die Schönheit zurück. Kermani hadert mit dem Kreuz, verliebt sich in den Blick der Maria, erlebt die orthodoxe Messe und ermisst die Größe des heiligen Franziskus. Er lehrt uns, in den Bildern alter Meister wie Botticelli, Caravaggio oder Rembrandt auch die Fragen unserer heutigen Existenz zu erkennen - mitklarem Blick für die wesentlichen Details und die untergründigen Bezüge auch zu entfernt scheinenden Welten, zur deutschen Literatur, zum mystischen Islam und selbst zur modernen Heilgymnastik. Seine poetische Schule des Sehens macht süchtig: süchtig nach diesem speziellen Blick auf das Christentum und sehnsüchtig danach, selbst so sehen zu können.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.08.2015Vom heiligen Rom ins heilige Köln und wieder zurück
Evangelische Kirchentage sind unerotisch? Navid Kermani nähert sich dem Christentum über die bildende Kunst. Dabei übersieht er wichtige Dimensionen und offenbart pietistische Blockaden.
Unter den mir bekannten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart ist Navid Kermani der Einzige, bei dem ich das Wort "Abendland" ohne ein Gefühl innerer Abwehr lesen kann. Denn dieser in Deutschland geborene Sohn iranischer Einwanderer weiß, dass Luthers Wort "Morgenland" für die Region, aus der die Heiligen Drei Könige kamen, älter ist als das ihm nachgebildete Wort "Abendland". Dieses Wort hat für ihn deshalb einen nachvollziehbaren Ort im Rahmen der west-östlichen Erkundungen, denen er die meisten seiner Schriften widmet.
Der erste Schritt in der intellektuellen Biographie dieses außergewöhnlichen Homme de lettres bestand darin, dass er in der deutschen Literatur des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts heimisch wurde. Die großen Werke zwischen Goethe und Kafka prägten seine geistige Welt. Erst von hier aus erschloss er sich den kulturellen und religiösen Reichtum seiner Herkunft - und zwar von dessen literarischer Seite aus, wie sein Standardwerk über die ästhetische Schönheit des Korans zeigt.
Seine west-östlichen Erkundungen bewegten sich nicht etwa vom Koran zu Kafka, sondern umgekehrt von Kafka zum Koran. Dieser Weg war für den Autor notwendig, um sich in einem nächsten Schritt dem Christentum zuzuwenden: Sein neues Buch als eine Abfolge von Meditationen "über das Christentum" anzukündigen ist allerdings übertrieben. Der Autor hätte sich ruhig dazu bekennen können, dass er "über mein Christentum" meditiert; häufig genug greift er in seinem Buch zu dieser Wendung. Untertrieben dagegen ist der Haupttitel. Denn es bleibt keineswegs beim "ungläubigen Staunen".
Kermani ist ein Wanderer zwischen den Glaubenswelten von Ost und West, der auf Schritt und Tritt eine wahre Leidenschaft für den Glauben zu erkennen gibt. Seine subjektive Sicht auf das Christentum ist deshalb auch dort sympathisch, wo man ihr widersprechen möchte. Denn er betrachtet das Christentum keineswegs nur von außen, sondern sucht es von innen zu verstehen.
Den Islam begreift er als Schriftreligion; dem Christentum dagegen nähert er sich über die bildende Kunst. Dafür wurden wichtige Weichen durch ein Stipendium der Villa Massimo in Rom gestellt. Die barocke Bildwelt, der er in dieser Zeit begegnete, veranlasste ihn zu einer Reihe von "Bildansichten", die zunächst in der "Neuen Zürcher Zeitung", dann in dem Romanwerk "Dein Name" veröffentlicht wurden und nun ein drittes Mal aufgegriffen werden. Dass er in einer "Bildansicht" zu einer Altartafel von Guido Reni die Darstellung des gekreuzigten Christus als blasphemisch bezeichnete, legte man ihm 2009 im Streit um den Hessischen Kulturpreis als Beleidigung des Christentums aus.
Dass Kermani Renis Gemälde mit dem erstaunten Ausruf kommentierte, zum ersten Mal könne er selbst an ein Kreuz glauben, überlasen manche Kritiker. Deshalb entging ihnen auch die theologische Begründung: Hier leide Christus nicht, um Gott zu entlasten, sondern um der Klage einer verlassenen Schöpfung Ausdruck zu geben.
Auch in seinem heute erscheinenden neuen Buch widmet Kermani dem Crucifixus von Guido Reni ein eigenes Kapitel. Doch die gerade referierten Überlegungen findet man dort nicht; sie sind vielmehr an eine ganz andere Stelle gerückt. Hier ordnet Kermani seine Kritik der christlichen Kreuzestheologie einer modernen Kreuzesdarstellung (ohne den Körper des Gekreuzigten) zu, die von dem Bildhauer Karl Schlamminger stammt. Dabei läuft die wörtlich aufgenommene Kritik, das Kreuz hypostasiere auf barbarische Weise den Schmerz, sei körperfeindlich und undankbar gegenüber der Schöpfung, ins Leere.
Überraschenderweise wiederholt Kermani angesichts dieses zeitgenössischen, im besten Sinn des Wortes abstrakten Kreuzes, was er an anderer Stelle mit dem Blick auf Renis gegenständliche Darstellung des Gekreuzigten aus dem siebzehnten Jahrhundert gesagt hatte: "Erstmals denke ich, ich könnte an ein Kreuz glauben." Ein aufmerksamer Kermani-Leser kann herausfinden, dass das doppelte "Erstmals" durch "copy & paste" zustande kam. Doch die Begründung wechselt. Das Kreuz, so heißt es nun, "steht nicht für die Inkarnation in nur einer Person, es steht für das Prinzip".
Inkarnation als Prinzip: So lässt sich Kermanis Christentum verstehen. Es ist verlockend, dieses Prinzip durch die Meditation von Bildwerken der christlichen Kunst zu erschließen. Der Autor macht an den ausgewählten Bildern viele spannende Entdeckungen, wenn auch seine Vorliebe für erotische oder sexuelle Anspielungen etwas eintönig wirkt. Doch es gibt wichtige Dimensionen des Christentums, die bei einer solchen Betrachtungsweise völlig in den Hintergrund treten: die Gebetskraft der Psalmen, die prophetische Kritik an der gottvergessenen Missachtung der Armen und Entrechteten, die Präsenz der Gottesherrschaft in der Verkündigung Jesu - all das spielt in dem Buch keine Rolle, weil es in den ausgewählten Bildern nicht vorkommt.
Das heilige Rom und das heilige Köln bestimmen die Bildwelten, in denen der Autor sich bewegt; römisch-rheinischer Katholizismus bildet die Folie, an der sich sein Christentum bildet. Kermanis kindliche Sozialisation im pietistischen Siegerland hat offenbar Blockaden hinterlassen, die bis heute nicht gelöst sind. Die evangelische Frömmigkeit hat er als so sinnenfeindlich erlebt, dass er außer Luthers Bibelübersetzung nichts Reformatorisches wahrnimmt: nicht die Theologie des Kreuzes (die keineswegs auf eine "Entlastung Gottes" zielt), nicht die gewissensbestimmte Freiheit eines Christenmenschen, nicht die Mündigkeit aller Glaubenden, nicht die Inkulturation des Christentums in die Moderne. Von den evangelischen Kirchentagen meint er zu wissen, sie seien "formlos" und "unerotisch". Der Protestantismus zieht Kermanis bemerkenswerte Beobachtungsgabe bisher noch nicht an.
Der Löwenanteil der beschriebenen Bildwerke stammt von Caravaggio, der die Jahre um 1600 in Rom verbrachte. Diese Vorliebe liegt nahe; denn dessen Bilder sind durch einen geradezu penetranten Naturalismus ausgezeichnet, den Kermani am ungläubigen Thomas, der seine Finger in Jesu Seitenwunde legt, hingebungsvoll beschreiben kann. Jacob Burckhardts Einwand, Caravaggio wolle nur zeigen, "dass es bei all den heiligen Ereignissen der Urzeit eigentlich ganz ordinär zugegangen sei", steigert Kermanis Begeisterung für den Maler. Denn dieser habe vom Heiligen weit mehr begriffen als der Baseler Professor.
Zum Glück erschöpft sich Kermanis Christentum nicht in einer naturalistisch verstandenen Inkarnation als Prinzip. Es geht darüber hinaus. Sein Kern liegt in dem Universalismus der mitmenschlichen Liebe. Kermani entdeckt die Sorge um jeden Mitmenschen, auch um den Feind, als den revolutionären Impuls des Christentums; leider verkennt er, dass gerade die exklusive Bindung der göttlichen Inkarnation an den einen Christus die Grundlage für diese radikal gedachte Inklusion bildet: Christi Antlitz begegnet uns auch im Feind. Zur Beschreibung dieser Inklusion greift Kermani nicht auf Bildwerke, sondern auf Personen zurück.
Das Buch schließt mit einem Kapitel über Franz von Assisi; in ihm hebt Kermani eine tiefe Freundschaft zwischen dem Heiligen von Assisi und dem Islam hervor. Der berühmte Sonnengesang "Laudato si" greift bewusst die neunundneunzig schönsten Namen Gottes im Islam auf; mit einer Segensbitte tritt Franziskus dem Sultan al-Malik al Kamil entgegen. Ihm, den die westliche Christenheit im fünften Kreuzzug überwinden will, wünscht Franziskus Frieden.
Allein steht er, so Kermanis Deutung, gegen die Christenheit seiner Zeit, die ihren Glauben mit Feuer und Schwert verteidigen wollte, weil die Bereitschaft, das eigene Leben zu opfern, als Zeichen der Glaubenstreue galt. Das Erschrecken über eine solche Denkweise muss sich eben nicht nur an den Dschihadisten von heute, sondern auch an den christlichen Gotteskriegern von einst entzünden. Kermani nimmt den einen Skandal so ernst wie den anderen.
Dem heiligen Franziskus tritt ein Heiliger unserer Tage zur Seite, dem Kermani das längste Kapitel widmet. Paolo dall'Oglio hat in der syrischen Wüste das Kloster Mar Musa gegründet und der Freundschaft mit dem Islam geweiht. Für Kermani drückt sich darin aus, was am Christentum Bewunderung verdient: eine Liebe, die nicht nur dem Nächsten gilt. Sie geht "über das Maß hinaus, auf das ein Mensch auch ohne Gott kommen könnte". Pater Paolo hat ihr sein Leben geopfert. Über die Liebe, die keinen Unterschied macht, staunt Kermani. Soll man das wirklich "ungläubiges Staunen" nennen?
WOLFGANG HUBER
Navid Kermani: "Ungläubiges Staunen". Über das Christentum.
Verlag C. H.Beck, München 2015. 304 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Evangelische Kirchentage sind unerotisch? Navid Kermani nähert sich dem Christentum über die bildende Kunst. Dabei übersieht er wichtige Dimensionen und offenbart pietistische Blockaden.
Unter den mir bekannten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart ist Navid Kermani der Einzige, bei dem ich das Wort "Abendland" ohne ein Gefühl innerer Abwehr lesen kann. Denn dieser in Deutschland geborene Sohn iranischer Einwanderer weiß, dass Luthers Wort "Morgenland" für die Region, aus der die Heiligen Drei Könige kamen, älter ist als das ihm nachgebildete Wort "Abendland". Dieses Wort hat für ihn deshalb einen nachvollziehbaren Ort im Rahmen der west-östlichen Erkundungen, denen er die meisten seiner Schriften widmet.
Der erste Schritt in der intellektuellen Biographie dieses außergewöhnlichen Homme de lettres bestand darin, dass er in der deutschen Literatur des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts heimisch wurde. Die großen Werke zwischen Goethe und Kafka prägten seine geistige Welt. Erst von hier aus erschloss er sich den kulturellen und religiösen Reichtum seiner Herkunft - und zwar von dessen literarischer Seite aus, wie sein Standardwerk über die ästhetische Schönheit des Korans zeigt.
Seine west-östlichen Erkundungen bewegten sich nicht etwa vom Koran zu Kafka, sondern umgekehrt von Kafka zum Koran. Dieser Weg war für den Autor notwendig, um sich in einem nächsten Schritt dem Christentum zuzuwenden: Sein neues Buch als eine Abfolge von Meditationen "über das Christentum" anzukündigen ist allerdings übertrieben. Der Autor hätte sich ruhig dazu bekennen können, dass er "über mein Christentum" meditiert; häufig genug greift er in seinem Buch zu dieser Wendung. Untertrieben dagegen ist der Haupttitel. Denn es bleibt keineswegs beim "ungläubigen Staunen".
Kermani ist ein Wanderer zwischen den Glaubenswelten von Ost und West, der auf Schritt und Tritt eine wahre Leidenschaft für den Glauben zu erkennen gibt. Seine subjektive Sicht auf das Christentum ist deshalb auch dort sympathisch, wo man ihr widersprechen möchte. Denn er betrachtet das Christentum keineswegs nur von außen, sondern sucht es von innen zu verstehen.
Den Islam begreift er als Schriftreligion; dem Christentum dagegen nähert er sich über die bildende Kunst. Dafür wurden wichtige Weichen durch ein Stipendium der Villa Massimo in Rom gestellt. Die barocke Bildwelt, der er in dieser Zeit begegnete, veranlasste ihn zu einer Reihe von "Bildansichten", die zunächst in der "Neuen Zürcher Zeitung", dann in dem Romanwerk "Dein Name" veröffentlicht wurden und nun ein drittes Mal aufgegriffen werden. Dass er in einer "Bildansicht" zu einer Altartafel von Guido Reni die Darstellung des gekreuzigten Christus als blasphemisch bezeichnete, legte man ihm 2009 im Streit um den Hessischen Kulturpreis als Beleidigung des Christentums aus.
Dass Kermani Renis Gemälde mit dem erstaunten Ausruf kommentierte, zum ersten Mal könne er selbst an ein Kreuz glauben, überlasen manche Kritiker. Deshalb entging ihnen auch die theologische Begründung: Hier leide Christus nicht, um Gott zu entlasten, sondern um der Klage einer verlassenen Schöpfung Ausdruck zu geben.
Auch in seinem heute erscheinenden neuen Buch widmet Kermani dem Crucifixus von Guido Reni ein eigenes Kapitel. Doch die gerade referierten Überlegungen findet man dort nicht; sie sind vielmehr an eine ganz andere Stelle gerückt. Hier ordnet Kermani seine Kritik der christlichen Kreuzestheologie einer modernen Kreuzesdarstellung (ohne den Körper des Gekreuzigten) zu, die von dem Bildhauer Karl Schlamminger stammt. Dabei läuft die wörtlich aufgenommene Kritik, das Kreuz hypostasiere auf barbarische Weise den Schmerz, sei körperfeindlich und undankbar gegenüber der Schöpfung, ins Leere.
Überraschenderweise wiederholt Kermani angesichts dieses zeitgenössischen, im besten Sinn des Wortes abstrakten Kreuzes, was er an anderer Stelle mit dem Blick auf Renis gegenständliche Darstellung des Gekreuzigten aus dem siebzehnten Jahrhundert gesagt hatte: "Erstmals denke ich, ich könnte an ein Kreuz glauben." Ein aufmerksamer Kermani-Leser kann herausfinden, dass das doppelte "Erstmals" durch "copy & paste" zustande kam. Doch die Begründung wechselt. Das Kreuz, so heißt es nun, "steht nicht für die Inkarnation in nur einer Person, es steht für das Prinzip".
Inkarnation als Prinzip: So lässt sich Kermanis Christentum verstehen. Es ist verlockend, dieses Prinzip durch die Meditation von Bildwerken der christlichen Kunst zu erschließen. Der Autor macht an den ausgewählten Bildern viele spannende Entdeckungen, wenn auch seine Vorliebe für erotische oder sexuelle Anspielungen etwas eintönig wirkt. Doch es gibt wichtige Dimensionen des Christentums, die bei einer solchen Betrachtungsweise völlig in den Hintergrund treten: die Gebetskraft der Psalmen, die prophetische Kritik an der gottvergessenen Missachtung der Armen und Entrechteten, die Präsenz der Gottesherrschaft in der Verkündigung Jesu - all das spielt in dem Buch keine Rolle, weil es in den ausgewählten Bildern nicht vorkommt.
Das heilige Rom und das heilige Köln bestimmen die Bildwelten, in denen der Autor sich bewegt; römisch-rheinischer Katholizismus bildet die Folie, an der sich sein Christentum bildet. Kermanis kindliche Sozialisation im pietistischen Siegerland hat offenbar Blockaden hinterlassen, die bis heute nicht gelöst sind. Die evangelische Frömmigkeit hat er als so sinnenfeindlich erlebt, dass er außer Luthers Bibelübersetzung nichts Reformatorisches wahrnimmt: nicht die Theologie des Kreuzes (die keineswegs auf eine "Entlastung Gottes" zielt), nicht die gewissensbestimmte Freiheit eines Christenmenschen, nicht die Mündigkeit aller Glaubenden, nicht die Inkulturation des Christentums in die Moderne. Von den evangelischen Kirchentagen meint er zu wissen, sie seien "formlos" und "unerotisch". Der Protestantismus zieht Kermanis bemerkenswerte Beobachtungsgabe bisher noch nicht an.
Der Löwenanteil der beschriebenen Bildwerke stammt von Caravaggio, der die Jahre um 1600 in Rom verbrachte. Diese Vorliebe liegt nahe; denn dessen Bilder sind durch einen geradezu penetranten Naturalismus ausgezeichnet, den Kermani am ungläubigen Thomas, der seine Finger in Jesu Seitenwunde legt, hingebungsvoll beschreiben kann. Jacob Burckhardts Einwand, Caravaggio wolle nur zeigen, "dass es bei all den heiligen Ereignissen der Urzeit eigentlich ganz ordinär zugegangen sei", steigert Kermanis Begeisterung für den Maler. Denn dieser habe vom Heiligen weit mehr begriffen als der Baseler Professor.
Zum Glück erschöpft sich Kermanis Christentum nicht in einer naturalistisch verstandenen Inkarnation als Prinzip. Es geht darüber hinaus. Sein Kern liegt in dem Universalismus der mitmenschlichen Liebe. Kermani entdeckt die Sorge um jeden Mitmenschen, auch um den Feind, als den revolutionären Impuls des Christentums; leider verkennt er, dass gerade die exklusive Bindung der göttlichen Inkarnation an den einen Christus die Grundlage für diese radikal gedachte Inklusion bildet: Christi Antlitz begegnet uns auch im Feind. Zur Beschreibung dieser Inklusion greift Kermani nicht auf Bildwerke, sondern auf Personen zurück.
Das Buch schließt mit einem Kapitel über Franz von Assisi; in ihm hebt Kermani eine tiefe Freundschaft zwischen dem Heiligen von Assisi und dem Islam hervor. Der berühmte Sonnengesang "Laudato si" greift bewusst die neunundneunzig schönsten Namen Gottes im Islam auf; mit einer Segensbitte tritt Franziskus dem Sultan al-Malik al Kamil entgegen. Ihm, den die westliche Christenheit im fünften Kreuzzug überwinden will, wünscht Franziskus Frieden.
Allein steht er, so Kermanis Deutung, gegen die Christenheit seiner Zeit, die ihren Glauben mit Feuer und Schwert verteidigen wollte, weil die Bereitschaft, das eigene Leben zu opfern, als Zeichen der Glaubenstreue galt. Das Erschrecken über eine solche Denkweise muss sich eben nicht nur an den Dschihadisten von heute, sondern auch an den christlichen Gotteskriegern von einst entzünden. Kermani nimmt den einen Skandal so ernst wie den anderen.
Dem heiligen Franziskus tritt ein Heiliger unserer Tage zur Seite, dem Kermani das längste Kapitel widmet. Paolo dall'Oglio hat in der syrischen Wüste das Kloster Mar Musa gegründet und der Freundschaft mit dem Islam geweiht. Für Kermani drückt sich darin aus, was am Christentum Bewunderung verdient: eine Liebe, die nicht nur dem Nächsten gilt. Sie geht "über das Maß hinaus, auf das ein Mensch auch ohne Gott kommen könnte". Pater Paolo hat ihr sein Leben geopfert. Über die Liebe, die keinen Unterschied macht, staunt Kermani. Soll man das wirklich "ungläubiges Staunen" nennen?
WOLFGANG HUBER
Navid Kermani: "Ungläubiges Staunen". Über das Christentum.
Verlag C. H.Beck, München 2015. 304 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.08.2015Wünschelruten der Sinnlichkeit
Ohne Argwohn und Herablassung erforscht der Muslim Navid Kermani die christliche Bilderwelt.
„Ungläubiges Erstaunen“ kann zwischen Religion und Kunst, Islam und Christentum vermitteln
VON JOHANN HINRICH CLAUSSEN
Manchmal entwickeln sich Dinge auch zum Guten. Ein Beispiel dafür ist das Verhältnis von Christen und Muslimen in Deutschland. Allem Geschrei, aller berechtigten Sorge um islamistische Radikalisierung oder altdeutschen Fremdenhass zum Trotz ist ein deutlicher Fortschritt festzustellen. Es gibt mehr Normalität, Gelassenheit und unbefangenes Interesse. Den schönsten Beleg für diese ganz unoriginelle These liefert Navid Kermani. Der bekannte Schriftsteller, Orientalist, Kulturmuslim und baldige Friedenspreisträger hat ein Buch über das Christentum geschrieben. Seine Keimzelle – ein Aufsatz über barocke Kreuzigungsbilder – hatte vor einigen Jahren noch zu einem Eklat geführt. Eine mittelbedeutende Preisverleihung an Kermani geriet ins Stocken, weil einige Kirchenführer und C-Politiker daran Anstoß genommen hatten, dass ein muslimischer Intellektueller es gewagt hatte, sich seine eigenen Gedanken über ihre Religion zu machen. Es lohnt nicht, an die Details dieser unnötigen Verwicklung zu erinnern. Es genügt, mit Befriedigung festzustellen, dass so etwas nicht wieder vorkommen dürfte, ja dass im Gegenteil Kermanis neues Buch über die schönen alten Bilder des Christentums heute mit vielen freudig-neugierigen Lesern – besonders unter den noch christlich eingestellten Deutschen – rechnen kann.
Unter dem glücklich gewählten Titel „Ungläubiges Staunen“ nähert sich Kermani der christlichen Religion an. Er tut dies nicht, indem er ihre Lehren oder die Geschichte ihrer Institutionen bedenkt, sondern indem er ihre Bilder betrachtet: Gemälde und Skulpturen von Gott, Maria, Jesus, Heiligen. Die Beispiele sind frei gewählt, folgen keiner kunsthistorischen Systematik, sondern persönlichen Vorlieben und Erlebnissen. Kermani wollte ja keine wissenschaftliche Erörterung verfassen, sondern über seine Erfahrungen mit dem Christentum literarisch Rechenschaft ablegen. Dazu passt sein Ton: kein begrifflich strenges Dozieren und Argumentieren, sondern ein nachdenkliches Parlando, das bei aller Assoziations- und Erzählfreude dennoch konzentriert bleibt, manchmal fast meditativ wird. Man merkt einigen Kapiteln an, dass sie ursprünglich für Zeitungen oder Zeitschriften verfasst wurden. Eine solche Nähe zum Journalismus bekommt vielen Büchern nicht, hier aber eröffnet sie eine unangestrengte Zugänglichkeit, eine feine Mühelosigkeit, wie man sie in Büchern über Religion viel zu selten findet. Man könnte darin fast ein Statement sehen: Es ist möglich, auch entspannt und gerade deshalb inspirierend über den Glauben zu schreiben. So könnte „Ungläubiges Staunen“ Kermanis populärstes Buch werden – ein solcher Erfolg wäre wünschenswert als Signal einer wachsenden Normalität zwischen Christen und Muslimen.
Dabei hat dieses Buch einen anspruchsvollen Kern, entfaltet es fast ein theoretisches Programm. Man schlägt es ja mit einer gewissen Spannung auf. Was findet ein Autor, der von einer angeblich bilderfeindlichen Religion geprägt ist, in der christlichen Ikonografie? Geht er mit kritischem Furor auf sie los oder genießt er sie wie eine verbotene Frucht? Nun, Kermani nähert sich den christlichen Glaubensbildern mit echtem Interesse und engagierter Sympathie. Er will von ihnen etwas wissen und traut ihnen viel zu. Die routinierte Herablassung und der zur Gewohnheit gewordene Argwohn, mit denen deutsche Intellektuelle üblicherweise religiöse Gegenstände betrachten, sind ihm fremd.
Eher findet man bei ihm einen produktiven, nur leicht ironisch eingehüllten Neid auf die Bilderpracht des alten Katholizismus – ein Gefühl, das Protestanten allzu gut kennen. Kermani umkreist die von ihm ausgewählten Bilder von Botticelli, Rembrandt, Lochner oder Veronese, oder von weniger bekannten alten Meistern eher, als dass er sie erklärt. Er erzählt lieber, wie er auf sie gestoßen ist, wie sie ihn bei der ersten Begegnung angesprochen und zu welchen Fragen sie ihn geführt haben. Besonders anregend ist natürlich, welche muslimischen Assoziationen sie bei ihm ausgelöst haben. Von der mächtigen Tradition des jüdischen, christlichen und muslimischen Bilderverbots lässt er sich nicht einschüchtern. Wie Wünschelruten setzt er die Bilder ein, um durch ihre Sinnlichkeit zum Sinn des christlichen Glaubens zu gelangen. Dabei tappt er aber nicht in die Falle des religiösen Ästhetizismus, der sich bei aller Kultiviertheit leider allzu schnell mit einer antiliberalen Haltung und gegenwartsfeindlichen Attitüde verbindet.
Davor bewahrt ihn sein Sinn für das Schöne im Hässlichen, sein Interesse am Unfertigen, seine Lust an Irritationen. Der mit Abstand wichtigste Zeuge des Christentums ist für ihn Caravaggio. Dessen verblüffende und verstörende Gemälde eröffnen ihm einen Zugang auch zum Abgründigen im Christentum. Natürlich bleibt Kermani bei seiner Ablehnung von blutiger Passionsfrömmigkeit und erbarmungsloser Opfertheologie, aber er gewinnt – von Caravaggio inspiriert – ein neues Verständnis sogar für das skandalöse Hauptsymbol des Christentums: das Kreuz.
Wenn der Begriff nicht so missbraucht und verludert wäre, würde man dieses Buch ein Stück „Erbauungsliteratur“ nennen. Diese Gattung hatten der deutsche Pietismus und die evangelische Aufklärung einst geschaffen, um der schwachen, sterilen und beschränkten Predigt eine freiere und wirkungsvollere Verkündigungsform an die Seite zu stellen: Bücher nämlich, die „das Gemüt erheben, fromme Gedanken wecken und zum Guten aufmuntern“, wie es in einem Wörterbuch des 18. Jahrhunderts heißt. „Erbaulich“ waren Schriften, die die Frömmigkeit beförderten, indem sie den ästhetischen Sinn bildeten und zur moralischen Verantwortung erzogen. Leider ist „Erbauung“ heute zum Inbegriff unehrlicher und kitschiger Pastorenpoesie herabgesunken. Dabei gäbe es noch Bedarf an literarisch ansprechenden und anspruchsvollen Gestaltungen religiöser Bildung und Urteilsbildung. Das ist genau, was Kermani leistet. Dabei schreibt er mitunter sehr affirmative Sätze über die Liebe, den Glauben und die Hoffnung, die man einem christlichen Theologen kaum abnehmen würde. Oder ist das nur ein literarisches Spiel?
Man muss sich ja davor hüten, diesen Autor allzu schnell auf eine religiöse Position festzulegen. Er ist ein Schriftsteller und nicht etwa der Bundesislambeauftragte. Aber man kann ihn doch beim Wort nehmen und seine ikonografische Anleitung zum Staunen als ernsthaften Versuch lesen, ein Christentum zu imaginieren, das für viele, weit über die Grenzen der Kirchen hinaus, zu einer eigenen Möglichkeit werden könnte – sogar für einen Muslim.
Dieses Buch überwindet Grenzen, hat aber selbst eine Grenze. Es beschäftigt sich fast ausschließlich mit vormoderner Kunst. Aus der Kunst der Gegenwart kommen nur zwei Exemplare vor, doch sie fallen deutlich ab. Das ist deshalb ein Problem, weil die alten Bilder mit einer Gegenständlichkeit arbeiten, die heutigen Menschen kaum mehr zu vermitteln ist. Zum symbolischen Sinngehalt des Christentums führt man Zeitgenossen nur, wenn man die Dinglichkeit von Glaubensvorstellungen durchbricht. Es ist kein Zufall, dass christliche Religiosität weitgehend bilderlos geworden ist. Das gilt nicht nur für den vermeintlich ach so spröden Protestantismus, sondern auch für den Katholizismus, wie man an bedeutenden modernen Kirchbauten beider Konfessionen zeigen kann. Das führt zu der doppelten Frage, ob die christliche Religion heute noch bildfähig ist und ob die moderne Kunst heute noch religionsfähig ist. Zweimal müsste man hier „nein“ sagen. Natürlich gäbe es religiöse und ästhetische Alternativen, aber sie werden in diesem Buch nicht gezeigt und diskutiert.
Kermani scheint um diese Grenze zu wissen. Das zeigt sich daran, dass das gegenwartsnächste und wichtigste Kapitel eines ist, das eigentlich gar nicht hineinpasst. Es ist der Wiederabdruck einer älteren Reportage, die sich nicht mit einem Bild, sondern mit einem realen Menschen beschäftigt. Kermani schreibt darin über den Jesuitenpater Paolo Dall’Oglio, einen christlichen Liebhaber des Islam, der in der Wüste nördlich von Damaskus das Kloster Mar Mur begründet und zu einem Hoffnungsort gemacht hat. Leidenschaftlich hat er für religiöse Verständigung geworben, mutig hat er die Verbrechen des Assad-Regimes angeprangert, unbeirrt hat er sich für den Frieden eingesetzt. Vor zwei Jahren wurde er von IS-Terroristen verschleppt. Was aus ihm wurde, ob er noch lebt, ist unbekannt. Kermani schreibt die Geschichte dieses christlich-muslimischen Märtyrers wie eine moderne Heiligenlegende. Sie inspiriert ihn zu den entscheidenden Sätzen seines Buches: „Wenn ich etwas am Christentum bewundere, oder vielleicht sollte ich sage: an den Christen, deren Glaube mich mehr als nur überzeugte, nämlich bezwang, aller Einwände beraubte, wenn ich nur einen Aspekt, eine Eigenschaft zum Vorbild nehme, zur Leitschnur auch für mich, dann ist es nicht etwa die geliebte Kunst. Es ist die spezifisch christliche Liebe. Die Liebe, die ich bei vielen Christen und am häufigsten bei jenen wahrnehme, die ihr Leben Jesus verschrieben haben, den Mönchen und Nonnen, geht über das Maß hinaus, auf das ein Mensch auch ohne Gott kommen könnte: Ihre Liebe machten keinen Unterschied.“
Am Ende seines Buches über das Christentum steht bei Kermani also ein gar nicht mehr so ungläubiges Staunen, das durch einen leibhaftigen Menschen ausgelöst wurde – ein Staunen, dem es gleichgültig ist, ob man es nun christlich oder muslimisch nennt.
Navid Kermani: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum. Verlag C.H. Beck, München 2015. 288 Seiten, Abb., 24,95 Euro.
Kermani hat Sinn für das Schöne
im Hässlichen, Interesse am
Unfertigen, Lust an Irritationen
Es ist kein Zufall, dass christliche
Religiosität heute weitgehend
bilderlos geworden ist
Wenn Ungläubigkeit kein Problem mehr ist: „Der ungläubige Thomas“ des Caravaggio, 1601/02. Foto: Masur/OH
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Ohne Argwohn und Herablassung erforscht der Muslim Navid Kermani die christliche Bilderwelt.
„Ungläubiges Erstaunen“ kann zwischen Religion und Kunst, Islam und Christentum vermitteln
VON JOHANN HINRICH CLAUSSEN
Manchmal entwickeln sich Dinge auch zum Guten. Ein Beispiel dafür ist das Verhältnis von Christen und Muslimen in Deutschland. Allem Geschrei, aller berechtigten Sorge um islamistische Radikalisierung oder altdeutschen Fremdenhass zum Trotz ist ein deutlicher Fortschritt festzustellen. Es gibt mehr Normalität, Gelassenheit und unbefangenes Interesse. Den schönsten Beleg für diese ganz unoriginelle These liefert Navid Kermani. Der bekannte Schriftsteller, Orientalist, Kulturmuslim und baldige Friedenspreisträger hat ein Buch über das Christentum geschrieben. Seine Keimzelle – ein Aufsatz über barocke Kreuzigungsbilder – hatte vor einigen Jahren noch zu einem Eklat geführt. Eine mittelbedeutende Preisverleihung an Kermani geriet ins Stocken, weil einige Kirchenführer und C-Politiker daran Anstoß genommen hatten, dass ein muslimischer Intellektueller es gewagt hatte, sich seine eigenen Gedanken über ihre Religion zu machen. Es lohnt nicht, an die Details dieser unnötigen Verwicklung zu erinnern. Es genügt, mit Befriedigung festzustellen, dass so etwas nicht wieder vorkommen dürfte, ja dass im Gegenteil Kermanis neues Buch über die schönen alten Bilder des Christentums heute mit vielen freudig-neugierigen Lesern – besonders unter den noch christlich eingestellten Deutschen – rechnen kann.
Unter dem glücklich gewählten Titel „Ungläubiges Staunen“ nähert sich Kermani der christlichen Religion an. Er tut dies nicht, indem er ihre Lehren oder die Geschichte ihrer Institutionen bedenkt, sondern indem er ihre Bilder betrachtet: Gemälde und Skulpturen von Gott, Maria, Jesus, Heiligen. Die Beispiele sind frei gewählt, folgen keiner kunsthistorischen Systematik, sondern persönlichen Vorlieben und Erlebnissen. Kermani wollte ja keine wissenschaftliche Erörterung verfassen, sondern über seine Erfahrungen mit dem Christentum literarisch Rechenschaft ablegen. Dazu passt sein Ton: kein begrifflich strenges Dozieren und Argumentieren, sondern ein nachdenkliches Parlando, das bei aller Assoziations- und Erzählfreude dennoch konzentriert bleibt, manchmal fast meditativ wird. Man merkt einigen Kapiteln an, dass sie ursprünglich für Zeitungen oder Zeitschriften verfasst wurden. Eine solche Nähe zum Journalismus bekommt vielen Büchern nicht, hier aber eröffnet sie eine unangestrengte Zugänglichkeit, eine feine Mühelosigkeit, wie man sie in Büchern über Religion viel zu selten findet. Man könnte darin fast ein Statement sehen: Es ist möglich, auch entspannt und gerade deshalb inspirierend über den Glauben zu schreiben. So könnte „Ungläubiges Staunen“ Kermanis populärstes Buch werden – ein solcher Erfolg wäre wünschenswert als Signal einer wachsenden Normalität zwischen Christen und Muslimen.
Dabei hat dieses Buch einen anspruchsvollen Kern, entfaltet es fast ein theoretisches Programm. Man schlägt es ja mit einer gewissen Spannung auf. Was findet ein Autor, der von einer angeblich bilderfeindlichen Religion geprägt ist, in der christlichen Ikonografie? Geht er mit kritischem Furor auf sie los oder genießt er sie wie eine verbotene Frucht? Nun, Kermani nähert sich den christlichen Glaubensbildern mit echtem Interesse und engagierter Sympathie. Er will von ihnen etwas wissen und traut ihnen viel zu. Die routinierte Herablassung und der zur Gewohnheit gewordene Argwohn, mit denen deutsche Intellektuelle üblicherweise religiöse Gegenstände betrachten, sind ihm fremd.
Eher findet man bei ihm einen produktiven, nur leicht ironisch eingehüllten Neid auf die Bilderpracht des alten Katholizismus – ein Gefühl, das Protestanten allzu gut kennen. Kermani umkreist die von ihm ausgewählten Bilder von Botticelli, Rembrandt, Lochner oder Veronese, oder von weniger bekannten alten Meistern eher, als dass er sie erklärt. Er erzählt lieber, wie er auf sie gestoßen ist, wie sie ihn bei der ersten Begegnung angesprochen und zu welchen Fragen sie ihn geführt haben. Besonders anregend ist natürlich, welche muslimischen Assoziationen sie bei ihm ausgelöst haben. Von der mächtigen Tradition des jüdischen, christlichen und muslimischen Bilderverbots lässt er sich nicht einschüchtern. Wie Wünschelruten setzt er die Bilder ein, um durch ihre Sinnlichkeit zum Sinn des christlichen Glaubens zu gelangen. Dabei tappt er aber nicht in die Falle des religiösen Ästhetizismus, der sich bei aller Kultiviertheit leider allzu schnell mit einer antiliberalen Haltung und gegenwartsfeindlichen Attitüde verbindet.
Davor bewahrt ihn sein Sinn für das Schöne im Hässlichen, sein Interesse am Unfertigen, seine Lust an Irritationen. Der mit Abstand wichtigste Zeuge des Christentums ist für ihn Caravaggio. Dessen verblüffende und verstörende Gemälde eröffnen ihm einen Zugang auch zum Abgründigen im Christentum. Natürlich bleibt Kermani bei seiner Ablehnung von blutiger Passionsfrömmigkeit und erbarmungsloser Opfertheologie, aber er gewinnt – von Caravaggio inspiriert – ein neues Verständnis sogar für das skandalöse Hauptsymbol des Christentums: das Kreuz.
Wenn der Begriff nicht so missbraucht und verludert wäre, würde man dieses Buch ein Stück „Erbauungsliteratur“ nennen. Diese Gattung hatten der deutsche Pietismus und die evangelische Aufklärung einst geschaffen, um der schwachen, sterilen und beschränkten Predigt eine freiere und wirkungsvollere Verkündigungsform an die Seite zu stellen: Bücher nämlich, die „das Gemüt erheben, fromme Gedanken wecken und zum Guten aufmuntern“, wie es in einem Wörterbuch des 18. Jahrhunderts heißt. „Erbaulich“ waren Schriften, die die Frömmigkeit beförderten, indem sie den ästhetischen Sinn bildeten und zur moralischen Verantwortung erzogen. Leider ist „Erbauung“ heute zum Inbegriff unehrlicher und kitschiger Pastorenpoesie herabgesunken. Dabei gäbe es noch Bedarf an literarisch ansprechenden und anspruchsvollen Gestaltungen religiöser Bildung und Urteilsbildung. Das ist genau, was Kermani leistet. Dabei schreibt er mitunter sehr affirmative Sätze über die Liebe, den Glauben und die Hoffnung, die man einem christlichen Theologen kaum abnehmen würde. Oder ist das nur ein literarisches Spiel?
Man muss sich ja davor hüten, diesen Autor allzu schnell auf eine religiöse Position festzulegen. Er ist ein Schriftsteller und nicht etwa der Bundesislambeauftragte. Aber man kann ihn doch beim Wort nehmen und seine ikonografische Anleitung zum Staunen als ernsthaften Versuch lesen, ein Christentum zu imaginieren, das für viele, weit über die Grenzen der Kirchen hinaus, zu einer eigenen Möglichkeit werden könnte – sogar für einen Muslim.
Dieses Buch überwindet Grenzen, hat aber selbst eine Grenze. Es beschäftigt sich fast ausschließlich mit vormoderner Kunst. Aus der Kunst der Gegenwart kommen nur zwei Exemplare vor, doch sie fallen deutlich ab. Das ist deshalb ein Problem, weil die alten Bilder mit einer Gegenständlichkeit arbeiten, die heutigen Menschen kaum mehr zu vermitteln ist. Zum symbolischen Sinngehalt des Christentums führt man Zeitgenossen nur, wenn man die Dinglichkeit von Glaubensvorstellungen durchbricht. Es ist kein Zufall, dass christliche Religiosität weitgehend bilderlos geworden ist. Das gilt nicht nur für den vermeintlich ach so spröden Protestantismus, sondern auch für den Katholizismus, wie man an bedeutenden modernen Kirchbauten beider Konfessionen zeigen kann. Das führt zu der doppelten Frage, ob die christliche Religion heute noch bildfähig ist und ob die moderne Kunst heute noch religionsfähig ist. Zweimal müsste man hier „nein“ sagen. Natürlich gäbe es religiöse und ästhetische Alternativen, aber sie werden in diesem Buch nicht gezeigt und diskutiert.
Kermani scheint um diese Grenze zu wissen. Das zeigt sich daran, dass das gegenwartsnächste und wichtigste Kapitel eines ist, das eigentlich gar nicht hineinpasst. Es ist der Wiederabdruck einer älteren Reportage, die sich nicht mit einem Bild, sondern mit einem realen Menschen beschäftigt. Kermani schreibt darin über den Jesuitenpater Paolo Dall’Oglio, einen christlichen Liebhaber des Islam, der in der Wüste nördlich von Damaskus das Kloster Mar Mur begründet und zu einem Hoffnungsort gemacht hat. Leidenschaftlich hat er für religiöse Verständigung geworben, mutig hat er die Verbrechen des Assad-Regimes angeprangert, unbeirrt hat er sich für den Frieden eingesetzt. Vor zwei Jahren wurde er von IS-Terroristen verschleppt. Was aus ihm wurde, ob er noch lebt, ist unbekannt. Kermani schreibt die Geschichte dieses christlich-muslimischen Märtyrers wie eine moderne Heiligenlegende. Sie inspiriert ihn zu den entscheidenden Sätzen seines Buches: „Wenn ich etwas am Christentum bewundere, oder vielleicht sollte ich sage: an den Christen, deren Glaube mich mehr als nur überzeugte, nämlich bezwang, aller Einwände beraubte, wenn ich nur einen Aspekt, eine Eigenschaft zum Vorbild nehme, zur Leitschnur auch für mich, dann ist es nicht etwa die geliebte Kunst. Es ist die spezifisch christliche Liebe. Die Liebe, die ich bei vielen Christen und am häufigsten bei jenen wahrnehme, die ihr Leben Jesus verschrieben haben, den Mönchen und Nonnen, geht über das Maß hinaus, auf das ein Mensch auch ohne Gott kommen könnte: Ihre Liebe machten keinen Unterschied.“
Am Ende seines Buches über das Christentum steht bei Kermani also ein gar nicht mehr so ungläubiges Staunen, das durch einen leibhaftigen Menschen ausgelöst wurde – ein Staunen, dem es gleichgültig ist, ob man es nun christlich oder muslimisch nennt.
Navid Kermani: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum. Verlag C.H. Beck, München 2015. 288 Seiten, Abb., 24,95 Euro.
Kermani hat Sinn für das Schöne
im Hässlichen, Interesse am
Unfertigen, Lust an Irritationen
Es ist kein Zufall, dass christliche
Religiosität heute weitgehend
bilderlos geworden ist
Wenn Ungläubigkeit kein Problem mehr ist: „Der ungläubige Thomas“ des Caravaggio, 1601/02. Foto: Masur/OH
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Wäre es Navid Kermani um eine theologische Diskussion gegangen, der hier rezensierende protestantische Theologe Friedrich Wilhelm Graf müsste ihn um größere begriffliche Prägnanz bitten und ihn auf die Widersprüche in seiner Annäherung an das Christentum aufmerksam machen. Kermani geht es aber in seinem Buch "Ungläubiges Staunen" um eine ganz persönliche Aneignung der christlichen, vor allem der katholischen Bildwelt, schreibt der Rezensent. Und vermittels seiner meditativen Bildbetrachtungen, die ganz in der Tradition mystischer Versenkung stehen, entstehe ein Bild des Christentums - das zuweilen protestantischer ist, als Kermani bewusst sein mag, erklärt Graf.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Navid Kermani has written one of the funniest, most perceptive, outrageous and engaging books about art, life and faith that I have ever read (...) he needs to be read and loved and admired."
Nicola Barker, spectator, 28. Oktober 2017
"Der seltene Glücksfall eines Religionsdialogs, der die hergebrachten Zuordnungen auf das Schönste und Irritierendste durcheinanderbringt."
Johann Hinrich Claussen, Herder Korrespondenz, Juni 2016
"Erfrischend subversiv."
Walter Kayser, Portal für Kunstgeschichte, 10. Dezember 2015
"Ein Buch gerade auch für Atheisten, explizit Ungläubige."
Der Tagesspiegel, 5. Dezember 2015
"Der unvoreingenommene, kluge Blick auf das Fremde."
Literatur Spiegel, Dez 15/Jan 16
"Diese 40 Bildbeschreibungen eines Moslems zu Schlüsselwerken der christlichen Kunst sind das schönste Buch, das je auf einer deutschen Bestsellerliste stand."
Denis Scheck, Der Tagesspiegel, 2. November 2015
"Er nähert sich dem christlichen Glauben nicht denkend, sondern schauend und fühlend."
Friedrich Wilhelm Graf, Die ZEIT, 15. Oktober 2015
"Navid Kermani erweist sich in seinem neuen Buch "Ungläubiges Staunen" als hervorragender Kenner der Bibel und der christlichen Kunst."
Wiener Zeitung, 13. Oktober 2015
"Eine Liebeserklärung an den Glauben."
Zeit, 8. Oktober 2015
"Ein unglaublich guter Anstoß, den Blick neu zu schärfen für das wunderbar Befremdende katholischer Bildwelten."
Jan-Heiner Türck, Neue Zürcher Zeitung, 8. Oktober 2015
"Ein Augenöffner. [...] bringt das Christentum einem Publikum näher, dem die vermeintlich eigene Religion längst fremd geworden ist."
René Aguigah, Cicero, Oktober 2015
"Literarisch und intellektuell ein großer Wurf (...) Bei übermäßigem Genuss besteht Suchtgefahr."
Joachim Frank, Kölner Stadt-Anzeiger, 4. September 2015
"Kermani ist ein moderner Mystiker."
Friedrich Wilhelm Graf, Deutschlandradio Kultur, 28. August 2015
"Es ist möglich, auch entspannt und gerade deshalb inspirierend über den Glauben zu schreiben (...) Dieses Buch überwindet Grenzen."
Johann Hinrich Claussen, Süddeutsche Zeitung, 25. August 2015
"Wer neugierig ist aufs fremdgewordene, eigene Christentum dürfte seufzen: Danke, Navid Kermani."
Christiane Florin, Deutschlandfunk, 24. August 2015
"Eine faszinierend schwärmerische Annäherung an den christlichen Glauben."
Alexander Cammann, Die Zeit, 20. August 2015
Nicola Barker, spectator, 28. Oktober 2017
"Der seltene Glücksfall eines Religionsdialogs, der die hergebrachten Zuordnungen auf das Schönste und Irritierendste durcheinanderbringt."
Johann Hinrich Claussen, Herder Korrespondenz, Juni 2016
"Erfrischend subversiv."
Walter Kayser, Portal für Kunstgeschichte, 10. Dezember 2015
"Ein Buch gerade auch für Atheisten, explizit Ungläubige."
Der Tagesspiegel, 5. Dezember 2015
"Der unvoreingenommene, kluge Blick auf das Fremde."
Literatur Spiegel, Dez 15/Jan 16
"Diese 40 Bildbeschreibungen eines Moslems zu Schlüsselwerken der christlichen Kunst sind das schönste Buch, das je auf einer deutschen Bestsellerliste stand."
Denis Scheck, Der Tagesspiegel, 2. November 2015
"Er nähert sich dem christlichen Glauben nicht denkend, sondern schauend und fühlend."
Friedrich Wilhelm Graf, Die ZEIT, 15. Oktober 2015
"Navid Kermani erweist sich in seinem neuen Buch "Ungläubiges Staunen" als hervorragender Kenner der Bibel und der christlichen Kunst."
Wiener Zeitung, 13. Oktober 2015
"Eine Liebeserklärung an den Glauben."
Zeit, 8. Oktober 2015
"Ein unglaublich guter Anstoß, den Blick neu zu schärfen für das wunderbar Befremdende katholischer Bildwelten."
Jan-Heiner Türck, Neue Zürcher Zeitung, 8. Oktober 2015
"Ein Augenöffner. [...] bringt das Christentum einem Publikum näher, dem die vermeintlich eigene Religion längst fremd geworden ist."
René Aguigah, Cicero, Oktober 2015
"Literarisch und intellektuell ein großer Wurf (...) Bei übermäßigem Genuss besteht Suchtgefahr."
Joachim Frank, Kölner Stadt-Anzeiger, 4. September 2015
"Kermani ist ein moderner Mystiker."
Friedrich Wilhelm Graf, Deutschlandradio Kultur, 28. August 2015
"Es ist möglich, auch entspannt und gerade deshalb inspirierend über den Glauben zu schreiben (...) Dieses Buch überwindet Grenzen."
Johann Hinrich Claussen, Süddeutsche Zeitung, 25. August 2015
"Wer neugierig ist aufs fremdgewordene, eigene Christentum dürfte seufzen: Danke, Navid Kermani."
Christiane Florin, Deutschlandfunk, 24. August 2015
"Eine faszinierend schwärmerische Annäherung an den christlichen Glauben."
Alexander Cammann, Die Zeit, 20. August 2015