Mit der Zwillingsschwester in die Kapuzinergruft, mit dem nomadischen Urgroßvater durch den Kaukasus, mit Sigmund Freud ins Londoner Exil, mit der polnischen Putzfrau nach Oswiecim/Auschwitz: Während dreier Jahre - vom Attentat auf die New Yorker Zwillingstürme bis zum Literaturnobelpreis für Elfriede Jelinek - begibt sich Ilse Aichinger im Wiener Kaffeehaus "Demel" auf Reisen. Reiseutensilien sind Stift und Papier, auf Speisekarten, Rätselheften und Einkaufstüten entstehen abenteuerliche Manuskripte. Reisegefährten sind Menschen, die sich während über 80 Jahren als "kräftige Schattenrisse" in die Erinnerung eingeprägt haben. Die Routen führen, so direkt wie möglich und so "unglaubwürdig" wie nötig, in die Topographie der eigenen Biographie - das wechselvolle Leben einer der wichtigsten Autorinnen der deutschen Nachkriegsliteratur.
Durch ein Jahrhundertleben und wieder zurück: Ilse Aichingers "Unglaubwürdige Reisen" / Von Volker Weidermann
Als Ilse Aichinger Ende der fünfziger Jahre auf einer Tagung der "Gruppe 47" den Schriftsteller Günter Grass kennenlernte, hatte sie den Eindruck, einem verletzlichen, ängstlichen Mann zu begegnen. Einer, der "verlassen werden könnte". Ein Einsamer. Auf einer späteren Tagung kam jener Einsame zu ihr. Sie hatte gerade einige Gedichte gelesen. Dunkle Gedichte. Zu dunkel, fand Grass, zu düster, und kam also zu ihr und sagte: "Da muß etwas geschehen." In ihrem neuen Buch, dem leisen, weisen, poetischen, wundersamen Erinnerungsbuch "Unglaubwürdige Reisen", ist diese Begegnung festgehalten und die Sorgen des Danzigers um ihre Seele: "Da muß etwas geschehen." Und sie schließt die Erinnerung mit dem Satz: "Er hat es inzwischen geschehen lassen."
Ilse Aichinger ist vierundachtzig Jahre alt, vor sechzig Jahren erschien ihr erster literarischer Text. "Aufruf zum Mißtrauen!" war er überschrieben und darin schrieb die von den Nationalsozialisten per Gesetz zur "Halbjüdin" Erklärte, die mit Glück als eine der wenigen ihrer Familie die Nazizeit in Österreich überlebt hatte, nicht etwa über das Mißtrauen gegenüber den Mitmenschen, der Politik, den Machthabern. Sie schrieb über das Mißtrauen gegen sich selbst. Es folgte ihr erster Roman, das autobiographische Erinnerungsbuch "Die größere Hoffnung", über die Sehnsüchte und Ängste jüdischer Kinder in der Nazizeit. Es wurde kein Erfolg. Die Menschen in Deutschland und Österreich waren dafür noch längst nicht bereit. Es blieb Ilse Aichingers einziger Roman. Auch in der "Gruppe 47" kamen das Buch und andere Texte Aichingers zunächst äußerst schlecht an. Den Realisten der Autorenvereinigung war ihr Stil entschieden zu überrealistisch, zu subjektiv und empathisch. Es war zu der Zeit, als der andere Überlebende, als Paul Celan, vor der Gruppe seine "Todesfuge" las, auf grummelndes Unverständnis stieß und angepöbelt wurde mit den Worten: "Der liest ja wie Goebbels." Daß es damals nicht zur Spaltung der Gruppe kam, hat die Diplomatie Hans-Werner Richters verhindert. Ilse Aichinger bekam später sogar den Preis der 47er für ihre "Spiegelgeschichte", ein rückwärts erzählter Bericht, der mit dem Sterben einer jungen Frau aufgrund einer verpfuschten Abtreibung beginnt. Und der mit der Geburt endet. Der letzte Satz, der erste Satz war: "Still! Laß sie reden!"
Die Stille wuchs dann mit der Zeit im Leben Ilse Aichingers, auch in ihrem Schreiben. Ihr Stil wurde immer knapper, präziser, schneller. Ihre Texte wurden kleiner und immer kleiner. Ihre letzte Kolumne im Wiender "Standard" trug den Titel "Vom Verschwinden". Und so waren die Texte, kleine Feuilletons, Reportagen der Erinnerung, winzige Versuche über die Vergangenheit, von einer Poesie und Leichtigkeit und Ruhe, wie man es manchmal gar nicht glauben konnte. Früh schon hatte Ilse Aichinger ihre Poetik so erklärt: "Ich schreibe, weil ich keine bessere Form des Schweigens finde." Und diese Form hatte sie mit ihren Texten vom Verschwinden zu einer wahren Meisterschaft gebracht. Letzte Texte vor der Stille.
Aber das große Glück dieses Bücher-Herbstes nun ist die Erkenntnis: Es waren vorletzte Texte, damals, bestenfalls vorletzte Texte vor der Stille. Denn die Kristallisierung der Worte im Werk Ilse Aichingers, die Verknappung der Sprache, die Verdichtung der Welt in ihrem Werk geht weiter. "Unglaubwürdige Reisen" ist die neue Textzusammenstellung überschrieben. Leser des "Standard" konnten schon vorher wissen, auf welchen Fahrten des Geistes die wundersame Dame in den letzten Jahren unterwegs gewesen ist.
Es sind schöne, kurze, wahre Momente, die ein ganzes Leben beschreiben. Und einen Augenblick. Sie wandern durch die Welt und durch ein Jahrhundertleben und wieder zurück. Immer wieder zurück zu der Zeit, als die Verwandten in Viehtransporten nach Minsk transportiert wurden, immer wieder zurück zu den Abschieden von Freunden, als man dachte, sich einredete, ach, das ist für einen Moment, für ein paar Tage, und all die Abschiede waren für immer. Der Abschied von der Zwillingsschwester, die nach London ging und blieb. Vom Vater, der in die Nervenklinik kam, weil er eine Jean-Paul-Ausgabe nach der anderen kaufte - ohne Geld, bis er schließlich entmündigt wurde. Die Zeit im Verborgenen, in Wien, die tägliche Angst, entdeckt und abtransportiert zu werden, die unendliche Unsicherheit eines jeden Tages. Kommen sie? Kommen sie? Heute? "Es war ein Dienstag im Mai 1942, als ich im weiland zwanzigsten Jahrhundert auf dem Weg durch die Stadt flüchtig ein etwas gehetztes Wort hörte: ,Die Gegend, in der deine Leute wohnen, ist an diesem Nachmittag gefährlich.' Für Details dieser Warnung war keine Zeit mehr. Es war auch zu spät. Für sie alle war es immer schon zu spät gewesen."
Das war die Zeit des plötzlichen Verschwindens. Ilse Aichinger hat dieses Verschwinden ihr ganzes Werk lang nachgezeichnet, mit knappen Worten kurz vor dem letzten "fort". Alles beginnt mit diesem Verschwinden. Alles endet damit. Bald, sehr bald: "Ich erinnere mich an ein Kinoerlebnis nach dem Krieg. Die Kassiererin eines Kinos in der Josefstadt sagte mir, sie wüßte Genaueres über das Schicksal meiner Angehörigen, und ich sollte am nächsten Donnerstag wiederkommen. Als ich dann wiederkam, erklärte sie: ,Ich erzähle es Ihnen lieber nicht.'"
Und so ragt das Rätsel, die Katastrophe des plötzlichen, immerwährenden Verschwindens an allen Stellen in die Gegenwart hinein. Beim plötzlichen sintflutartigen Wunsch nach einer Grießnockerlsuppe um zwei Uhr nachts, der sie an eine Tankstelle am Morzinplatz führt, "nahe der ehemaligen Wiener Gestapo", wo jetzt ein kleiner unauffälliger Stein der Erinnerung helfen soll. Aber er hilft nicht. Gar nichts hilft. Die Vergangenheit ist immer da. Und die Verzweiflung.
Ilse Aichinger ging immer noch, bis vor ganz kurzer Zeit, jeden Tag ins Kaffeehaus, ins "Demel". Sie frühstückte lange und ausgiebig. Einmal in der Woche, am Donnerstag, schrieb sie auf eine Papiertüte eine Speisekarte, einen zufälligen Diätplan, einen ihrer Texte, die dann als unglaubwürdige Reiseberichte in der Zeitung erschienen. Die Reisen, die sie beschreibt, folgen den immergleichen Spuren. Es sind keine wahren Reisen in die Welt der Wirklichkeit. Nein, sie sind wirklicher noch. Es sind Reisen durch den Geist, durch die Welt der Vorstellung, durch Wien und die Erinnerung. "Wenn einer eine Reise tut, so kann er nichts erzählen", heißt es gleich zu Beginn. In der fremden Welt da draußen würde sie nichts erleben. Nur im Bekannten liegen die Geschichten. So bleibt sie zu Haus. Nach dem Besuch im "Demel" ging sie jeden Tag ins Kino. Meist sah sie vier Filme am Stück. Sieben Stunden lang. Bis es spät genug war, in die Einsamkeit des Zuhauses zurückzukehren. Bis zum nächsten Tag.
Jetzt kommt Ilse Aichinger seit einer Weile nicht mehr ins "Demel". Sie sei krank und ziehe sich, nach einem langen, öffentlichen Dichterleben in Wien, aus der Öffentlichkeit zurück, heißt es. Hoffentlich ist es nicht für lange Zeit, hoffentlich nicht für immer. Denn die "Unglaubwürdigen Reisen" müssen weitergehen.
Viele Dichter werden zitiert in diesen Texten, die großen Österreicher meist, Stifter und Grillparzer, die Beschreibung ihrer fernen Freundschaft mit Thomas Bernhard ist einer der schönsten Texte des Bandes. "Bernhard hatte mir einmal geschrieben, ich solle kommen, wenn ich Sorgen hätte, welche auch immer, und ich rief an, die Verträge von Suhrkamp schienen schwer durchschaubar. Drei Stunden später stand Thomas Bernhard bei uns in Großgmain in der Tür, sein Wagen schräg hinter ihm. Sein Kommentar war knapp: ,Da kann man nichts machen.'" Canetti sah sie einst im Park von Golders Green und Jakob Wassermann im Garten beim Rosenschneiden. Am Ende zitiert sie nur noch Cioran, den König der Verzweiflung.
Und Grass? Wie hatte sie den Satz gemeint: "Er hat es inzwischen geschehen lassen" - um die Düsternis zu beenden? Ließ er etwas geschehen, das die Düsternis vertrieb? Nein. Er läßt es längst geschehen, soll es heißen. Es ist die Düsternis der Ilse Aichinger nicht aufzuhellen. Es gibt keine Hilfe, keine Aufhellung. Für Momente das Kino. Sonst nichts. Nicht auf dieser Welt.
Ilse Aichinger: "Unglaubwürdige Reisen." S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005. 187 S., geb., 17,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Mit viel Lob versieht Franz Schuh diese, nun als Taschenbuch erschienenen, autobiografischen Skizzen und Kurzessays, die seinen Informationen zufolge "nach langem Schweigen" dieser bedeutenden Nachkriegsautorin ursprünglich für eine Wiener Zeitung verfasst worden sind. Darin gehe es um ihre im Nationalsozialismus ermordeten Angehörigen ebenso wie deren Mörder, unter denen sie dann ihr Leben verbrachte. Auch der 11. September 2001 spiele eine Rolle. Insgesamt fasziniert den Kritiker, wie Ilse Aichinger in diesen knappen Texten mit wenigen Strichen ein Gesamtbild entstehen lässt, das sich in diesem Buch auch zu einer Art Lebensgeschichte fügt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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