»Fein, fast altmodisch, sehr genau und hinreißend erzählt« Elke Heidenreich, WDR.
Es ist das Jahr 1968, und die Welt des Schaufensterdekorateurs Stettler beginnt zu bröckeln. Jahrzehntelang lebt und arbeitet er nun schon für das alteingesessene Quatre Saisons, als ihm überraschend ein jüngerer Kollege zur Seite gestellt wird - ein Rivale, ein avisierter Nachfolger, ein Feind!
Stettler ist entsetzt. Die jungen Leute tragen Bluejeans und wissen nicht mehr, was sich gehört. Am Münsterturm hängt auf einmal eine Vietcong-Fahne. Immer mehr fühlt er sich bedroht, spioniert dem Rivalen sogar nach, sinnt auf Rache. Allein mit einer von ihm bewunderten Radiopianistin, Lotte Zerbst, wechselt er Briefe und fühlt sich nicht so verloren. Er hofft sogar auf eine Begegnung ...
Es ist das Jahr 1968, und die Welt des Schaufensterdekorateurs Stettler beginnt zu bröckeln. Jahrzehntelang lebt und arbeitet er nun schon für das alteingesessene Quatre Saisons, als ihm überraschend ein jüngerer Kollege zur Seite gestellt wird - ein Rivale, ein avisierter Nachfolger, ein Feind!
Stettler ist entsetzt. Die jungen Leute tragen Bluejeans und wissen nicht mehr, was sich gehört. Am Münsterturm hängt auf einmal eine Vietcong-Fahne. Immer mehr fühlt er sich bedroht, spioniert dem Rivalen sogar nach, sinnt auf Rache. Allein mit einer von ihm bewunderten Radiopianistin, Lotte Zerbst, wechselt er Briefe und fühlt sich nicht so verloren. Er hofft sogar auf eine Begegnung ...
Sulzers Roman ist gescheit und feinfühlig, präzise in der Sprache und wunderbar erzählt. Ruth von Gunten Schweizer Revue. Die Zeitschrift für Auslandschweizer 20191101
Ein Mann alter Schule
Der Schweizer Autor Alain Claude Sulzer erzählt von einem Schaufensterdekorateur, der von der neuen Zeit überrollt wird
Unser Blick zurück auf die 1968er-Bewegung ist vorwiegend nostalgisch: Zeitzeugen erinnern sich im Jubiläumsdekadenrhythmus wehmütig daran, wie jung sie damals waren. Der Schweizer Alain Claude Sulzer wählt in seinem neuen Roman „Unhaltbare Zustände“ einen anderen Zugang und einen Helden, den ’68 mit voller Wucht erwischt – und zwar von vorne. Für ihn, den Mann alter Schule, ist die ganze Sache verwirrend, unbegreiflich, abstoßend. Die langen Haare, die nackte Haut, die unverschämten Forderungen!
Robert Stettler ist 58. Solange er denken kann, gestaltet er die Schaufenster des „Quatre Saisons“, des größten Warenhauses in Bern. Ein Junggeselle mit festen Gewohnheiten, ohne Verwandtschaft, ohne Freunde, der ganz für seine Arbeit lebt und das Ansehen, das sie genießt. Dann wird ein junger Kollege eingestellt. Dieser Bleicher sei der „frische Wind“, den das Warenhaus brauche, erklärt ihm sein Chef. Tatsächlich machen Bleichers Schaufenster Furore; besonders die Erfindung von „lebenden Bildern“ – Schauspielschüler räkeln sich in der Sommerdekoration – gilt als Revolution des Reklamewesens, große Magazine berichten weltweit.
Stettler ist klar: Er gehört nun zum alten Eisen; in solchen Formulierungen lässt ihn der Autor denken. Er ist ein Konservativer, und das ist auch sein Autor. Alain Claude Sulzer baut gern lange Satzperioden und hängt immer noch einen Relativsatz dran, wenn man den Punkt schon zu sehen meint (oder ersehnt). Er gebraucht Wendungen wie „das Zeitliche segnen“, „dem Vergessen anheimfallen“, Klischees wie die „waschechte Pariserin“ oder bildet Sätze wie „Die Herzen der Anwesenden hatten Feuer gefangen“.
Kurz, Sulzers Prosa klingt, als sei sie vor 1968 geschrieben, vielleicht von einem Autor Jahrgang 1910, wie sein Schaufensterdekorateur. Es ist eine Prosa mit Patina, und sie passt seinem Helden wie der geliebte Mantel, der durch jahrelangen Gebrauch fadenscheinig geworden ist. Sie schreitet im gemächlichen Schritt voran, nur in wenigen Szenen zum Trab beschleunigt. Rhythmus und Vokabular verhalten sich kongenial zum Helden, von dem es heißt, als er schließlich alle Brücken abbricht: „Man würde Stettler nichts nachsagen können.“
Auch Sulzer kann man nichts nachsagen, „Unhaltbare Zustände“ ist die perfekte Rekonstruktion eines Denkens und Fühlens, das wir uns kaum mehr vorstellen können, obwohl gerade mal fünfzig Jahre vergangen sind. Wunderbar getroffen etwa Stettlers Überlegung, ob er beim Erkundungsbesuch in „Amüsierlokalen“ seinen Hut mitnehmen soll (nein, denn dort gibt es sicher keine Hutablage, und an einen Haken hängen möchte er ihn nicht). Oder als er in ein Homolokal gerät, „einen Ort, für den er gar kein Wort hatte“. Wohl aber für die Besucher – es sind „Perverse“.
Sulzer nimmt zu diesem Helden eine geschmeidige Erzählhaltung ein, zwischen taktvoller Beobachtung und dezenter Einfühlung. Glaubhaft die Panik, die ausbricht, als die auf Gewohnheit und Anerkennung gegründete Existenz erschüttert wird. Aggression durchstößt die dünne Schicht Wohlanständigkeit. Die Persönlichkeit zerfällt. Stettler belauert Bleicher, sucht Verfehlungen aufzuspüren, schreibt gar einen anonymen Denunziationsbrief (den er allerdings nicht abschickt) und entschließt sich am Ende, Bleichers Installation zu „schänden“.
Alain Claude Sulzer hat sich auch in früheren Romanen gern in vergangene Verhältnisse versetzt. Er beherrscht das raunende Imperfekt, das mit der Vorgeschichte des Warenhauses und dem Exkurs zu den prächtigen Pariser Vorläufer zum raunenden Plusquamperfekt wird. Wer will, kann die Geschichte als Parabel lesen, als Gleichnis auf den Wandel, der sich Fortschritt nennt und manches Erhaltenswerte unter sich begräbt.
Auch das Warenhaus war einmal eine Neuerung und hat kleine Geschäfte vernichtet. In jenen 1968er-Jahren ist es bereits selber bedroht von den Discountern. Und auch Bleicher, dem Mann, der Werbung zur Kunst erklärt und das Happening ins Schaufenster trägt, ist bewusst, dass solche Effekte zwar knallen, aber auch schnell verpuffen.
„Unhaltbare Zustände“ wäre ein Novellenstoff, wenn Sulzer nicht eine Parallelhandlung eingeführt hätte. Er gibt Stettler eine Seelenverwandte, die Radiopianistin Lotte Zerbst (inspiriert wohl von Maria Bergmann, Rundfunkpianistin beim einstigen Südwestfunk), ein ebenso schüchternes, tugendhaftes, einsames Wesen wie er. Sie wechseln Briefe, hoffen auf eine Begegnung. Damit tut der Autor aber des guten Alten eine Spur zu viel. Freunde sorgfältig gebauter Prosa, historisch informierter Atmosphäre und plausibler Figurenpsychologie, also gut geschriebener Literatur alter Machart, sind indes mit diesem Roman glänzend bedient.
MARTIN EBEL
Alain Claude Sulzer: Unhaltbare Zustände. Roman. Galiani Berlin Verlag, Berlin 2019. 266 S., 22 Euro.
Soll man zum Erkundungsbesuch
in Amüsierlokalen
den Hut mitnehmen?
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Schweizer Autor Alain Claude Sulzer erzählt von einem Schaufensterdekorateur, der von der neuen Zeit überrollt wird
Unser Blick zurück auf die 1968er-Bewegung ist vorwiegend nostalgisch: Zeitzeugen erinnern sich im Jubiläumsdekadenrhythmus wehmütig daran, wie jung sie damals waren. Der Schweizer Alain Claude Sulzer wählt in seinem neuen Roman „Unhaltbare Zustände“ einen anderen Zugang und einen Helden, den ’68 mit voller Wucht erwischt – und zwar von vorne. Für ihn, den Mann alter Schule, ist die ganze Sache verwirrend, unbegreiflich, abstoßend. Die langen Haare, die nackte Haut, die unverschämten Forderungen!
Robert Stettler ist 58. Solange er denken kann, gestaltet er die Schaufenster des „Quatre Saisons“, des größten Warenhauses in Bern. Ein Junggeselle mit festen Gewohnheiten, ohne Verwandtschaft, ohne Freunde, der ganz für seine Arbeit lebt und das Ansehen, das sie genießt. Dann wird ein junger Kollege eingestellt. Dieser Bleicher sei der „frische Wind“, den das Warenhaus brauche, erklärt ihm sein Chef. Tatsächlich machen Bleichers Schaufenster Furore; besonders die Erfindung von „lebenden Bildern“ – Schauspielschüler räkeln sich in der Sommerdekoration – gilt als Revolution des Reklamewesens, große Magazine berichten weltweit.
Stettler ist klar: Er gehört nun zum alten Eisen; in solchen Formulierungen lässt ihn der Autor denken. Er ist ein Konservativer, und das ist auch sein Autor. Alain Claude Sulzer baut gern lange Satzperioden und hängt immer noch einen Relativsatz dran, wenn man den Punkt schon zu sehen meint (oder ersehnt). Er gebraucht Wendungen wie „das Zeitliche segnen“, „dem Vergessen anheimfallen“, Klischees wie die „waschechte Pariserin“ oder bildet Sätze wie „Die Herzen der Anwesenden hatten Feuer gefangen“.
Kurz, Sulzers Prosa klingt, als sei sie vor 1968 geschrieben, vielleicht von einem Autor Jahrgang 1910, wie sein Schaufensterdekorateur. Es ist eine Prosa mit Patina, und sie passt seinem Helden wie der geliebte Mantel, der durch jahrelangen Gebrauch fadenscheinig geworden ist. Sie schreitet im gemächlichen Schritt voran, nur in wenigen Szenen zum Trab beschleunigt. Rhythmus und Vokabular verhalten sich kongenial zum Helden, von dem es heißt, als er schließlich alle Brücken abbricht: „Man würde Stettler nichts nachsagen können.“
Auch Sulzer kann man nichts nachsagen, „Unhaltbare Zustände“ ist die perfekte Rekonstruktion eines Denkens und Fühlens, das wir uns kaum mehr vorstellen können, obwohl gerade mal fünfzig Jahre vergangen sind. Wunderbar getroffen etwa Stettlers Überlegung, ob er beim Erkundungsbesuch in „Amüsierlokalen“ seinen Hut mitnehmen soll (nein, denn dort gibt es sicher keine Hutablage, und an einen Haken hängen möchte er ihn nicht). Oder als er in ein Homolokal gerät, „einen Ort, für den er gar kein Wort hatte“. Wohl aber für die Besucher – es sind „Perverse“.
Sulzer nimmt zu diesem Helden eine geschmeidige Erzählhaltung ein, zwischen taktvoller Beobachtung und dezenter Einfühlung. Glaubhaft die Panik, die ausbricht, als die auf Gewohnheit und Anerkennung gegründete Existenz erschüttert wird. Aggression durchstößt die dünne Schicht Wohlanständigkeit. Die Persönlichkeit zerfällt. Stettler belauert Bleicher, sucht Verfehlungen aufzuspüren, schreibt gar einen anonymen Denunziationsbrief (den er allerdings nicht abschickt) und entschließt sich am Ende, Bleichers Installation zu „schänden“.
Alain Claude Sulzer hat sich auch in früheren Romanen gern in vergangene Verhältnisse versetzt. Er beherrscht das raunende Imperfekt, das mit der Vorgeschichte des Warenhauses und dem Exkurs zu den prächtigen Pariser Vorläufer zum raunenden Plusquamperfekt wird. Wer will, kann die Geschichte als Parabel lesen, als Gleichnis auf den Wandel, der sich Fortschritt nennt und manches Erhaltenswerte unter sich begräbt.
Auch das Warenhaus war einmal eine Neuerung und hat kleine Geschäfte vernichtet. In jenen 1968er-Jahren ist es bereits selber bedroht von den Discountern. Und auch Bleicher, dem Mann, der Werbung zur Kunst erklärt und das Happening ins Schaufenster trägt, ist bewusst, dass solche Effekte zwar knallen, aber auch schnell verpuffen.
„Unhaltbare Zustände“ wäre ein Novellenstoff, wenn Sulzer nicht eine Parallelhandlung eingeführt hätte. Er gibt Stettler eine Seelenverwandte, die Radiopianistin Lotte Zerbst (inspiriert wohl von Maria Bergmann, Rundfunkpianistin beim einstigen Südwestfunk), ein ebenso schüchternes, tugendhaftes, einsames Wesen wie er. Sie wechseln Briefe, hoffen auf eine Begegnung. Damit tut der Autor aber des guten Alten eine Spur zu viel. Freunde sorgfältig gebauter Prosa, historisch informierter Atmosphäre und plausibler Figurenpsychologie, also gut geschriebener Literatur alter Machart, sind indes mit diesem Roman glänzend bedient.
MARTIN EBEL
Alain Claude Sulzer: Unhaltbare Zustände. Roman. Galiani Berlin Verlag, Berlin 2019. 266 S., 22 Euro.
Soll man zum Erkundungsbesuch
in Amüsierlokalen
den Hut mitnehmen?
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de