Diese besondere Anthologie ist ein hehres Liebesbekenntnis der Dichter der Gegenwart zu ihren großen Vorfahren im Mittelalter. Lyriker wie Monika Rinck oder Joachim Sartorius, Durs Grünbein oder Nora Gomringer haben Minnelieder aus dem Mittelhochdeutschen übertragen. Die Herausgeber Jan Wagner und Tristan Marquardt laden damit ein, alle großen Dichter des Hochmittelalters kennenzulernen. In diesen Gedichten betreten wir nicht nur ein über achthundert Jahre altes Neuland, eine Welt, deren Begehren uns nah und fremd zugleich erscheint. Die fantastisch unterschiedlichen Übersetzungsweisen durch über sechzig heutige Dichter zeigen darüber hinaus, was für Ideen die Gegenwartslyrik heute prägen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2017Was brennt denn da so schön?
Wenn das mal nicht die Liebe ist: Siebzig deutsche Lyriker der Gegenwart wenden sich den Minneliedern des Mittelalters zu - und dichten sie nach.
Von Tilman Spreckelsen
Kann mir einer sagen, was Liebe ist? / Ich weiß davon, doch wüsste gerne mehr. / Wer besser als ich sich hier auskennt, / erkläre mir, warum nur sie so brennt. / Liebe ist Liebe, wenn sie Balsam ist. / Ich nenn sie nicht Liebe, brennt sie sehr, / und weiß nicht, wie dann sie heißen soll." Die Antwort bleibt der Dichter Joachim Sartorius bis zum Ende - es folgen noch vier weitere Strophen - schuldig, auch wenn seine Versuche, die Liebe positiv zu bestimmen, recht hartnäckig sind. Er spricht von Gleichheit des Gefühls auf beiden Seiten, sonst sei es eben keine Liebe, und während man sich noch über diesen Idealismus die Augen reibt, fährt er, nun an die Geliebte gewandt, fort: Seinem öffentlichen Lob ihrer Vorzüge verdanke sie doch überhaupt nur, dass auch andere sie bewunderten, und ob ihre offensichtliche Kälte daher nicht eigentlich schnöder Undank sei?
Sartorius ist einer von knapp siebzig Autoren, die mit je einem bis fünf Gedichten in "Unmögliche Liebe" versammelt sind, darunter Durs Grünbein, Marcel Beyer, Monika Rinck oder Nico Bleutge, und so mag man den Sammelband mit einigem Recht als eine Art Schaufenster der deutschen Gegenwartslyrik bezeichnen. Zugleich aber erlaubt er auch den Blick auf eine längst vergangene Zeit, da sämtliche hier versammelten Texte Nachdichtungen mittelhochdeutscher Lyrik sind, von Texten also, die zwischen etwa 850 und 570 Jahre alt sind - Sartorius etwa wählte sich "Saget mir ieman, waz ist minne?" zur Vorlage, ein Lied Walthers von der Vogelweide.
Es gehe darum, den mittelalterlichen Gedichten "nicht nur dem Wortsinn" nach treu zu bleiben, "sondern auch der Sprachmusik, dem Esprit des Originals", schreibt der Lyriker Jan Wagner, einer der beiden Herausgeber des Bands, in seinem Vorwort, der Peter Rühmkorfs Leistungen auf diesem Gebiet lobt und die Dieter Kühns seltsamerweise verschweigt. Was "Esprit" in diesem speziellen Fall heißen kann, führt Wagners Mitherausgeber, der Lyriker und studierte Mediävist Tristan Marquardt in einer kurzen Einführung in den Minnesang aus: "In der besungenen Frau vereinen sich die höchsten Werte der Gesellschaft und alle Gründe für Begehren", schreibt Marquardt, dadurch sei die Dame aber auch unerreichbar, und so erkläre sich die "Unmögliche Liebe", der Titel des Bandes. Ein beträchtlicher Anteil der hier abgedruckten Lieder illustriert das sehr anschaulich.
Dass dies allerdings kein ehernes Gesetz, sondern ein Konzept ist, von dem aus sich auch inhaltliche Varianten bis hin zum schieren Gegenteil des keuschen Anschmachtens und Besingens entwickeln lassen, wird spätestens beim Blick auf die mittelalterlichen wie neuzeitlichen Texte dieses Bandes deutlich: Etwa in einem, wiederum von Walther von der Vogelweide gedichteten, Lob der Frau von niederem Stand - "was sie auch sagen, dir bin ich hold / und nehme deinen gläsernen ring als einer königin gold", bringt Ulrike Draesner Walthers Lied in heutiges Deutsch. Oder in den sogenannten Tageliedern, die morgendliche Gespräche zwischen Liebenden wiedergeben, die sich nach der Liebesnacht darüber verständigen, ob es schon Zeit sei, sich zu trennen. In Walthers berühmtem "Unter der linden", in dem ein Mädchen das Geheimnis ihrer Liebeserfüllung nur mit ihrem Freund und der Nachtigall ("Tandaradei") teilt. Oder im Lied "Sol ich disen sumer lang" eines Gottfried von Neifen, in dem eine junge Frau lieber tanzen gehen als sich um ihr Kind kümmern will, woraus Nora Gomringer dann den lustigsten Beitrag des ganzen Bandes macht.
Weil das Buch zweisprachig ist, lässt sich die Spannung zwischen der mittelhochdeutschen und der modernen Fassung jederzeit ermessen - manchmal ist das ein Segen, wenn nämlich die heutigen Dichter sich meilenweit von der Vorlage entfernen, wenn sie anbiedernd Vokabeln wie "loser", "posten" oder "dissen" verwenden und damit ihrem eigenen Werk den Verfallsstempel schon jetzt auf die Stirn drücken. Oder wenn sie schlicht so dunkel in ihrer Sprache sind, dass nur der Blick ins Original aus dem dreizehnten Jahrhundert zu verstehen hilft, was unser Zeitgenosse meint: "Du irgend mein, ich dir / Verlass, Verlass sei dir. / In meine Brust / beschlossen, / Schlüsselchen - ists hin. / Wirst noch und je darin." Die Vorlage ist das anonym überlieferte, zauberhafte Liebesgedicht "Du bist mîn, ih bin dîn".
Die Nachdichter widmen sich hingebungsvoll auch den weniger bekannten Minnesängern - wer hätte schon von Gottfried von Neifen gehört, Eberhard von Cersne, Otto von Botenlauben? Von Autoren mit so aparten noms de plume wie "Der Taler", "Der wilde Alexander", "Der Marner" oder "Muskatblut"? Dass eine ganze Reihe nahezu kanonischer Werke der mittelhochdeutschen Lyrik fehlen, wird man darüber leicht verschmerzen. Schade ist höchstens, dass hier, wenn es in der Sammlung schon so ausdrücklich um Liebe, gar um auf Werben, Zurückweisen und Entsagen gebaute höfische Liebeskonzepte geht, ein geradezu entlarvendes Lied des Kürenbergers fehlt, den man darin als frühesten Macho der deutschen Literatur kennenlernt. "Wîp unde federspil", so heißt das Lied, "Frauen und Vögel", die nämlich eines gemeinsam hätten: Wenn sich der Mann darauf verstehe, sie abzurichten, dann täten sie ihm seinen Willen. Er, der Sänger, erinnere sich jedenfalls an eine entsprechende Geschichte, und das lasse ihm das Herz noch immer höher schlagen. Derlei erotische Prahlereien erklären ganz gut, warum die Diskretion in den Minnegedichten sonst so groß geschrieben wird.
Nicht immer geht es um Liebe, immer aber geht es in den Gedichten, die uns noch heute treffen, um etwas Grundsätzliches, um Erfahrungen, die völlig zeitlos sind: "Weh, wo sind entschwunden alle meine Jahr? / Hab mein Leben ich geträumt oder ist es wahr?", so beginnt ein Lied des hier zu Recht umfangreich vertretenen Walters von der Vogelweide, in dem ein alter Mensch kaum noch Zugang findet zum eigenen, jüngeren Ich, von dem ihm nur eine schemenhafte Erinnerung geblieben ist. Und wenn die Jugend tatsächlich nur ein Traum war? "Nun bin ich aufgewacht", das wenigstens steht fest, es unterbricht den Vers wie ein Donnerhall: "Und mir ist unbekannt / was mir so vertraut war wie meine andre Hand. / Leut und Land, darinnen ich Kind gewesen bin / sind mir fremd geworden wie es Lügen sind. / Meine Spielgefährten sind träge nun und alt: Das Feld, es ist bestellt, gerodet ist der Wald."
Kaum glaublich, dass man dies jemals ungerührt lesen könnte, dieses leise zitternde Unbehagen des Sängers an einer gewandelten Welt, die er nicht mehr versteht, während er die Zeichen des Verfalls nur an den anderen wahrnimmt, den träg gewordenen Genossen. Alt, ich? Einen solchen Text muss niemand groß aktualisieren, selbst wenn das Gedicht wie dieses achthundert Jahre alt ist, und die Übertragung von Richard Pietraß stellt sich mit ruhiger Gewissheit in den Dienst der Vorlage.
Dabei kommt es gar nicht darauf an, die vorgefundene Form sklavisch zu kopieren, wenn man sie etwa - wie Ulf Stolterfoht in der Nachdichtung von "ich zôch mir einen valken" - produktiv abwandelt. Denn der moderne Autor verkürzt die letzte Zeile der ersten Strophe just in dem Moment, in dem der geliebte Falke nach Jahren der Ausbildung nun festlich geschmückt aufsteigt, der Blick ihm sehnsüchtig folgt und schließlich ebenso ins Leere geht wie der Rhythmus des Gedichts.
Wovon aber ist die Rede, warum steht das Falkenlied in dieser Sammlung, in der es doch ausdrücklich um Liebe gehen soll? Nicht nur wegen der letzten Zeile, in der es heißt, dass Gott die getrennten Liebenden zusammenführen möge, sondern weil schon zuvor der Falke leicht als ein stolzer Ritter zu identifizieren ist, der ausgebildet und herausgeputzt wird, damit er dann "in anderiu lant" Ruhm und Ehre erwerben kann. Aber wem? Sich selbst, natürlich, zugleich soll er auch denjenigen Ehre machen, die ihn da jahrelang zu dem formten, der er nun ist.
Das rührt an einen zentralen Punkt im mittelalterlichen Liebeskonzept, der in der Einleitung des Bandes etwas unterbelichtet bleibt: Denn der liebende Ritter, dem die erotische Erfüllung versagt bleibt, profitiert von seiner Hinwendung, indem ihn diese zu einem besseren, "höfischeren" Menschen macht.
In einem Gedicht Albrechts von Johansdorf fragt deshalb ein kläglich jammernder Ritter seine Dame, ob ihm seine jahrelange Hingabe denn gar keinen Lohn eintrüge? Doch, sagt sie, und Hans Thill dichtet die Antwort nach: "Ihr habt nun viel gelernt und seid dabei noch guter Dinge." Hier allerdings ist das Original einmal präziser und schöner: "Das ir dest werder sind dâ bî hôhgemuot."
Tristan Marquardt, Jan Wagner (Hrsg.): "Unmögliche Liebe". Die Kunst des Minnesangs in neuen Übertragungen.
Hanser Verlag, München 2017. 304 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn das mal nicht die Liebe ist: Siebzig deutsche Lyriker der Gegenwart wenden sich den Minneliedern des Mittelalters zu - und dichten sie nach.
Von Tilman Spreckelsen
Kann mir einer sagen, was Liebe ist? / Ich weiß davon, doch wüsste gerne mehr. / Wer besser als ich sich hier auskennt, / erkläre mir, warum nur sie so brennt. / Liebe ist Liebe, wenn sie Balsam ist. / Ich nenn sie nicht Liebe, brennt sie sehr, / und weiß nicht, wie dann sie heißen soll." Die Antwort bleibt der Dichter Joachim Sartorius bis zum Ende - es folgen noch vier weitere Strophen - schuldig, auch wenn seine Versuche, die Liebe positiv zu bestimmen, recht hartnäckig sind. Er spricht von Gleichheit des Gefühls auf beiden Seiten, sonst sei es eben keine Liebe, und während man sich noch über diesen Idealismus die Augen reibt, fährt er, nun an die Geliebte gewandt, fort: Seinem öffentlichen Lob ihrer Vorzüge verdanke sie doch überhaupt nur, dass auch andere sie bewunderten, und ob ihre offensichtliche Kälte daher nicht eigentlich schnöder Undank sei?
Sartorius ist einer von knapp siebzig Autoren, die mit je einem bis fünf Gedichten in "Unmögliche Liebe" versammelt sind, darunter Durs Grünbein, Marcel Beyer, Monika Rinck oder Nico Bleutge, und so mag man den Sammelband mit einigem Recht als eine Art Schaufenster der deutschen Gegenwartslyrik bezeichnen. Zugleich aber erlaubt er auch den Blick auf eine längst vergangene Zeit, da sämtliche hier versammelten Texte Nachdichtungen mittelhochdeutscher Lyrik sind, von Texten also, die zwischen etwa 850 und 570 Jahre alt sind - Sartorius etwa wählte sich "Saget mir ieman, waz ist minne?" zur Vorlage, ein Lied Walthers von der Vogelweide.
Es gehe darum, den mittelalterlichen Gedichten "nicht nur dem Wortsinn" nach treu zu bleiben, "sondern auch der Sprachmusik, dem Esprit des Originals", schreibt der Lyriker Jan Wagner, einer der beiden Herausgeber des Bands, in seinem Vorwort, der Peter Rühmkorfs Leistungen auf diesem Gebiet lobt und die Dieter Kühns seltsamerweise verschweigt. Was "Esprit" in diesem speziellen Fall heißen kann, führt Wagners Mitherausgeber, der Lyriker und studierte Mediävist Tristan Marquardt in einer kurzen Einführung in den Minnesang aus: "In der besungenen Frau vereinen sich die höchsten Werte der Gesellschaft und alle Gründe für Begehren", schreibt Marquardt, dadurch sei die Dame aber auch unerreichbar, und so erkläre sich die "Unmögliche Liebe", der Titel des Bandes. Ein beträchtlicher Anteil der hier abgedruckten Lieder illustriert das sehr anschaulich.
Dass dies allerdings kein ehernes Gesetz, sondern ein Konzept ist, von dem aus sich auch inhaltliche Varianten bis hin zum schieren Gegenteil des keuschen Anschmachtens und Besingens entwickeln lassen, wird spätestens beim Blick auf die mittelalterlichen wie neuzeitlichen Texte dieses Bandes deutlich: Etwa in einem, wiederum von Walther von der Vogelweide gedichteten, Lob der Frau von niederem Stand - "was sie auch sagen, dir bin ich hold / und nehme deinen gläsernen ring als einer königin gold", bringt Ulrike Draesner Walthers Lied in heutiges Deutsch. Oder in den sogenannten Tageliedern, die morgendliche Gespräche zwischen Liebenden wiedergeben, die sich nach der Liebesnacht darüber verständigen, ob es schon Zeit sei, sich zu trennen. In Walthers berühmtem "Unter der linden", in dem ein Mädchen das Geheimnis ihrer Liebeserfüllung nur mit ihrem Freund und der Nachtigall ("Tandaradei") teilt. Oder im Lied "Sol ich disen sumer lang" eines Gottfried von Neifen, in dem eine junge Frau lieber tanzen gehen als sich um ihr Kind kümmern will, woraus Nora Gomringer dann den lustigsten Beitrag des ganzen Bandes macht.
Weil das Buch zweisprachig ist, lässt sich die Spannung zwischen der mittelhochdeutschen und der modernen Fassung jederzeit ermessen - manchmal ist das ein Segen, wenn nämlich die heutigen Dichter sich meilenweit von der Vorlage entfernen, wenn sie anbiedernd Vokabeln wie "loser", "posten" oder "dissen" verwenden und damit ihrem eigenen Werk den Verfallsstempel schon jetzt auf die Stirn drücken. Oder wenn sie schlicht so dunkel in ihrer Sprache sind, dass nur der Blick ins Original aus dem dreizehnten Jahrhundert zu verstehen hilft, was unser Zeitgenosse meint: "Du irgend mein, ich dir / Verlass, Verlass sei dir. / In meine Brust / beschlossen, / Schlüsselchen - ists hin. / Wirst noch und je darin." Die Vorlage ist das anonym überlieferte, zauberhafte Liebesgedicht "Du bist mîn, ih bin dîn".
Die Nachdichter widmen sich hingebungsvoll auch den weniger bekannten Minnesängern - wer hätte schon von Gottfried von Neifen gehört, Eberhard von Cersne, Otto von Botenlauben? Von Autoren mit so aparten noms de plume wie "Der Taler", "Der wilde Alexander", "Der Marner" oder "Muskatblut"? Dass eine ganze Reihe nahezu kanonischer Werke der mittelhochdeutschen Lyrik fehlen, wird man darüber leicht verschmerzen. Schade ist höchstens, dass hier, wenn es in der Sammlung schon so ausdrücklich um Liebe, gar um auf Werben, Zurückweisen und Entsagen gebaute höfische Liebeskonzepte geht, ein geradezu entlarvendes Lied des Kürenbergers fehlt, den man darin als frühesten Macho der deutschen Literatur kennenlernt. "Wîp unde federspil", so heißt das Lied, "Frauen und Vögel", die nämlich eines gemeinsam hätten: Wenn sich der Mann darauf verstehe, sie abzurichten, dann täten sie ihm seinen Willen. Er, der Sänger, erinnere sich jedenfalls an eine entsprechende Geschichte, und das lasse ihm das Herz noch immer höher schlagen. Derlei erotische Prahlereien erklären ganz gut, warum die Diskretion in den Minnegedichten sonst so groß geschrieben wird.
Nicht immer geht es um Liebe, immer aber geht es in den Gedichten, die uns noch heute treffen, um etwas Grundsätzliches, um Erfahrungen, die völlig zeitlos sind: "Weh, wo sind entschwunden alle meine Jahr? / Hab mein Leben ich geträumt oder ist es wahr?", so beginnt ein Lied des hier zu Recht umfangreich vertretenen Walters von der Vogelweide, in dem ein alter Mensch kaum noch Zugang findet zum eigenen, jüngeren Ich, von dem ihm nur eine schemenhafte Erinnerung geblieben ist. Und wenn die Jugend tatsächlich nur ein Traum war? "Nun bin ich aufgewacht", das wenigstens steht fest, es unterbricht den Vers wie ein Donnerhall: "Und mir ist unbekannt / was mir so vertraut war wie meine andre Hand. / Leut und Land, darinnen ich Kind gewesen bin / sind mir fremd geworden wie es Lügen sind. / Meine Spielgefährten sind träge nun und alt: Das Feld, es ist bestellt, gerodet ist der Wald."
Kaum glaublich, dass man dies jemals ungerührt lesen könnte, dieses leise zitternde Unbehagen des Sängers an einer gewandelten Welt, die er nicht mehr versteht, während er die Zeichen des Verfalls nur an den anderen wahrnimmt, den träg gewordenen Genossen. Alt, ich? Einen solchen Text muss niemand groß aktualisieren, selbst wenn das Gedicht wie dieses achthundert Jahre alt ist, und die Übertragung von Richard Pietraß stellt sich mit ruhiger Gewissheit in den Dienst der Vorlage.
Dabei kommt es gar nicht darauf an, die vorgefundene Form sklavisch zu kopieren, wenn man sie etwa - wie Ulf Stolterfoht in der Nachdichtung von "ich zôch mir einen valken" - produktiv abwandelt. Denn der moderne Autor verkürzt die letzte Zeile der ersten Strophe just in dem Moment, in dem der geliebte Falke nach Jahren der Ausbildung nun festlich geschmückt aufsteigt, der Blick ihm sehnsüchtig folgt und schließlich ebenso ins Leere geht wie der Rhythmus des Gedichts.
Wovon aber ist die Rede, warum steht das Falkenlied in dieser Sammlung, in der es doch ausdrücklich um Liebe gehen soll? Nicht nur wegen der letzten Zeile, in der es heißt, dass Gott die getrennten Liebenden zusammenführen möge, sondern weil schon zuvor der Falke leicht als ein stolzer Ritter zu identifizieren ist, der ausgebildet und herausgeputzt wird, damit er dann "in anderiu lant" Ruhm und Ehre erwerben kann. Aber wem? Sich selbst, natürlich, zugleich soll er auch denjenigen Ehre machen, die ihn da jahrelang zu dem formten, der er nun ist.
Das rührt an einen zentralen Punkt im mittelalterlichen Liebeskonzept, der in der Einleitung des Bandes etwas unterbelichtet bleibt: Denn der liebende Ritter, dem die erotische Erfüllung versagt bleibt, profitiert von seiner Hinwendung, indem ihn diese zu einem besseren, "höfischeren" Menschen macht.
In einem Gedicht Albrechts von Johansdorf fragt deshalb ein kläglich jammernder Ritter seine Dame, ob ihm seine jahrelange Hingabe denn gar keinen Lohn eintrüge? Doch, sagt sie, und Hans Thill dichtet die Antwort nach: "Ihr habt nun viel gelernt und seid dabei noch guter Dinge." Hier allerdings ist das Original einmal präziser und schöner: "Das ir dest werder sind dâ bî hôhgemuot."
Tristan Marquardt, Jan Wagner (Hrsg.): "Unmögliche Liebe". Die Kunst des Minnesangs in neuen Übertragungen.
Hanser Verlag, München 2017. 304 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"... wer immer sich auch nur von ferne für Lyrik interessiert, sollte sich das Spektakel nicht entgehen lassen." Hans-Herbert Räkel, Süddeutsche Zeitung, 21.10.17
"Es ist ein großes Abenteuer, die Elementartexte der deutschen Dichtung zu erkunden und sich von dieser vorzüglichen, an Entdeckungen überreichen Anthologie zu den Quellen der modernen Dichtkunst führen zu lassen. Die Poesie des Mittelalters und die Lyrik der Gegenwart geraten hier in ein außerordentlich lebhaftes Gespräch, in dem sämtliche Möglichkeiten dichterischen Sprechens durchbuchstabiert werden." Michael Braun, ZEIT online, 01.10.17
"Es ist ein großes Abenteuer, die Elementartexte der deutschen Dichtung zu erkunden und sich von dieser vorzüglichen, an Entdeckungen überreichen Anthologie zu den Quellen der modernen Dichtkunst führen zu lassen. Die Poesie des Mittelalters und die Lyrik der Gegenwart geraten hier in ein außerordentlich lebhaftes Gespräch, in dem sämtliche Möglichkeiten dichterischen Sprechens durchbuchstabiert werden." Michael Braun, ZEIT online, 01.10.17