Produktdetails
  • Verlag: Unionsverlag
  • ISBN-13: 9783293201415
  • ISBN-10: 3293201415
  • Artikelnr.: 24719261
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.11.1997

Pionierhemd mit Rentierhaaren
Von der Urmutter zur Partei: Juri Rytchëus Roman "Unna"

Wenn Unna die Wahl hätte, würde sie lieber nicht vom Affen abstammen. Beklommen blickt das Tschuktschen-Mädchen auf die Grafik im Museum, auf der die Evolution des Menschen dargestellt ist. Ganz links, dieses zottige gebückte Wesen am Anfang der Entwicklung, erinnert sie doch sehr an die legendären "Teryki", werwolfähnliche Geschöpfe, die auf Eisschollen im Meer driften. Doch der kleine Awgust beruhigt sie: "Wir, das ist etwas ganz anderes, wir stammen von der Wal-Urmutter ab."

Juri Rytchëu wurde im Jahre 1930 in einer kleinen Siedlung auf der Tschuktschenhalbinsel im Nordosten Sibiriens geboren. In seinen früheren Büchern waren die Teryki und die Wale Titelhelden. Daß er sie in seinem neuesten Werk ins Museum verbannt, hat seine Gründe. "Unna" verläßt die Welt der Rentierzüchter und Walfänger und wagt sich ins Reich der "Weißen", der Russen. Hier und da stößt der Leser auf eine Jaranga, eine der Rundhütten der Tschuktschen, irgendwo köchelt ein Topf Rentierfleisch über der Flamme, und die Fischer salzen wie immer Lachsbäuche auf Vorrat. Aber der Schnee ist gelb geworden von den Kesselhütten der Städte. Nicht die Gesänge der Schamanen begleiten die Geschichte, sondern die rauhe Stimme des Liedermachers Wladimir Wyssotzki, der die Zerrissenheit der Sowjetgesellschaft herausschreit.

Wir schreiben die sechziger Jahre. Im Sowjetreich herrscht eisiger Stillstand, nur die Propagandamaschinen laufen heiß. Auch auf Tschukotka, der östlichsten Spitze Sibiriens, ist inzwischen der erste Tschekist aufgetaucht. Nach vielversprechenden Anfängen in den Zwanzigern - die ersten Bolschewiken brachten den Völkern des Nordens eine eigene Schrift, Bildung und Hygiene - mündet die Nationalitätenpolitik in blanke Unterdrückung. Die Ureinwohner werden gezwungen, ihr Nomadenleben aufzugeben. Die Bürokratie nimmt ihnen die Kinder weg und steckt sie in Internate. Eines dieser verlorenen Kinder ist Unna, deren Name übersetzt "Tundrabeere" heißt.

Juri Rytchëu hat sein Buch 1989 fertiggestellt, acht Jahre später ist es nun auf deutsch erschienen. Schon seit langem schreibt der Autor nicht mehr in seiner Muttersprache Tschuktschisch, sondern auf russisch. Rytchëu war nie ein kühner Kritiker der Sowjetgesellschaft, geschweige denn ein Dissident. In einem Interview sagte er: "Welchen Sinn hätte es gehabt, für die Schublade zu schreiben?"

"Unna", sein bisher kritischster Roman, ist ein Tryptichon: die Kindheit und Jugend der Tschuktschin, ihr politischer Höhenflug und ihr Abstieg zur Trinkerin werden nebeneinandergestellt. Die Geschichte beginnt zäh, die ersten Kapital sind offenkundig mit Blick auf ein westliches Publikum geschrieben. Rytchëu buchstabiert dem Leser Ereignisse aus der sowjetischen Geschichte nach, die in einem Anhang besser aufgehoben wären. Die Figuren - der unterwürfige Vater, ein Nachfahre von Puschkins "Postmeister", und die dicke Internatsaufseherin - haben so viele Konturen wie ein Stück Rentierleder. Unna verlernt im Internat ihre Muttersprache und ekelt sich schon bald beim Gedanken daran, "wie sie im weißen Pionierhemd im Fell-Polog (dem Schlafraum) mit den kratzigen Rentierhaaren schlafen würde".

Rasch begreift der Leser das ernste Anliegen Rytchëus: die sowjetische Gehirnwäsche anzuprangern. Er stimmt ihm aus voller Seele zu - und sehnt sich nach Abwechslung. Dann aber macht Unna Partei-Karriere, und das Buch nimmt eine aufregende Wendung. Nun wagt sich der Autor tief hinein in die Sowjethierarchie, wo der Tschuktschen-Zauber früherer Erzählungen nicht mehr wirkt: Die Legenden, die überwältigenden Naturbeschreibungen, die Exotik des Ureinwohner-Lebens, für die Rytchëu als Erzähler des Nordens mehr noch steht als Aitmatow im Süden, haben ausgedient.

Die Geschichte der Unna Owtowno Owto handelt nicht von ihrer gewaltsamen Entführung aus der Heimat, sondern von ihrer Verführung durch den schönen Schein der Propaganda. Schon als Kind liebte Unna die Aufmärsche und Fahnen im Pionierlager. Ihr Wunsch, in der Sowjetgesellschaft neue Wurzeln zu finden, ist übermächtig. Sie macht sich selbst zum willigen Werkzeug der Kommunisten. Als Studentin appelliert sie im Lokalfernsehen an die Völker des Nordens, "die Überreste der Urgesellschaft hinter sich zu lassen und zu Zeitgenossen fortschrittlicher Menschen" zu werden. Das kommt an.

Außerdem hilft ihr ein Befehl Moskaus, mehr Ureinwohner in die Partei zu integrieren: Unna, die "Quoten-Tschuktschin". Der falsche Glanz der Nomenklatura blendet sie. Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere fährt die Genossin aus dem Norden im schwarzen "Wolga", besitzt ein japanisches Tonbandgerät und verschenkt deutsche Rasierer mit Doppelklingen. Ganz am Ende, als sie längst auf dem Weg in die Gosse ist und Awgust ihr mit Mühe einen Job als Pförtnerin verschafft, seufzt sie: "Aber ich hatte doch so lange eine leitende Funktion!"

Ein Parteifunktionär macht ihr klar, daß eine Heirat mit dem von ihr angebeteten jüdischen Cellisten ihrer Karriere schaden wird. Da weint sie, reißt sich zusammen, läßt das gemeinsame Kind abtreiben und sieht ihren Geliebten nie wieder. Doch längst ist sie selbst zum Unsicherheitsfaktor geworden. Eine andere wird für den Obersten Sowjet nominiert. Sie schreitet ein, als der unangepaßte Awgust von Milizionären zusammengeschlagen wird, und verliert ihren Posten. Unna, die vorher kaum einen Tropfen zu sich genommen hat, beginnt zu saufen. In der Nacht von Breschnews Tod wankt sie betrunken hinaus in die arktische Kälte und erfriert.

Unna, das Tschuktschen-Kind, scheitert nicht, weil sie lieber in einer Einzimmerwohnung mit fließendem Wasser lebt als in der Jaranga. Rytchëu will die Zeit nicht zurückdrehen. Er selbst ist in der Tundra geboren und lebt inzwischen in St. Petersburg. Unna zerbricht an der Härte des Sowjetsystems, das ihr letztlich nicht nur die Aufgabe ihrer Kultur, sondern die Verachtung aller ethischen Werte und immer neue Lügen abverlangt. SONJA ZEKRI

Juri Rytchëu: "Unna". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Charlotte und Leonhard Kossuth. Unionsverlag, Zürich 1997. 240 S., geb., 29,- DM.

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»Ein treffender Buchumschlag für eine Geschichte, in der nicht nur Weltbilder zerbrechen!« Appenzeller Zeitung