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Ihr Vater ist für Katja immer ein Vorbild gewesen. Welches Entsetzen, als sie ihn in der Ausstellung "Verbrechen im Osten" auf einem Foto bei der Erschießung von Zivilisten zu erkennen glaubt. Katja bringt ihm den Katalog der Ausstellung, der dieses Bild jedoch nicht enthält, mit ins Seniorenheim. Sie hofft, dass er bei der Betrachtung der Fotos von selbst auf sein Verbrechen zu sprechen kommt. Widerwillig beginnt der alte Mann zu erzählen. Aber in ihm leben ganz andere Bilder ... Katja wird von den Erzählungen mitgerissen. Aber sie vergisst jenes Bild nicht. Als sie ihren Vater schließlich…mehr

Produktbeschreibung
Ihr Vater ist für Katja immer ein Vorbild gewesen. Welches Entsetzen, als sie ihn in der Ausstellung "Verbrechen im Osten" auf einem Foto bei der Erschießung von Zivilisten zu erkennen glaubt. Katja bringt ihm den Katalog der Ausstellung, der dieses Bild jedoch nicht enthält, mit ins Seniorenheim. Sie hofft, dass er bei der Betrachtung der Fotos von selbst auf sein Verbrechen zu sprechen kommt. Widerwillig beginnt der alte Mann zu erzählen. Aber in ihm leben ganz andere Bilder ... Katja wird von den Erzählungen mitgerissen. Aber sie vergisst jenes Bild nicht. Als sie ihren Vater schließlich damit konfrontiert, werden die unscharfen Bilder klar, die vermeintlich so scharfen vieldeutig.
Autorenporträt
Hahn, Ulla
Ulla Hahn wurde am 30. April 1945 in Brachthausen/Sauerland geboren und wuchs im Rheinland auf. Studium der Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie, Promotion. Lehraufträge an den Universitäten Hamburg, Bremen und Oldenburg, anschließend Redakteurin für Literatur beim Rundfunk in Bremen. Für ihre Lyrik wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2003

Auf dem Ringfinger ein Stein von blutroter Farbe
Dagegen, aber auch dabei: Ulla Hahn hat einen klugen Roman über die Notwendigkeit des Erinnerns verfaßt / Von Ernst Osterkamp

Es bleibt nicht mehr viel Zeit, um die Väter zu fragen, was sie im Krieg gemacht haben. Dr. Katja Wild, eine fünfzigjährige Studienrätin aus Hamburg, hat gewartet, bis ihr Vater 82 Jahre alt ist. Dann aber zwingt sie ein Bild - ein unscharfes Bild -, diese Frage zu stellen: 58 Jahre nach Kriegsende. Soeben ist ein neuer Krieg ausgebrochen, fern im Irak, und das gewährt zusätzliche Zeit, um mit dem Vater zu reden: "Kein Unterricht. Ausgefallen. Friedensdemo, du weißt schon. Haben wir gestern auf der Konferenz beschlossen." Hamburg im Frühjahr 2003, in der Kunsthalle ist eine Ausstellung mit den weltverloren-stillen Interieurs von Vilhelm Hammershøi zu sehen, aber auch eine Ausstellung zum Thema "Verbrechen im Osten" wird in der Stadt gezeigt. Diese hat sich Katja Wild genau angesehen, ihr Vater Hans Musbach hingegen versenkt sich lieber in die wunderbare Stille der Bilder des Dänen. Eine modellhafte Konstellation; man ahnt, was kommt. Und doch kommt es auch anders.

Dr. Hans Musbach, Oberstudienrat a.D., verbringt seinen Lebensabend auf komfortable Weise in einer Senioren-Residenz mit Elbblick, zu deren gesellschaftlichem Treiben er Distanz hält. Seine Fächer waren Alte Geschichte, Griechisch und Latein; er ist also ein Humanist alten Schlages und damit Spezialist für die Kultur der Erinnerung. Bei Generationen von Schülern war er berühmt dafür, daß er den Bogen von der Alten Geschichte zu den Verbrechen des "Dritten Reichs" zu schlagen wußte und dabei auf die besondere geschichtliche Verantwortung der Deutschen hinwies. Ein Lehrer ohne Fehl und Tadel, ein Vorbild auch für Tochter Katja, die ihn täglich besucht. Aber als Kenner der antiken Gedächtniskunst weiß Musbach, daß zu ihr auch eine Kunst des Vergessens gehört; dies hat er seinen Mitbewohnern in einem Vortrag erklärt: "Vergessen kann befreien." So spricht ein kultivierter Virtuose der humanistischen Erinnerung, der die Kunst des Vergessens auf eine entscheidende Phase seines Lebens angewandt hat. Entsprechend verärgert reagiert er, als ihm seine Tochter den Katalog der Ausstellung "Verbrechen im Osten" auf den Tisch legt: Darüber weiß er doch alles - nur seine eigene Rolle dabei hat er vergessen.

Die Erinnerung daran läßt sich nur in einem für Vater und Tochter höchst schmerzhaften Prozeß rekonstruieren, den die Tochter mit den Sätzen eröffnet: "Schau dir das Buch bitte an. Dein Bild wirst du da ja nicht drin finden." Musbach muß also das Bild, auf dem er zu sehen ist, in der eigenen Erinnerung finden. Am Ende dieses Prozesses tritt an die Stelle der Befreiung durch Vergessen eine Befreiung durch Erinnerung. Daß dabei eine Blutspur zutage tritt, weiß der Leser freilich spätestens, als er zum ersten Mal auf die Hände des Humanisten blickt: "auf dem Ringfinger der Linken ein antiker Stein von blutroter Farbe".

Ein Virtuose des Erinnerns und des Vergessens zugleich konnte der Oberstudienrat sein, weil er seine Erinnerung nach einem ganz einfachen Prinzip strukturierte: "Er hatte die Geschichte der Nazijahre als eine schreckliche Abfolge von Bildern betrachtet - auf denen es ihn nicht gab." Diese Auslöschung des eigenen Bildes im Gesamtbild gelang ihm, weil er, der kultivierte Humanist, immer gegen die Nazis war - ohne sich doch dem Zugriff ihrer Macht je zu entziehen: "Ich war dagegen, aber eben auch dabei. Immer." Deshalb läßt sich Musbachs Versuch, den Bildern des Katalogs, auf denen er nicht zu finden ist, die Bilder seiner Erinnerung entgegenzustellen - "sie sind unvollständig ohne meine Bilder" -, auf Dauer nicht durchhalten. Am Ende erinnert auch er sich an ein schreckliches Bild, auf dem er als Täter zu sehen ist. Dies Bild freilich bleibt unscharf.

Tag für Tag treibt die Tochter den Prozeß der Erinnerung auf staatsanwaltlich-inquisitorische Weise bei ihrem Vater voran, ohne Schonung für diesen und für sich selbst, mit den entsprechenden psychosomatischen Konsequenzen für beide. Den exemplarischen Charakter dieses notwendigen Erinnerungsgeschehens verdeutlicht Ulla Hahn dadurch, daß sie ihre beiden Protagonisten bevorzugt als "den Vater" und "die Tochter" reden läßt; dem wohnt eine Tendenz zur Typisierung inne. Dabei spielt die Tochter gegen den geliebten Vater immer wieder die Selbstgerechtigkeit derjenigen aus, die sich nie in einer existentiellen Entscheidungssituation befunden hat.

Ulla Hahn läßt Katja "bitter", "ungeduldig", "erbost" den Vater unterbrechen, "zischen", ja mit "drohendem Unterton" reagieren. Dem Leser wird es bewußt schwergemacht, diese Frau, die ein wenig zu stark auf das Klischee von der frustrierten Lehrerin hin stilisiert erscheint, zu mögen. Aber er erfährt erst am Schluß, was sie in Wahrheit antreibt: daß sie ihren Vater auf einem der ausgestellten Fotos, die nicht im Katalog abgedruckt sind, als Schützen bei einer Erschießung von Zivilisten erkannt zu haben glaubt. Und wie soll sie ihn weiter lieben, wenn er diese Erinnerung verleugnet?

Es gehört zu den großen Stärken von Ulla Hahns neuem Roman, mit welchem Bewußtsein für die sprachliche Problematik des Erinnerungsprozesses sie Musbachs Erzählung, die die Zeit des gesamten Rußland-Kriegs umfaßt, gestaltet: wie er zunächst erzählerisch ins Kollektivschicksal und ins Gemeinschaftserlebnis ausweicht, wie er immer wieder die Schrecken des Kriegs durch ihre Einbettung in Natur und Landschaft neutralisiert oder die Kriegserfahrung durch expressionistische Stereotype entpersonalisiert: "Alles schrie. Es schrien die Bäume, die Tiere, die Sträucher, die Farben der Morgendämmerung, die Farben der Erde schrien zum Himmel. Nur der war stumm."

Die Sprachgewalt des Oberstudienrats ist eben auch eine Form von Stummheit; kein Wunder, daß seine Tochter dagegen anzischt. Ulla Hahn hat ihren Roman jedenfalls mit genauem Gespür für die Gefahr verharmlosender Ästhetisierung geschrieben, die jeder erzählerischen Heraufbeschwörung des Grauens innewohnt. "Trüge nicht auch einer, der von diesen Gesprächen zwischen Vater und Tochter schriebe, dazu bei, das Leiden, den Schmerz, den Krieg selbst, erträglicher zu machen? Ist nicht alles Erzählen am Ende nur dazu da, das Erlebte für das Leben, für die Zukunft erträglich zu machen?"

Aber ist Ulla Hahns Roman selbst deshalb dieser Gefahr einer ästhetischen Harmonisierung des Schreckens auch entgangen? Am Ende hat die Tochter es geschafft: "Alle Dämme gegen das Erinnern weggespült." Vater und Tochter sitzen wieder nebeneinander, "einer des anderen Spiegelbild". Aber die Erinnerung, in der das Bild, das den Vater als Täter zeigt (wenn er es denn ist), seine Erklärung findet, verbindet sich nun mit einer Partisanengeschichte, kolportagehaft und bittersüß: Musbach erschlägt die SS-Bestie, die ihn an einer Erschießung von russischen Zivilisten teilzunehmen gezwungen hat, mit einem Gewehrkolben, während der SS-Mann in einer Scheune eine Partisanin vergewaltigt, flieht dann mit der Frau und schließt sich einer russischen Partisanengruppe an. Eine scheue Liebe entwickelt sich, aber eines Tages verschwindet die Partisanin Wera plötzlich für immer. "Der Vater aber lag angekleidet, nur die Fliege gelöst, auf dem Bett und träumte. Von einem einfachen Schlafzimmer träumte der Vater, vielleicht von einem Bett mit Eisenstäben und glatten Laken. Und seine Hand, langsam und schlaftrunken, fährt Weras Rücken hinauf und hinunter. . . . In der Morgendämmerung würden sie sich lieben und so den neuen Tag feiern. Nackt würde sie ans Fenster treten, es weit öffnen und einatmen, tief, mit ausgestreckten Armen." Dies ist Kitsch, fürchterlicher Kitsch, und wird auch nicht besser dadurch, daß der Vater für diese Träume mit einer Herzattacke bestraft wird. Ulla Hahn wäre besser beraten gewesen, ihr klug konstruiertes, notwendiges, sehr ernstes Buch nicht durch dergleichen in seiner Glaubwürdigkeit zu gefährden.

Ulla Hahn: "Unscharfe Bilder". Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2003. 281 S., geb., 18,90 [Euro].

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"Ein klug konstruiertes, notwendiges, sehr ernstes Buch." Frankfurter Allgemeine Zeitung