Produktdetails
- Verlag: Neue Kritik
- Seitenzahl: 150
- Abmessung: 190mm
- Gewicht: 152g
- ISBN-13: 9783801501877
- Artikelnr.: 25129325
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.12.2001Heldin der Handarbeit
Der große Realismus: Frühe Reportagen von Hanna Krall
An den Stellen, an denen andere Schriftsteller von Instinkt, Gefühl oder literarischer Intuition sprechen, beruft sich die polnisch-jüdische Autorin Hanna Krall am liebsten auf ihren Organismus. Sie sagt gern Sätze wie: "Mein Organismus produziert keine starken Leidenschaften." Oder: "Manchmal weiß mein Organismus, daß eine Geschichte nicht für mich ist, und manchmal reagiert er sofort: auf einen Satz, auf ein Signal." So verließ sie sich auch auf dieses seismographische Körpergefühl, als sie in den achtziger Jahren beschloß, ihren ursprünglichen Beruf einer Reporterin aufzugeben: "Mein Organismus spürte ganz einfach, daß er nicht in der Lage ist zu schreiben, und ich mußte mich seiner Entscheidung unterordnen."
Damit war ein langes Kapitel ihrer beruflichen Karriere beendet. Unmittelbar nach dem Studium der Publizistik an der Warschauer Universität arbeitete sie von 1957 bis 1966 bei der Tageszeitung "Zycie Warszawy"; anschließend war sie Redaktionsmitglied der Wochenschrift "Polityka", die sie als erstes für drei Jahre in die Sowjetunion schickte. Sie brachte von dort Reportagensammlungen mit, die Titel wie "Östlich von Arbat" oder "Sibirien, das Land der Möglichkeiten" trugen. Nach ihrer Rückkehr schrieb sie erneut über aktuelle Themen: Skizzen aus dem Alltag, Momentaufnahmen der kommunistischen Realität, Porträts der "Solidarnosc"-Helden. Erst im Dezember 1981, nach der Verhängung des Kriegszustands, trennte sie sich von dem Blatt und wurde freie Schriftstellerin.
Von einer vollkommenen Aufgabe des früheren Berufs kann aus ihrer Sicht allerdings kaum die Rede sein. Die Suche nach den Spuren polnischer Juden, die sie seit den achtziger Jahren betreibt und die in den Erzählbänden "Legoland", "Tanz auf fremder Hochzeit" oder "Existenzbeweise" ihren Ausdruck fand, hat ihr zwar den Ruf einer Meisterin der literarischen Reportage eingebracht. Sie betrachtete diese Umstellung aber nicht als Neuanfang, sondern lediglich als eine höhere Stufe dessen, was schon immer ihr Hauptanliegen gewesen war: die Beschäftigung mit den Menschen, ihren individuellen Schicksalen, ihren Hoffnungen, Träumen und Enttäuschungen.
Wie sehr dies zutrifft, belegt eine Auswahl ihrer frühen Reportagen, die nun, um einige Texte erweitert, zum zweiten Mal auf deutsch vorliegt. Zunächst geht es darin nur um den "Kleinen Realismus" der siebziger Jahre (so der Titel der Auftaktreportage), um Planerfüllung, Ersatzteilmangel, wirtschaftliche Engpässe, Betrügereien. Um allerlei Funktionäre des Systems - Parteisekretäre, Gewerkschaftsvorsitzende, Milizionäre. Um banale, melancholische, komische oder auf eine unspektakuläre Weise heroische Alltagsgeschichten, die ein einprägsames Bild der gesellschaftlichen Realität im kommunistischen Polen vermitteln. Ihre Helden sind mal ein "verdienter Eisenbahner der Volksrepublik Polen", der vor Müdigkeit ein Stoppsignal überfahren hat, mal eine Bibliothekarin, die sich das Image einer Dichterin zulegt und dazu Gedichte einer bekannten Lyrikerin benutzt, mal eine Ex-Lehrerin, die ihr Einkommen mit dem Schreiben von Diplomarbeiten aufbessert.
Erst allmählich schleicht sich große Politik in diese Reportagen ein, treten die Hauptakteure historischer Ereignisse auf den Plan: Leszek Gozdzik, der Held des "polnischen Oktobers" 1956, Anna Walentynowicz, die Galionsfigur der "Solidarnosc"-Bewegung, Vater und Sohn Kulerski, von denen jeder - der eine während des Stalinismus, der andere in den späten Siebzigern - um ein besseres Polen kämpfte. An Kralls Erzählweise ändert dies allerdings nichts: Sie beschränkt sich darauf, die ihr anvertraute Geschichte zu registrieren und, meist in der Ich-Form, wiederzugeben und bleibt selbst im Hintergrund, ergreift für niemanden Partei, gibt keine Urteile ab. Sie berichtet nur - in jenem ruhigen, sachlichen, schnörkellosen Stil, der längst zu ihrem Markenzeichen geworden ist und der diese frühen Reportagen als Fingerübungen der späteren Schriftstellerin ausweist.
MARTA KIJOWSKA
Hanna Krall: "Unschuldig für den Rest des Lebens". Frühe Reportagen. Aus dem Polnischen übersetzt von Hubert Schumann u. a., Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main 2001. 176 S., geb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der große Realismus: Frühe Reportagen von Hanna Krall
An den Stellen, an denen andere Schriftsteller von Instinkt, Gefühl oder literarischer Intuition sprechen, beruft sich die polnisch-jüdische Autorin Hanna Krall am liebsten auf ihren Organismus. Sie sagt gern Sätze wie: "Mein Organismus produziert keine starken Leidenschaften." Oder: "Manchmal weiß mein Organismus, daß eine Geschichte nicht für mich ist, und manchmal reagiert er sofort: auf einen Satz, auf ein Signal." So verließ sie sich auch auf dieses seismographische Körpergefühl, als sie in den achtziger Jahren beschloß, ihren ursprünglichen Beruf einer Reporterin aufzugeben: "Mein Organismus spürte ganz einfach, daß er nicht in der Lage ist zu schreiben, und ich mußte mich seiner Entscheidung unterordnen."
Damit war ein langes Kapitel ihrer beruflichen Karriere beendet. Unmittelbar nach dem Studium der Publizistik an der Warschauer Universität arbeitete sie von 1957 bis 1966 bei der Tageszeitung "Zycie Warszawy"; anschließend war sie Redaktionsmitglied der Wochenschrift "Polityka", die sie als erstes für drei Jahre in die Sowjetunion schickte. Sie brachte von dort Reportagensammlungen mit, die Titel wie "Östlich von Arbat" oder "Sibirien, das Land der Möglichkeiten" trugen. Nach ihrer Rückkehr schrieb sie erneut über aktuelle Themen: Skizzen aus dem Alltag, Momentaufnahmen der kommunistischen Realität, Porträts der "Solidarnosc"-Helden. Erst im Dezember 1981, nach der Verhängung des Kriegszustands, trennte sie sich von dem Blatt und wurde freie Schriftstellerin.
Von einer vollkommenen Aufgabe des früheren Berufs kann aus ihrer Sicht allerdings kaum die Rede sein. Die Suche nach den Spuren polnischer Juden, die sie seit den achtziger Jahren betreibt und die in den Erzählbänden "Legoland", "Tanz auf fremder Hochzeit" oder "Existenzbeweise" ihren Ausdruck fand, hat ihr zwar den Ruf einer Meisterin der literarischen Reportage eingebracht. Sie betrachtete diese Umstellung aber nicht als Neuanfang, sondern lediglich als eine höhere Stufe dessen, was schon immer ihr Hauptanliegen gewesen war: die Beschäftigung mit den Menschen, ihren individuellen Schicksalen, ihren Hoffnungen, Träumen und Enttäuschungen.
Wie sehr dies zutrifft, belegt eine Auswahl ihrer frühen Reportagen, die nun, um einige Texte erweitert, zum zweiten Mal auf deutsch vorliegt. Zunächst geht es darin nur um den "Kleinen Realismus" der siebziger Jahre (so der Titel der Auftaktreportage), um Planerfüllung, Ersatzteilmangel, wirtschaftliche Engpässe, Betrügereien. Um allerlei Funktionäre des Systems - Parteisekretäre, Gewerkschaftsvorsitzende, Milizionäre. Um banale, melancholische, komische oder auf eine unspektakuläre Weise heroische Alltagsgeschichten, die ein einprägsames Bild der gesellschaftlichen Realität im kommunistischen Polen vermitteln. Ihre Helden sind mal ein "verdienter Eisenbahner der Volksrepublik Polen", der vor Müdigkeit ein Stoppsignal überfahren hat, mal eine Bibliothekarin, die sich das Image einer Dichterin zulegt und dazu Gedichte einer bekannten Lyrikerin benutzt, mal eine Ex-Lehrerin, die ihr Einkommen mit dem Schreiben von Diplomarbeiten aufbessert.
Erst allmählich schleicht sich große Politik in diese Reportagen ein, treten die Hauptakteure historischer Ereignisse auf den Plan: Leszek Gozdzik, der Held des "polnischen Oktobers" 1956, Anna Walentynowicz, die Galionsfigur der "Solidarnosc"-Bewegung, Vater und Sohn Kulerski, von denen jeder - der eine während des Stalinismus, der andere in den späten Siebzigern - um ein besseres Polen kämpfte. An Kralls Erzählweise ändert dies allerdings nichts: Sie beschränkt sich darauf, die ihr anvertraute Geschichte zu registrieren und, meist in der Ich-Form, wiederzugeben und bleibt selbst im Hintergrund, ergreift für niemanden Partei, gibt keine Urteile ab. Sie berichtet nur - in jenem ruhigen, sachlichen, schnörkellosen Stil, der längst zu ihrem Markenzeichen geworden ist und der diese frühen Reportagen als Fingerübungen der späteren Schriftstellerin ausweist.
MARTA KIJOWSKA
Hanna Krall: "Unschuldig für den Rest des Lebens". Frühe Reportagen. Aus dem Polnischen übersetzt von Hubert Schumann u. a., Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main 2001. 176 S., geb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Zwei Gründe gibt es für Katharina Döbler, Hanna Kralls Reportagen aus dem Polen der 70er und 80er Jahre wiederzulesen: einmal als Zeitdokumente, die Zeugnis ablegen von jener Zeit des politischen Aufbruchs, der Streiks und des anschließend verhängten "Kriegsrechts", das zur völligen Lähmung des politischen Lebens und Neuorientierung des privaten Lebens führte; zum anderen wegen ihres unverwechselbar lakonischen Stils, schwärmt Döbler. Die Journalistin halte sich mit eigenen Kommentaren zurück, sie höre den Leute zu und überlasse ihnen das Reden, so dass man "die Berührung des kleinen Lebens mit dem historischen Ereignis" zu spüren bekomme, so Döbler. Den neuveröffentlichten Reportagen ist im übrigen ein Interview mit der Autorin beigefügt, das aus dem Jahr 1985 stammt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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