Mit dem Aufschwung des Tourismus im ausgehenden 19. Jahrhunderts deklarierten sich Seebäder, Kurorte und Sommerfrischen gern als "judenfrei", um antisemitisch gesonnene Feriengäste aus der Mitte der deutschen Gesellschaft anzusprechen. Juden mussten mit Schmähungen, Beleidigungen und tätlichen Übergriffen rechnen. Zur Warnung brachten jüdische Zeitungen lange Listen "antisemitischer Badeorte und Hotels".
Nach 1933 kulminierte der Bäder-Antisemitismus, der im übrigen ein internationales Phänomen war, in der systematischen Vertreibung von Juden aus sämtlichen Kur- und Badeorten.
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Nach 1933 kulminierte der Bäder-Antisemitismus, der im übrigen ein internationales Phänomen war, in der systematischen Vertreibung von Juden aus sämtlichen Kur- und Badeorten.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.08.2003Norderney, auf Sand gebaut
Frank Bajohrs Studie über Antisemitismus in Badeorten
Als Victor Klemperer um 1900 in München den ersten Fronleichnams-Umzug in seinem ganzen Gepränge sah, meinte dieser norddeutsch-berlinische Jude zu der Prozession: "In ihrem theatralischen Wesen ist sie undeutsch; ich dachte, so etwas könne man nur in Italien oder Spanien zu sehen bekommen." Deutschtum und Protestantismus ("wie das Lessingsche Denken") waren für ihn "gleiche Begriffe".
Ähnlich wie Klemperer über die Katholiken, urteilte 1882 Theodor Fontane über die Ostjuden auf Norderney: "Fatal waren die Juden; ihre frechen und unschönen Gaunergesichter drängen sich einem überall auf." Sie hätten keine Berechtigung, "sich in Norderney unter Prinzessinnen und Comtessen mit herumzuzieren." Diese Juden waren für Fontane undeutsch. Dabei galt gerade Norderney um 1900 als "Judeninsel". Das "Wangerooger Judenlied" endete mit dem Refrain: "Und tausendstimmig schallet unser Schrei: Der Jud' muß 'raus, er muß nach Norderney!" Das Borkum-Lied von 1918 wiederholte immer wieder: "Laß't keinen Jud' in Eure Mitte / Borkum soll frei von Juden sein!" Frank Bajohr geht in seiner Studie über den Bäder-Antisemitismus der Frage nach, warum sich gerade in den deutschen See- und Heilbädern ein Antisemitismus entwickeln konnte.
Kurbäder sind kleine Orte. Man begibt sich nur für eine gewisse Zeit dorthin, die Besucher fühlen sich immer wie in einer festlichen Ausnahmesituation. Vor allem sind die Bäder überschaubar. An solchen kleinen und reinen Orten fällt alles Fremde sofort auf als eine Art Störung der gehobenen Stimmung. Juden, besonders aus Osteuropa, im schwarzen Kaftan und mit Schläfenlocken, wurden in den Bädern als "undeutsch" und "dreckig" angesehen: "dem Volk ist sein Geruch geblieben, die deutsche Nase rümpft sich angstbeklommen". Augen und Nasen sind besonders in Kurorten empfindlich. Eine Gruppe von Nonnen, ihren Rosenkranz betend, wäre übrigens ähnlich störend aufgefallen, als "Andere" auch nicht akzeptiert worden, denn die katholischen Schwestern hätten nicht zu den lutherischen "Strandandachten" und "religiös-musikalischen Morgenfeiern" gepaßt. Daß die Nordsee-Bäder auch streng antikatholisch waren und man dort alles "Ultramontane" als undeutsch empfand, sagt der Autor leider nur am Rande. Notker Hammerstein hat 1995 in seiner Studie über "Antisemitismus und deutsche Universität" gezeigt, daß Antisemitismus und Antikatholizismus bei bestimmten Gruppierungen in Deutschland bis 1933 häufig parallele Phänomene waren.
Wie kaum eine andere Spielart des Antisemitismus arbeitete der sogenannte "Bäder-Antisemitismus" mit einem Klischee: Als Juden galten Menschen mit Krummnasen, Negerlocken und Wulstlippen, die zu dem nach Knoblauch rochen. "Wir Deutsche legen nämlich gar keinen Wert darauf, den Anblick jüdischer Typen zu genießen und vermissen recht gern ihre knoblauchduftende Anwesenheit." Dieser Antisemitismus ist nicht aus theologisch-christlichen Quellen gespeist und nicht politisch oder rassenkundlich untermauert, sondern er kann als ein ästhetischer Antisemitismus bezeichnet werden: die Juden beleidigen die Sinne (Auge und Nase). Wenn es heißt "Juden, Negern und Mulatten ist das Betreten meines Grundstücks verboten", so zeigt dieses Verbot, daß alle fremd aussehenden Menschen, nicht allein die Juden, nicht geduldet werden. Dieser von mir "ästhetisch" genannte Antisemitismus spiegelt das Vorurteil des Kleinbürgers gegen alles andere und Fremde, das seine eigene Lebensgewohnheit unsicher macht und in Frage stellt. Frank Bajohrs These, daß der Bäder-Antisemitismus "für die wachsende gesellschaftliche Ausgrenzung der Juden in Deutschland (nach 1933) verantwortlich war", kann man wohl kaum zustimmen.
Daß erst 1937 eine reichsweite Anordnung für "jüdische Kurgäste in Bädern und Kurorten" erlassen wurde, macht recht deutlich, daß der rassistische Antisemitismus des Nationalsozialismus etwas anderes war als der ästhetische Antisemitismus in den Bädern des neunzehnten Jahrhunderts und in der Weimarer Republik. Heute sind die Muslime die Juden in Deutschland.
FRIEDRICH NIEWÖHNER
Frank Bajohr: "Unser Hotel ist judenfrei". Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2003. 233 S., br., 12,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frank Bajohrs Studie über Antisemitismus in Badeorten
Als Victor Klemperer um 1900 in München den ersten Fronleichnams-Umzug in seinem ganzen Gepränge sah, meinte dieser norddeutsch-berlinische Jude zu der Prozession: "In ihrem theatralischen Wesen ist sie undeutsch; ich dachte, so etwas könne man nur in Italien oder Spanien zu sehen bekommen." Deutschtum und Protestantismus ("wie das Lessingsche Denken") waren für ihn "gleiche Begriffe".
Ähnlich wie Klemperer über die Katholiken, urteilte 1882 Theodor Fontane über die Ostjuden auf Norderney: "Fatal waren die Juden; ihre frechen und unschönen Gaunergesichter drängen sich einem überall auf." Sie hätten keine Berechtigung, "sich in Norderney unter Prinzessinnen und Comtessen mit herumzuzieren." Diese Juden waren für Fontane undeutsch. Dabei galt gerade Norderney um 1900 als "Judeninsel". Das "Wangerooger Judenlied" endete mit dem Refrain: "Und tausendstimmig schallet unser Schrei: Der Jud' muß 'raus, er muß nach Norderney!" Das Borkum-Lied von 1918 wiederholte immer wieder: "Laß't keinen Jud' in Eure Mitte / Borkum soll frei von Juden sein!" Frank Bajohr geht in seiner Studie über den Bäder-Antisemitismus der Frage nach, warum sich gerade in den deutschen See- und Heilbädern ein Antisemitismus entwickeln konnte.
Kurbäder sind kleine Orte. Man begibt sich nur für eine gewisse Zeit dorthin, die Besucher fühlen sich immer wie in einer festlichen Ausnahmesituation. Vor allem sind die Bäder überschaubar. An solchen kleinen und reinen Orten fällt alles Fremde sofort auf als eine Art Störung der gehobenen Stimmung. Juden, besonders aus Osteuropa, im schwarzen Kaftan und mit Schläfenlocken, wurden in den Bädern als "undeutsch" und "dreckig" angesehen: "dem Volk ist sein Geruch geblieben, die deutsche Nase rümpft sich angstbeklommen". Augen und Nasen sind besonders in Kurorten empfindlich. Eine Gruppe von Nonnen, ihren Rosenkranz betend, wäre übrigens ähnlich störend aufgefallen, als "Andere" auch nicht akzeptiert worden, denn die katholischen Schwestern hätten nicht zu den lutherischen "Strandandachten" und "religiös-musikalischen Morgenfeiern" gepaßt. Daß die Nordsee-Bäder auch streng antikatholisch waren und man dort alles "Ultramontane" als undeutsch empfand, sagt der Autor leider nur am Rande. Notker Hammerstein hat 1995 in seiner Studie über "Antisemitismus und deutsche Universität" gezeigt, daß Antisemitismus und Antikatholizismus bei bestimmten Gruppierungen in Deutschland bis 1933 häufig parallele Phänomene waren.
Wie kaum eine andere Spielart des Antisemitismus arbeitete der sogenannte "Bäder-Antisemitismus" mit einem Klischee: Als Juden galten Menschen mit Krummnasen, Negerlocken und Wulstlippen, die zu dem nach Knoblauch rochen. "Wir Deutsche legen nämlich gar keinen Wert darauf, den Anblick jüdischer Typen zu genießen und vermissen recht gern ihre knoblauchduftende Anwesenheit." Dieser Antisemitismus ist nicht aus theologisch-christlichen Quellen gespeist und nicht politisch oder rassenkundlich untermauert, sondern er kann als ein ästhetischer Antisemitismus bezeichnet werden: die Juden beleidigen die Sinne (Auge und Nase). Wenn es heißt "Juden, Negern und Mulatten ist das Betreten meines Grundstücks verboten", so zeigt dieses Verbot, daß alle fremd aussehenden Menschen, nicht allein die Juden, nicht geduldet werden. Dieser von mir "ästhetisch" genannte Antisemitismus spiegelt das Vorurteil des Kleinbürgers gegen alles andere und Fremde, das seine eigene Lebensgewohnheit unsicher macht und in Frage stellt. Frank Bajohrs These, daß der Bäder-Antisemitismus "für die wachsende gesellschaftliche Ausgrenzung der Juden in Deutschland (nach 1933) verantwortlich war", kann man wohl kaum zustimmen.
Daß erst 1937 eine reichsweite Anordnung für "jüdische Kurgäste in Bädern und Kurorten" erlassen wurde, macht recht deutlich, daß der rassistische Antisemitismus des Nationalsozialismus etwas anderes war als der ästhetische Antisemitismus in den Bädern des neunzehnten Jahrhunderts und in der Weimarer Republik. Heute sind die Muslime die Juden in Deutschland.
FRIEDRICH NIEWÖHNER
Frank Bajohr: "Unser Hotel ist judenfrei". Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2003. 233 S., br., 12,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
"Bewacht den Strand auch künftig fein, Lasst keinen Jud in eure Mitte, Lebt wohl, es muss geschieden sein", zitiert der Rezensent Sirku Plötner antijüdische Lieder aus dem Kaiserreich. Bereits vor 1933 gab es die spezifische Form des "Bäder-Antisemitismus" in den deutschen Nordsee-Badeorten, der erst später von den Nazis instrumentalisiert wurde, wie Plötner bemerkt. Frank Bajohr will mit seiner Studie "größere Zusammenhänge" beleuchten, und so den gesellschaftlichen Antisemitismus in Deutschland mit Hitlers Judenvernichtung verknüpfen, was nach Meinung des Rezensenten zu "interessanten Einsichten" führt. Allerdings moniert er, dass der Autor die zentrale Frage, was "Borkum mit Auschwitz verbindet", nicht hinreichend klären kann. Bajohrs internationaler Vergleich zeige zwar, dass es zum Beispiel auch in den USA "Bäder-Antisemitismus" gegeben habe, mit der Schlussfolgerung des Autors hieraus ist Plötner jedoch nicht einverstanden. Schließlich sei in der Forschung längst anerkannt, "dass der Antisemitismus ein europäisches Phänomen war", der vielleicht gerade den "großen Zivilisationsbruch" ermöglicht habe.
© Perlentaucher Medien GmbH
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