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Produktdetails
  • Verlag: Residenz
  • Seitenzahl: 247
  • Abmessung: 210mm x 135mm x 25mm
  • Gewicht: 379g
  • ISBN-13: 9783701711765
  • ISBN-10: 3701711763
  • Artikelnr.: 08162721
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.02.2000

Geschwinde, geschwinde, ihr wirbelnden Winde
Die Kritik darf Sprünge machen: Hans-Klaus Jungheinrich kennt alle Ecken und Enden der Musikwelt

Eine Windrose aus Notensystemen ziert den Einband von Hans-Klaus Jungheinrichs Buch "Unser Musikjahrhundert". Der achtstrahlige Kreis täuscht eine Ordnung, ein System vor, das sich jederzeit wie Fortunas Zufallsrad drehen kann, die Konturen der Notenlinien verwischend. Ein treffendes Bild für die Unfassbarkeit, Vielstimmigkeit, Widersprüchlichkeit, Vielfalt jener musikalischen Äußerungen, die sich spätestens nach dem Serialismus, dem wohl letzten einigermaßen verbindlichen Musiksystem, in alle stilistischen Richtungen verstreut haben. Jungheinrich, seit mehr als dreißig Jahren Musikredakteur der Frankfurter Rundschau, ist klug und erfahren genug, dem schier Unmöglichen aus dem Weg zu gehen: dem planvollen Forschungsgang durch den Irrgarten der jüngsten Musikgeschichte.

Den Winkelzügen dieses Jahrhunderts folgt er vielmehr mit Gedankensprüngen, Kreuz- und Quergängen, assoziativen Zirkeln und Verknüpfungen. Das ist anregend, aber auch anstrengend. Denn der Journalist, weit über sein Fach hinaus bewandert, setzt in seinem Leser die Fähigkeit voraus, Anspielungen auf allgemein ästhetischem, politischem, gesellschaftswissenschaftlichem, philosophischem und manchem weiteren Gebiet zu verstehen und aufzudröseln. Dabei hilft zuweilen die pointenfunkelnde, gelenkige Sprache, die den Kern eines komplizierten Sachverhalts oft witzig trifft.

Jungheinrichs essayistische Sicht ist betont subjektiv. Persönliche Erfahrungen, Vorlieben und Abneigungen sind zwar nicht immer nachvollziehbar, sorgen aber für Anregung und Überraschung. Vor allem schärft der Autor das Bewusstsein für viel benutzte, aber wenig begriffene Vokabeln. Wie unterscheiden sich Neue und neue Musik, ist die "Neue Einfachheit" wirklich einfach? Was heißt Moderne, Avantgarde? Gab es wirklich eine "Darmstädter Schule"? Welchen Einfluss haben Massenkonsum und Kommerzialisierung auf das Musikleben? Was folgt aus dem Widerspiel von Gagen-Explosion und Subventionskürzung? Welche kulturpolitischen Auswirkungen haben die "Revolutionsjahre" 1968 und 1989? Was heißt Gegenwart in der Musikgeschichte? Doch wohl "nur ein schmaler Spalt, durch den Vergangenheit in die Zukunft stürzt".

Eigenwillig, fast filmisch, ist die Folge von Tempi und Perspektiven: hier behagliche Sequenzen für die Opern von Strauss und Janácek, dort hart aneinander geschnittene oder assoziativ ineinander schwingende Gedankensplitter und Musikmomente. Manchmal rattern bloß Daten, Fakten, Namen vorüber. Vielleicht ist solches Atomisieren des Denkens typisch für den Journalisten, der von den Furien der Zeitnot gehetzt ist. Jedenfalls ist Jungheinrich, immer auch Mahner vor Risiken und Gefahren für den aktuellen Musikbetrieb, ähnlich sprunghaft in seinem zweiten Buch, das einen originellen Blick auf die Symphonie gibt. Wieder besticht in dieser Parforce-Tour durch die Musik- und Literaturgeschichte vor allem der letzten beiden Jahrhunderte das brillante Jonglieren mit Facetten, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, im Aufeinanderprallen aber Funken schlagen. Inwiefern ist die Symphonie eine Erzählung, ein Musikroman? Was haben musikalische und literarische Gattung gemeinsam, was unterscheidet sie voneinander? Die abgegriffene Vokabel "Klangrede" tönt wie neu, auch wenn Jungheinrich in schwungvollem Ritt auf privaten Steckenpferden in Nischen und Sackgassen des Auf- und Abwertens landet.

"Zugegeben, das ist ein bisschen viel auf einmal" ("Der Musikroman", Seite 102): Immer wieder steigt der Autor aus seinem fantasievollen Gedankenstrom aus, nimmt zur Selbsterkenntnis Abstand von sich, bildet sich und seine Erzähltechnik in den Komponistenporträts mit ab: Matthias Spahlinger etwa schreibt er im "Musikjahrhundert" die "schnelle Verbindung zwischen "Entlegenstem" zu; er sei ein Komponist, der "überall virulente Probleme und Anknüpfungen sah". Und Alfred Schnittkes Polystilistik sei "ein oft kurven- und zackenreiches, kompliziertes Surfen durch entfernteste Materialschichten". Bündiger als in diesen Worten ihres Autors kann man beide Bücher nicht beschreiben.

ELLEN KOHLHAAS

Hans-Klaus Jungheinrich: "Unser Musikjahrhundert". Von Richard Strauss zu Wolfgang Rihm. Residenz Verlag, Salzburg 1999. 248 S., geb., 38,- DM.

Hans-Klaus Jungheinrich: "Der Musikroman - ein anderer Blick auf die Symphonie". Residenz Verlag, Salzburg 1998. 239 S., geb., 39,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Ein Problem der Musikgeschichtsschreibung spricht Wolfgang Schreiber in der Besprechung des Buches seines Frankfurter Kritikerkollegen an: "Es wird nichts mehr vergessen, alles Alte ist gegenwärtig." Einen verbindlichen Kanon gibt es nicht mehr. Umso gelungener erscheint ihm die Gliederung des Materials in Jungheinrichs Buch: Wichtig findet Schreiber zum Beispiel, wie Jungheinrich die "Außeneinflüsse auf die Musik" wie etwa historische Ereignisse, philosophische Theorien und die Entwicklung der Medien kenntlich macht. Auch die Schulbildungen der Neuen Musik, ihre Theorien und ihre Außenseiter fänden bei Jungheinrich eine angemessene Darstellung

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