Nominiert für den aspekte-Literaturpreis 2021.
Zwei junge Frauen: Charles und Gwen. Charles muss mit ihren Post-Hippie-Eltern aufs Land ziehen und will da unter keinen Umständen hin. Auf einen Kiosk, eine Palme und das Internet ist zum Glück noch Verlass. Und Gwen? Sie wohnt ganz in der Nähe und führt dort unbemerkt ein wildes, schmutziges Leben, um dem Wohlstand ihrer Eltern zu entkommen. Das Geld, das sie den Jungs aus der Tasche zieht, während sie mit ihnen schläft, spendet sie. Dass die beiden sich kennenlernen, ist definitiv überfällig.
Lisa Krusche erzählt in ihrem Debütroman »Unsere anarchistischen Herzen« von den Zumutungen des gegenwärtigen Lebens. Wie soll man eigentlich rebellieren, wenn sich alles schon verloren anfühlt? Was einem bleibt, ist die Freundschaft. Und die entwickelt eine explosive Kraft.
»Lisa Krusche beseelt alles durch ihre starksehnig poetische und quecksilbrig mischfreudige Sprache, und ihr endloser Einfallsreichtum zeigt mir- und den meisten anderen Dichtern deutscher Sprache - wie steinalt und roboterhaft wir inzwischen geworden sind.«
Clemens J. Setz
»Lisa Krusche entwirft ein phantastisches Panorama ... Überzeugend in den literarischen Mitteln und eminent politisch.«
Klaus Kastberger, Jurymitglied Bachmann Wettbewerb
Zwei junge Frauen: Charles und Gwen. Charles muss mit ihren Post-Hippie-Eltern aufs Land ziehen und will da unter keinen Umständen hin. Auf einen Kiosk, eine Palme und das Internet ist zum Glück noch Verlass. Und Gwen? Sie wohnt ganz in der Nähe und führt dort unbemerkt ein wildes, schmutziges Leben, um dem Wohlstand ihrer Eltern zu entkommen. Das Geld, das sie den Jungs aus der Tasche zieht, während sie mit ihnen schläft, spendet sie. Dass die beiden sich kennenlernen, ist definitiv überfällig.
Lisa Krusche erzählt in ihrem Debütroman »Unsere anarchistischen Herzen« von den Zumutungen des gegenwärtigen Lebens. Wie soll man eigentlich rebellieren, wenn sich alles schon verloren anfühlt? Was einem bleibt, ist die Freundschaft. Und die entwickelt eine explosive Kraft.
»Lisa Krusche beseelt alles durch ihre starksehnig poetische und quecksilbrig mischfreudige Sprache, und ihr endloser Einfallsreichtum zeigt mir- und den meisten anderen Dichtern deutscher Sprache - wie steinalt und roboterhaft wir inzwischen geworden sind.«
Clemens J. Setz
»Lisa Krusche entwirft ein phantastisches Panorama ... Überzeugend in den literarischen Mitteln und eminent politisch.«
Klaus Kastberger, Jurymitglied Bachmann Wettbewerb
Ein wirklich beeindruckendes Buch. Alexandra Kofler Kleine Zeitung 20230715
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Elena Witzeck taucht ein in die Welt zweier verzweifelter Teenagerinnen mit dem Buch von Lisa Krusche. Echt scheint ihr die Sprache der Mädchen zwischen Insta und Poesie, auch wenn es manchmal wie Kunstsprache klingt. Die "Unverbundenheit" der Jugend mit der Welt, das existenzielle Chaos und die Hoffnung auf eine Wende transportiert der Text für Witzeck jedenfalls glaubhaft. Dies möglicherweise, gerade weil die Autorin nicht mehr Teil der dargestellten Generation ist, sondern die Dialoge im Text bis zur Kenntlichkeit ästhetisiert und ironisiert, vermutet die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.06.2021Zuckerschock
Die beste Freundin als erste wirklich große Liebe: Lisa Krusches
enorm durchlässiger Roman „Unsere anarchistischen Herzen“
VON HANNA ENGELMEIER
Endlich. Es ist wahnsinnig befriedigend, dass Lisa Krusche für ihren Roman „Unsere anarchistischen Herzen“ die Heldinnen Charles und Gwen erschaffen hat. Solche Mädchenfiguren sind rar bislang. Wolfgang Herrndorf hatte mit Isa in „Bilder deiner großen Liebe“ (2014) eine ähnliche Protagonistin geschaffen: schnell und phantasievoll, mit den Jungs unterwegs, aber immer eins schlauer, immer eins besser als sie. An jungen Frauen mit Gefühlen mangelt es nicht in der deutschen Gegenwartsliteratur, aber vielleicht an solchen, die auch gern mal anderen aufs Maul geben.
Es gibt Ausnahmen. Fatma Aydemirs „Ellbogen“ (2017) war ein Buch auch über weibliche Wut, die Studentinnen, die Mithu Sanyal in „Identtiti“ (2021) auftreten lässt, sind auch nicht durch übermäßige Verdruckstheit gekennzeichnet. Hier kommen also die Neuzugänge für den squad. Charles und Gwen sind zwei struppige Mädchen, Teenager auf dem Sprung, die so gerade eben noch nicht in der Lage sind, aus ihren kaputten Elternhäusern auszuziehen.
Die Kaputtheit des Elternhauses entspringt im Fall von Charles den Neurosen einer heruntergekommenen Kreativklasse, die ihre Jugendjahre in den 1980er Jahren damit verbrachte, den schon zweiten Aufguss hippiesker Selbstverwirklichung zu gurgeln. Übrig geblieben ist aber nur ein saures Aufstoßen. Der Roman beginnt damit, dass Charles’ Vater, ein Maler, nackt durch Berlin rast, vorgeblich aus Protest gegen den Zustand des Kunstbetriebs, der ihn bloß verkennt – tatsächlich scheitert er am Kunstmarkt, dessen Kapitallogiken er nicht erfüllen kann. Seine Tochter hält sich nicht mehr damit auf, am Kapitalismus oder an anderen -ismen zu verzweifeln, sie handelt nur noch. Sie fängt ihren Erzeuger ein, verfrachtet ihn in ein Uber, ab nach Hause.
Dieses Zuhause in Berlin wird nur wenige Seiten später verloren gehen, die Familie zieht in ein Hausprojekt im Umland von Hildesheim, dort wohnen neben einer mittelalten Profi-Gamerin noch ein leicht aufgesexter Koch ohne Job und eine Erbin, deren Hauptbeschäftigung im Sonnenbaden besteht. Sie alle wollten eigentlich etwas anderes mit ihren Leben anfangen. Die große Eigentlichkeit, in der diese Erwachsenen leben, ist eine einzige Enttäuschung. Wenn auch nicht für Charles, sie immunisiert sich durch Einsicht: „Wenn ich meine Eltern sehe, sehe ich, was es heißt, wenn man an dieses Alles geglaubt hat und dann kapiert: Nix is.“
Nur ein paar Kilometer weiter steht die prächtige Villa von Gwens Eltern, Mutter Hausfrau mit Essstörung, Vater Geschäftsmann mit Betätigungsgebiet Thailand. Jedes Sonntagsfrühstück läuft mit der vorbildlichen Herzenskälte derer ab, deren Hauptinteresse die Reproduktion sozialer Klasse ist. Gwen gehört nicht dazu, aber statt mit gepanzerter Faust in diese Ordnung reinzuschlagen, die sie hervorgebracht hat und immer noch erhält, prügelt Gwen sich mit Jungs ihres Alters. Oder sie nimmt etwas ältere Typen aus, die sie auf Tinder aufgabelt, und denen sie beim Sex ihren verhauenen Körper zur Verfügung stellt. Während sie sich damit ihre Abgeklärtheit beweist, wird ihr durch die Begegnung mit Charles klar, dass ein anarchistisches Herz nicht von außen mit Teflon beschichtet sein muss, sondern dass es in seiner ursprünglichen, menschlichen Ausgabeform aus Muskelfaser und gut durchblutetem Gewebe schon perfekt ist.
Charles und Gwen lernen sich im Kiosk von Sinan kennen, einem Hildesheimer Philosophiestudenten mit Hauptberuf Süßigkeitenverkäufer. Die Freundschaft der beiden Mädchen erweist sich als die Geschichte der eigentlichen großen Liebe einer dann doch recht süßen Jugendzeit. Ein Zuckerschock ausgelöst durch Selbstbespiegelung in einer anderen, herrlicher Narzissmus, heiliger Narzissmus, unbändige Leidenschaft: „und was übrigblieb, waren unsere körper in der endlosen gegenwart“. Auf die Jungs wird ab diesem Zeitpunkt bestenfalls noch ein müder Fick gegeben.
„Unsere anarchistischen Herzen“ erzählt immer abwechselnd aus der Perspektive von Charles und Gwen, immer im Präsens, manchmal in langen Dialogen, manchmal in Sätzen ohne Punkt und Komma, Prosagedichten eigenen Rechts: „wenn die Resonanzräume zu wyld werden muss man sich von innen sanieren“. Einer der größten Verdienste des Romans ist es vermutlich, dass er am Soundarchiv einer Gegenwart arbeitet, die Charles und Gwen mehr beschwören als erleben. Denn tatsächlich driften die beiden immer wieder in ihre eigenen Gedankenwelten ab. Im Fall von Charles werden diese Reservate von Tieren bevölkert, mit denen sie spricht wie Kleinkinder mit Übergangsobjekten. Bei Gwen geht es um die seelischen Deformationen ihrer erbärmlichen Tinderdates, fiese Eltern oder deren grabbelnden Ü50-Freunde. All das wird in Chats mitgeteilt, deren sprachliche Wiedergabe in Literatur oft misslingt. Lisa Krusche hat sie mit leichter Hand hingetupft. Wer hätte das gedacht: Es gibt jetzt WhatsApp-Impressionismus. Funktioniert so das Hier-sein, Jetzt-sein?
Ja, aber dieser Impressionismus muss ausgedacht sein. Literarische Sprache, die besonders gegenwärtig klingen will, scheitert dann, wenn sie vor allem protokolliert, wie Leute sprechen. Sie gelingt, wenn sie diese Alltagskommunikation so artifiziell gestaltet, dass eine Restunsicherheit bleibt, ob das denn so hinkommt. Sagen Teenager jetzt: „Ich will nicht, dass Zuckerberg in meinem Dopaminhaushalt rumpfuscht“?
Vielleicht weiß Lisa Krusche das auch nicht so genau, sie ist ja kein Teenager mehr, sondern 1990 in Hildesheim geboren und Trägerin prestigeträchtiger Preise wie des Deutschlandfunk-Preises, den sie im vergangenen Jahr im Wettbewerb um den Bachmannpreis gewonnen hat. Was sie hier schafft, ist aber die überzeugende Fiktion einer Sprache, die durch die 400 Seiten eines Romans trägt, in dem zwei Stimmen sich abwechseln, und doch mit einer sprechen.
Die Kritik gefällt sich oft darin, eine solche Stimme als die der Jugend entdecken oder kritisieren zu dürfen, und das hat auch Lisa Krusche selbst beobachtet. Auf Instagram konnte man sehen, wie sie mit dem Handy ihren Computer abgefilmt hatte, auf dem die Literatursendung „Lesenswert“ des SWR lief. Darin klaubte Denis Scheck gerade seiner Meinung nach verhaltensauffällige Wörter aus ihrem Roman. Krusche ließ Schriftbänder über den Ausschnitt laufen, die Distanz und Stolz zugleich zum Ausdruck brachten. Diese Form der Selbstbeobachtung und des Kommentars zur Kritik des eigenen Buches spiegelt wiederum die Asymmetrie der Fernsehsendung: Autorinnen und Autoren sind dabei als Publikum normalerweise zum Schweigen verdammt, dafür können sich die Schecks dieser Welt nicht dagegen wehren, wenn auf Instagram zurückgetextet wird.
Wer sich für die literarische Gegenwart interessiert, ist aber nicht schlecht beraten, da zumindest mal reinzugucken. Die visuelle und ikonische Kommunikation mit Fotos und Emojis, die Referenzsysteme, die durch Vernetzung von Userinnen und Usern entstehen, sind nicht nur stilbildend für die Form eines Roman wie „Unsere anarchistischen Herzen“. Eine Fixierung aufs Visuelle ist auch im Erleben der Figuren entscheidend. Charles redet immer wieder von Hilma af Klint oder anderen Malerinnen, ihre Beschreibung des pittoresk vermüllten Gartens, in dem nun auf Wunsch ihrer verkrachten Eltern ein Teil ihres Lebens spielt, klingt nach schönster Landschaftsmalerei. Diese Perspektive wiederholt sich bei Gwen: „Mo macht es mir mit dem Mund, ich sehe ganz schön aus dabei“ schreibt sie an Charles. Was mit ihrem Körper passiert, ist immer auch schon bildliche Repräsentation des Geschehens.
Aber warum reicht es dann nicht aus, das auf Instagram zu belassen, warum muss diese bildreiche, emotional komplexe, dabei aber nicht sehr plotreiche Geschichte ausgerechnet im Medium der Literatur stattfinden? Die pathetische Antwort lautet, dass wer von der Kunst alles will, Text nicht zugunsten von Bild aufgeben darf. Konkret bedeutet das im Fall von Krusches Roman, dass sein Text auf andere Art und Weise Lücken lässt, als das Fotos und Bilder tun: Sätze, die gelegentlich ohne Subjekt aber mit starken Prädikaten auskommen, die auf Interpunktion und Adjektive verzichten, bieten Leerstellen an, in die sich Leserinnen und Leser selbst einpflegen können, wie sie wollen. Sie können ihre eigenen Ichs in die Geschichte einbauen, sofern es sich dabei um solche handelt, die anders als die Figuren im Roman noch Bücher lesen, weil sie nicht zu beschäftigt damit sind, zu leben.
In seiner menschlichen Form
aus gut durchblutetem Gewebe
ist so ein Herz schon perfekt
Instagram ist stilbildend für die
Form des Romans, warum reicht
ihm die Welt der Bilder nicht?
Lisa Krusche ist 1990 in Hildesheim geboren. „Unsere anarchistischen Herzen“ ist ihr Debütroman.
Foto: Julian Stratenschulte/picture alliance/dpa
Lisa Krusche:
Unsere anarchistischen Herzen. Roman.
S. Fischer, Frankfurt
am Main 2021.
448 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die beste Freundin als erste wirklich große Liebe: Lisa Krusches
enorm durchlässiger Roman „Unsere anarchistischen Herzen“
VON HANNA ENGELMEIER
Endlich. Es ist wahnsinnig befriedigend, dass Lisa Krusche für ihren Roman „Unsere anarchistischen Herzen“ die Heldinnen Charles und Gwen erschaffen hat. Solche Mädchenfiguren sind rar bislang. Wolfgang Herrndorf hatte mit Isa in „Bilder deiner großen Liebe“ (2014) eine ähnliche Protagonistin geschaffen: schnell und phantasievoll, mit den Jungs unterwegs, aber immer eins schlauer, immer eins besser als sie. An jungen Frauen mit Gefühlen mangelt es nicht in der deutschen Gegenwartsliteratur, aber vielleicht an solchen, die auch gern mal anderen aufs Maul geben.
Es gibt Ausnahmen. Fatma Aydemirs „Ellbogen“ (2017) war ein Buch auch über weibliche Wut, die Studentinnen, die Mithu Sanyal in „Identtiti“ (2021) auftreten lässt, sind auch nicht durch übermäßige Verdruckstheit gekennzeichnet. Hier kommen also die Neuzugänge für den squad. Charles und Gwen sind zwei struppige Mädchen, Teenager auf dem Sprung, die so gerade eben noch nicht in der Lage sind, aus ihren kaputten Elternhäusern auszuziehen.
Die Kaputtheit des Elternhauses entspringt im Fall von Charles den Neurosen einer heruntergekommenen Kreativklasse, die ihre Jugendjahre in den 1980er Jahren damit verbrachte, den schon zweiten Aufguss hippiesker Selbstverwirklichung zu gurgeln. Übrig geblieben ist aber nur ein saures Aufstoßen. Der Roman beginnt damit, dass Charles’ Vater, ein Maler, nackt durch Berlin rast, vorgeblich aus Protest gegen den Zustand des Kunstbetriebs, der ihn bloß verkennt – tatsächlich scheitert er am Kunstmarkt, dessen Kapitallogiken er nicht erfüllen kann. Seine Tochter hält sich nicht mehr damit auf, am Kapitalismus oder an anderen -ismen zu verzweifeln, sie handelt nur noch. Sie fängt ihren Erzeuger ein, verfrachtet ihn in ein Uber, ab nach Hause.
Dieses Zuhause in Berlin wird nur wenige Seiten später verloren gehen, die Familie zieht in ein Hausprojekt im Umland von Hildesheim, dort wohnen neben einer mittelalten Profi-Gamerin noch ein leicht aufgesexter Koch ohne Job und eine Erbin, deren Hauptbeschäftigung im Sonnenbaden besteht. Sie alle wollten eigentlich etwas anderes mit ihren Leben anfangen. Die große Eigentlichkeit, in der diese Erwachsenen leben, ist eine einzige Enttäuschung. Wenn auch nicht für Charles, sie immunisiert sich durch Einsicht: „Wenn ich meine Eltern sehe, sehe ich, was es heißt, wenn man an dieses Alles geglaubt hat und dann kapiert: Nix is.“
Nur ein paar Kilometer weiter steht die prächtige Villa von Gwens Eltern, Mutter Hausfrau mit Essstörung, Vater Geschäftsmann mit Betätigungsgebiet Thailand. Jedes Sonntagsfrühstück läuft mit der vorbildlichen Herzenskälte derer ab, deren Hauptinteresse die Reproduktion sozialer Klasse ist. Gwen gehört nicht dazu, aber statt mit gepanzerter Faust in diese Ordnung reinzuschlagen, die sie hervorgebracht hat und immer noch erhält, prügelt Gwen sich mit Jungs ihres Alters. Oder sie nimmt etwas ältere Typen aus, die sie auf Tinder aufgabelt, und denen sie beim Sex ihren verhauenen Körper zur Verfügung stellt. Während sie sich damit ihre Abgeklärtheit beweist, wird ihr durch die Begegnung mit Charles klar, dass ein anarchistisches Herz nicht von außen mit Teflon beschichtet sein muss, sondern dass es in seiner ursprünglichen, menschlichen Ausgabeform aus Muskelfaser und gut durchblutetem Gewebe schon perfekt ist.
Charles und Gwen lernen sich im Kiosk von Sinan kennen, einem Hildesheimer Philosophiestudenten mit Hauptberuf Süßigkeitenverkäufer. Die Freundschaft der beiden Mädchen erweist sich als die Geschichte der eigentlichen großen Liebe einer dann doch recht süßen Jugendzeit. Ein Zuckerschock ausgelöst durch Selbstbespiegelung in einer anderen, herrlicher Narzissmus, heiliger Narzissmus, unbändige Leidenschaft: „und was übrigblieb, waren unsere körper in der endlosen gegenwart“. Auf die Jungs wird ab diesem Zeitpunkt bestenfalls noch ein müder Fick gegeben.
„Unsere anarchistischen Herzen“ erzählt immer abwechselnd aus der Perspektive von Charles und Gwen, immer im Präsens, manchmal in langen Dialogen, manchmal in Sätzen ohne Punkt und Komma, Prosagedichten eigenen Rechts: „wenn die Resonanzräume zu wyld werden muss man sich von innen sanieren“. Einer der größten Verdienste des Romans ist es vermutlich, dass er am Soundarchiv einer Gegenwart arbeitet, die Charles und Gwen mehr beschwören als erleben. Denn tatsächlich driften die beiden immer wieder in ihre eigenen Gedankenwelten ab. Im Fall von Charles werden diese Reservate von Tieren bevölkert, mit denen sie spricht wie Kleinkinder mit Übergangsobjekten. Bei Gwen geht es um die seelischen Deformationen ihrer erbärmlichen Tinderdates, fiese Eltern oder deren grabbelnden Ü50-Freunde. All das wird in Chats mitgeteilt, deren sprachliche Wiedergabe in Literatur oft misslingt. Lisa Krusche hat sie mit leichter Hand hingetupft. Wer hätte das gedacht: Es gibt jetzt WhatsApp-Impressionismus. Funktioniert so das Hier-sein, Jetzt-sein?
Ja, aber dieser Impressionismus muss ausgedacht sein. Literarische Sprache, die besonders gegenwärtig klingen will, scheitert dann, wenn sie vor allem protokolliert, wie Leute sprechen. Sie gelingt, wenn sie diese Alltagskommunikation so artifiziell gestaltet, dass eine Restunsicherheit bleibt, ob das denn so hinkommt. Sagen Teenager jetzt: „Ich will nicht, dass Zuckerberg in meinem Dopaminhaushalt rumpfuscht“?
Vielleicht weiß Lisa Krusche das auch nicht so genau, sie ist ja kein Teenager mehr, sondern 1990 in Hildesheim geboren und Trägerin prestigeträchtiger Preise wie des Deutschlandfunk-Preises, den sie im vergangenen Jahr im Wettbewerb um den Bachmannpreis gewonnen hat. Was sie hier schafft, ist aber die überzeugende Fiktion einer Sprache, die durch die 400 Seiten eines Romans trägt, in dem zwei Stimmen sich abwechseln, und doch mit einer sprechen.
Die Kritik gefällt sich oft darin, eine solche Stimme als die der Jugend entdecken oder kritisieren zu dürfen, und das hat auch Lisa Krusche selbst beobachtet. Auf Instagram konnte man sehen, wie sie mit dem Handy ihren Computer abgefilmt hatte, auf dem die Literatursendung „Lesenswert“ des SWR lief. Darin klaubte Denis Scheck gerade seiner Meinung nach verhaltensauffällige Wörter aus ihrem Roman. Krusche ließ Schriftbänder über den Ausschnitt laufen, die Distanz und Stolz zugleich zum Ausdruck brachten. Diese Form der Selbstbeobachtung und des Kommentars zur Kritik des eigenen Buches spiegelt wiederum die Asymmetrie der Fernsehsendung: Autorinnen und Autoren sind dabei als Publikum normalerweise zum Schweigen verdammt, dafür können sich die Schecks dieser Welt nicht dagegen wehren, wenn auf Instagram zurückgetextet wird.
Wer sich für die literarische Gegenwart interessiert, ist aber nicht schlecht beraten, da zumindest mal reinzugucken. Die visuelle und ikonische Kommunikation mit Fotos und Emojis, die Referenzsysteme, die durch Vernetzung von Userinnen und Usern entstehen, sind nicht nur stilbildend für die Form eines Roman wie „Unsere anarchistischen Herzen“. Eine Fixierung aufs Visuelle ist auch im Erleben der Figuren entscheidend. Charles redet immer wieder von Hilma af Klint oder anderen Malerinnen, ihre Beschreibung des pittoresk vermüllten Gartens, in dem nun auf Wunsch ihrer verkrachten Eltern ein Teil ihres Lebens spielt, klingt nach schönster Landschaftsmalerei. Diese Perspektive wiederholt sich bei Gwen: „Mo macht es mir mit dem Mund, ich sehe ganz schön aus dabei“ schreibt sie an Charles. Was mit ihrem Körper passiert, ist immer auch schon bildliche Repräsentation des Geschehens.
Aber warum reicht es dann nicht aus, das auf Instagram zu belassen, warum muss diese bildreiche, emotional komplexe, dabei aber nicht sehr plotreiche Geschichte ausgerechnet im Medium der Literatur stattfinden? Die pathetische Antwort lautet, dass wer von der Kunst alles will, Text nicht zugunsten von Bild aufgeben darf. Konkret bedeutet das im Fall von Krusches Roman, dass sein Text auf andere Art und Weise Lücken lässt, als das Fotos und Bilder tun: Sätze, die gelegentlich ohne Subjekt aber mit starken Prädikaten auskommen, die auf Interpunktion und Adjektive verzichten, bieten Leerstellen an, in die sich Leserinnen und Leser selbst einpflegen können, wie sie wollen. Sie können ihre eigenen Ichs in die Geschichte einbauen, sofern es sich dabei um solche handelt, die anders als die Figuren im Roman noch Bücher lesen, weil sie nicht zu beschäftigt damit sind, zu leben.
In seiner menschlichen Form
aus gut durchblutetem Gewebe
ist so ein Herz schon perfekt
Instagram ist stilbildend für die
Form des Romans, warum reicht
ihm die Welt der Bilder nicht?
Lisa Krusche ist 1990 in Hildesheim geboren. „Unsere anarchistischen Herzen“ ist ihr Debütroman.
Foto: Julian Stratenschulte/picture alliance/dpa
Lisa Krusche:
Unsere anarchistischen Herzen. Roman.
S. Fischer, Frankfurt
am Main 2021.
448 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.08.2021Zuwendungsspeicher für harte Tage
Wenn sich die Welt dunkelrot verfärbt: Lisa Krusches Roman "Unsere anarchistischen Herzen"
Eines der vielen vergessenen Gefühle der Jugend ist das der Unverbundenheit. Diese tägliche Irritation über eine Welt aus Einkäufen, Zahnarztterminen und Meetings. Im Zimmer zu liegen, Blick an die Decke, ein Lichtjahr zwischen der Türschwelle und der Außenwelt mit ihren Bewohnern, die einem unsichtbaren Uhrwerk zu folgen scheinen. Die Schule als Füllmaterial, als Vorstufe dieses Alltags, auch nur ein Teil des Räderwerks, in das sich der innere Aufruhr nicht integrieren ließ.
In Lisa Krusches Buch "Unsere anarchistischen Herzen" gibt es auch Schulalltag. Er spielt aber keine Rolle. Ihre Protagonistinnen haben andere Probleme. Die eine, Charles, weil ihre Eltern in der Hoffnung auf späte Erleuchtung ein durchgesessenes Hippietheater aufführen, das ihre Tochter in die Rolle der einzigen Erwachsenen zwingt. Die andere, Gwen, weil Vater und Mutter sich mehr für die allabendliche Bestätigung ihres gesellschaftlichen Status interessieren als für die Ängste ihrer Tochter. Kollateralschaden: betrunkene Männer, Kollegen, Freunde, die Gwen mit anzüglichen Bemerkungen überhäufen. Beide Mädchen eint die Verzweiflung an der Welt hinter der Türschwelle, die sich zugrunde richtet und sie gleich mit - aber auch die Wehrhaftigkeit, mit der sie ihr begegnen.
Eine Erzählstimme also, in der diese Beobachtung des Niedergangs, diese Sehnsucht nach dem Umbruch mitschwingt: "Der erste Regen seit Wochen: Ich kann die Bäume hinter dem Haus aufatmen hören." Charles ist mit ihren Eltern aufs Land gezogen, in eine Kommune nahe Hildesheim. Beinahe nebenan wohnt Gwen. Aber bis sie einander treffen und retten können, vergeht noch viel Zeit, in der Charles zwischen einem Oktopus aus Plüsch und einer Bananenpflanze nach Sinn sucht. Gwen wiederum sieht ihr Leben vorgezeichnet: "Champagner in der Psychiatrie, wenn mein Mann mich verlässt, Beruhigungsmittel und Birkin zu Weihnachten, wenn er es nicht tut." Sie schaut zu, wie sich die Welt dunkelrot verfärbt und läuft dagegen an, verprügelt Jungs, sucht die Nähe der Unangepassten, schläft mit Fremden. Abends steht sie im Bad, und die Zahnpasta sieht aus wie eine Sternenexplosion. "Was hat das zu bedeuten?" Leider nichts.
Es hat etwas jugendlich Wahrhaftiges und erstaunlich Tröstliches, wie man hier vom Großen ins Kleine gebeamt wird, wie in Beobachtungen aus der Zimmerhöhle und Begegnungen mit dem Stadtstreicher, der natürlich auch etwas zum Chaos der Existenz zu sagen hat, gleichermaßen Bedeutung gesucht wird wie in einer pathetischen Selbstreflexion am Ende des Tages: "Das Seltsamste am Leben und vielleicht sein ganzes Geheimnis ist sein egozentrischer Drang nach sich selbst." Und dann schmiert man sich halt noch ein Toastbrot.
Krusches Figuren sind schonungslos zu sich und ehrlich, vielleicht sogar zu ehrlich für ihr Alter zu ihrem Umfeld, sie sind frech (Charles) und analytisch (Gwen), sie kreisen um sich - natürlich, welche Sechzehnjährige tut das nicht, dafür braucht es keine neue Generationenkritik - und erkennen doch das Ausmaß der Ungerechtigkeit: "Jede Zuwendung hätte ich gern als GIF, um es immer wieder abspielen zu können für die harten Tage." Manchmal verhalten sie sich allzu geschmeidig, so, wie es sich eine aufgeklärte Erwachsene von ihrem jüngeren Ich wünschen würde, aber übel nehmen kann man es ihnen auch nicht, dafür sind sie zu besonders, zu speziell.
Die Sprache, die Krusche gefunden hat, ist eine Collage aus poetischen Momentaufnahmen, Dialogen, Bewusstseinsströmen ohne Punkt und Komma und Instagram-Aphorismen, ist unverfälschtes Jugendklischee. Charles kann einen Look performen und an ihren Swag glauben und sich trotzdem an den leeren Kunstdiskursen ihrer Eltern abarbeiten. Wie sie miteinander sprechen und schreiben: eine Art hochgejazzte, narzisstische Intellektualität, die von Kapitel zu Kapitel die Perspektive wechselt und alle Fantasie auf das infrage gestellte Mittelstandsdasein überträgt, sodass sich immer wieder irre Überraschungen ergeben. Charles' Vater läuft nackt durch Charlottenburg. Sie reitet auf einem weißen Pony in die Stadt. Der Geschmack von Melonenkaugummi, der alles erträglicher macht, das Schmelzwasser von einem Kühlbeutel auf einem lädierten Ohr, das wild umher schwappt: "Die Wellen laufen von allen Seiten aufeinander zu, als würden ein paar übermütige Gedanken in der Mitte auf und ab springen und das Wasser mehr und mehr in Bewegung versetzen. Fast hört ich sie entzückt kreischen, wenn die Wellenbewegungen sie emporheben."
Lisa Krusche hat im vergangenen Jahr beim Wettbewerb in Klagenfurt den Deutschlandfunk-Preis gewonnen. Sie wird zu einer Generation von Autoren gezählt, denen man irgendwann das Joch der Stimme ihrer Generation aufgebürdet hat, um den Karren dann engagiert mit Stilkritik zu beladen, ein Schicksal, das auch ihren ersten Roman nach dem Erscheinen traf. Diejenigen, die zu wissen glaubten, dass so ganz sicher nicht die Jugend spricht, sagten es auch. Krusche ist jung, 1990 geboren, aber selbst kein Teil dieser Jugend mehr. Auch deshalb hat sie die Stimmen von Charles und Gwen ästhetisiert, verfremdet, ironisiert, ihren Blick auf ihre Eltern beinahe satirisch aufgeladen, aber eben genau so, wie junge Menschen es tun, wenn sie ihr Leben als Film, Roman, als unvollendetes Kunstwerk begreifen, wenn sie durch den Türrahmen auf das Dasein blicken.
Als sie sich dann doch noch treffen, ist es Liebe auf den ersten Blick. Charles vergleicht Gwens Lächeln mit dem ihres Vaters, dann trinken sie Eistee und schweigen. Als Gwen geht, schaut Charles ihr nach und konstatiert wieder einmal sehr poetisch: "Sie sieht aus wie eins dieser ganz blauen Bilder von Max Ernst." Glaubt doch keiner, dass die so was sagt? Doch. Alle, die sich noch erinnern können. ELENA WITZECK.
Lisa Krusche: "Unsere anarchistischen Herzen". Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2021. 448 S., geb., 23,- Euro. Ab 15 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn sich die Welt dunkelrot verfärbt: Lisa Krusches Roman "Unsere anarchistischen Herzen"
Eines der vielen vergessenen Gefühle der Jugend ist das der Unverbundenheit. Diese tägliche Irritation über eine Welt aus Einkäufen, Zahnarztterminen und Meetings. Im Zimmer zu liegen, Blick an die Decke, ein Lichtjahr zwischen der Türschwelle und der Außenwelt mit ihren Bewohnern, die einem unsichtbaren Uhrwerk zu folgen scheinen. Die Schule als Füllmaterial, als Vorstufe dieses Alltags, auch nur ein Teil des Räderwerks, in das sich der innere Aufruhr nicht integrieren ließ.
In Lisa Krusches Buch "Unsere anarchistischen Herzen" gibt es auch Schulalltag. Er spielt aber keine Rolle. Ihre Protagonistinnen haben andere Probleme. Die eine, Charles, weil ihre Eltern in der Hoffnung auf späte Erleuchtung ein durchgesessenes Hippietheater aufführen, das ihre Tochter in die Rolle der einzigen Erwachsenen zwingt. Die andere, Gwen, weil Vater und Mutter sich mehr für die allabendliche Bestätigung ihres gesellschaftlichen Status interessieren als für die Ängste ihrer Tochter. Kollateralschaden: betrunkene Männer, Kollegen, Freunde, die Gwen mit anzüglichen Bemerkungen überhäufen. Beide Mädchen eint die Verzweiflung an der Welt hinter der Türschwelle, die sich zugrunde richtet und sie gleich mit - aber auch die Wehrhaftigkeit, mit der sie ihr begegnen.
Eine Erzählstimme also, in der diese Beobachtung des Niedergangs, diese Sehnsucht nach dem Umbruch mitschwingt: "Der erste Regen seit Wochen: Ich kann die Bäume hinter dem Haus aufatmen hören." Charles ist mit ihren Eltern aufs Land gezogen, in eine Kommune nahe Hildesheim. Beinahe nebenan wohnt Gwen. Aber bis sie einander treffen und retten können, vergeht noch viel Zeit, in der Charles zwischen einem Oktopus aus Plüsch und einer Bananenpflanze nach Sinn sucht. Gwen wiederum sieht ihr Leben vorgezeichnet: "Champagner in der Psychiatrie, wenn mein Mann mich verlässt, Beruhigungsmittel und Birkin zu Weihnachten, wenn er es nicht tut." Sie schaut zu, wie sich die Welt dunkelrot verfärbt und läuft dagegen an, verprügelt Jungs, sucht die Nähe der Unangepassten, schläft mit Fremden. Abends steht sie im Bad, und die Zahnpasta sieht aus wie eine Sternenexplosion. "Was hat das zu bedeuten?" Leider nichts.
Es hat etwas jugendlich Wahrhaftiges und erstaunlich Tröstliches, wie man hier vom Großen ins Kleine gebeamt wird, wie in Beobachtungen aus der Zimmerhöhle und Begegnungen mit dem Stadtstreicher, der natürlich auch etwas zum Chaos der Existenz zu sagen hat, gleichermaßen Bedeutung gesucht wird wie in einer pathetischen Selbstreflexion am Ende des Tages: "Das Seltsamste am Leben und vielleicht sein ganzes Geheimnis ist sein egozentrischer Drang nach sich selbst." Und dann schmiert man sich halt noch ein Toastbrot.
Krusches Figuren sind schonungslos zu sich und ehrlich, vielleicht sogar zu ehrlich für ihr Alter zu ihrem Umfeld, sie sind frech (Charles) und analytisch (Gwen), sie kreisen um sich - natürlich, welche Sechzehnjährige tut das nicht, dafür braucht es keine neue Generationenkritik - und erkennen doch das Ausmaß der Ungerechtigkeit: "Jede Zuwendung hätte ich gern als GIF, um es immer wieder abspielen zu können für die harten Tage." Manchmal verhalten sie sich allzu geschmeidig, so, wie es sich eine aufgeklärte Erwachsene von ihrem jüngeren Ich wünschen würde, aber übel nehmen kann man es ihnen auch nicht, dafür sind sie zu besonders, zu speziell.
Die Sprache, die Krusche gefunden hat, ist eine Collage aus poetischen Momentaufnahmen, Dialogen, Bewusstseinsströmen ohne Punkt und Komma und Instagram-Aphorismen, ist unverfälschtes Jugendklischee. Charles kann einen Look performen und an ihren Swag glauben und sich trotzdem an den leeren Kunstdiskursen ihrer Eltern abarbeiten. Wie sie miteinander sprechen und schreiben: eine Art hochgejazzte, narzisstische Intellektualität, die von Kapitel zu Kapitel die Perspektive wechselt und alle Fantasie auf das infrage gestellte Mittelstandsdasein überträgt, sodass sich immer wieder irre Überraschungen ergeben. Charles' Vater läuft nackt durch Charlottenburg. Sie reitet auf einem weißen Pony in die Stadt. Der Geschmack von Melonenkaugummi, der alles erträglicher macht, das Schmelzwasser von einem Kühlbeutel auf einem lädierten Ohr, das wild umher schwappt: "Die Wellen laufen von allen Seiten aufeinander zu, als würden ein paar übermütige Gedanken in der Mitte auf und ab springen und das Wasser mehr und mehr in Bewegung versetzen. Fast hört ich sie entzückt kreischen, wenn die Wellenbewegungen sie emporheben."
Lisa Krusche hat im vergangenen Jahr beim Wettbewerb in Klagenfurt den Deutschlandfunk-Preis gewonnen. Sie wird zu einer Generation von Autoren gezählt, denen man irgendwann das Joch der Stimme ihrer Generation aufgebürdet hat, um den Karren dann engagiert mit Stilkritik zu beladen, ein Schicksal, das auch ihren ersten Roman nach dem Erscheinen traf. Diejenigen, die zu wissen glaubten, dass so ganz sicher nicht die Jugend spricht, sagten es auch. Krusche ist jung, 1990 geboren, aber selbst kein Teil dieser Jugend mehr. Auch deshalb hat sie die Stimmen von Charles und Gwen ästhetisiert, verfremdet, ironisiert, ihren Blick auf ihre Eltern beinahe satirisch aufgeladen, aber eben genau so, wie junge Menschen es tun, wenn sie ihr Leben als Film, Roman, als unvollendetes Kunstwerk begreifen, wenn sie durch den Türrahmen auf das Dasein blicken.
Als sie sich dann doch noch treffen, ist es Liebe auf den ersten Blick. Charles vergleicht Gwens Lächeln mit dem ihres Vaters, dann trinken sie Eistee und schweigen. Als Gwen geht, schaut Charles ihr nach und konstatiert wieder einmal sehr poetisch: "Sie sieht aus wie eins dieser ganz blauen Bilder von Max Ernst." Glaubt doch keiner, dass die so was sagt? Doch. Alle, die sich noch erinnern können. ELENA WITZECK.
Lisa Krusche: "Unsere anarchistischen Herzen". Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2021. 448 S., geb., 23,- Euro. Ab 15 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main