Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.07.1997Solo für Zwei
Martin Stingelin liest Nietzsche Lichtenberg lesend
Im Wintersemester 1872/73 hielt Friedrich Nietzsche in Basel eine nicht eben gut besuchte Vorlesung zur antiken Rhetorik. Der eine seiner beiden Hörer war Germanist, der andere Jurist. Als ihn dieser eines Abends besuchte, rief Nietzsche ihm entgegen: "Kennen Sie Lichtenberg? Lesen Sie ihn, lesen Sie ihn!" Man kann das Buch von Martin Stingelin als einen Kommentar zu dieser Szene lesen. Es erklärt die Emphase, mit der Nietzsche auf Lichtenberg verwies. Und es erklärt, warum die Lektüreempfehlung gerade an einen Hörer der Rhetorikvorlesung adressiert ist.
Den Interpreten Nietzsches ist seine Wertschätzung des Aphoristikers und Stilkritikers Lichtenberg seit langem bekannt. Stingelin bestätigt die Vermutung, daß er durch die Lektüre der "Parerga und Paralipomena" Schopenhauers auf den Göttinger Aufklärer aufmerksam wurde. Im übrigen aber geht er über das bisher Bekannte weit hinaus. Erstmalig hat er systematisch in der von Nietzsche benutzten Ausgabe der "Vermischten Schriften" Lichtenbergs von 1867 alle Lesespuren dingfest gemacht. Die Anstreichungen, Unterstreichungen, Glossen, Korrekturen und Eselsohren, auf die er gestoßen ist, sind im überaus nützlichen Anhang seiner Studie vollständig dokumentiert. In Fortschreibung der von Mazzino Montinari auf den Weg gebrachten historisch-kritischen Nietzsche-Philologie widerlegt Stingelin glanzvoll das zähe Vorurteil, die quellenkritische Methode sei eine Domäne ideenarmer Antiquare.
Die Lichtenberg-Spur führt ins Zentrum der aktuellen Debatten um die Ursprünge und die Reichweite von Nietzsches Sprach- und Vernunftkritik. Zu den Aphorismen Lichtenbergs, die Nietzsche mit roter Tinte anstrich, gehört auch der folgende, der in den letzten Jahren steigende Berühmtheit erlangt hat: "Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, so bald man es durch Ich denke übersetzt. Das Ich anzunehmen, zu postuliren, ist praktisches Bedürfniß."
Stingelins Ausgangspunkt ist der Ansatz der neuen Forschung, Lichtenbergs Sprachskepsis als Produkt der selbstreflexiven Elemente der Aufklärung im späten achtzehnten Jahrhundert zu sehen. Schon bei Lichtenberg, so zeigt sich, wird die Grammatik als heimliche Herrscherin im Reich der Gedanken kenntlich gemacht; in der sprachkritischen Ironisierung des Idealismus wird die Pluralisierung der Vernunft betrieben. Das Vertrauen in die Perfektibilität des Menschengeschlechts wurde dabei freilich nicht aufgegeben. Überzeugend arbeitet Stingelin heraus, daß dieser Lichtenberg, der mit der Gegenstandsgewißheit die Selbstgewißheit verlor und die Philosophie als "Berichtigung des Sprachgebrauchs" dachte, für Nietzsche wichtiger war, als die wenigen expliziten Bezugnahmen erkennen lassen.
Hinter dem Stilkritiker, der in der Polemik gegen den "Bildungsphilister" David Friedrich Strauss sein Bundesgenosse ist, entdeckt Nietzsche den Sprachskeptiker. Im kontinuierlichen, verschwiegen geführten Dialog mit Lichtenbergs konjunktivischen Gedankenexperimenten entwickelt der entlaufene Philologe in Basel seit der Abhandlung "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne" von 1873 das Projekt einer Anthropologie zwischen Rhetorik und historischer Genealogie der "Menschenfassungen".
Einer von Stingelins Belegen findet sich in den Notizen des Sommers 1875 im Umkreis der Entwürfe zu "Menschliches. Allzumenschliches" und "Richard Wagner in Bayreuth". "Die Vorurtheile sind, wie Lichtenberg sagt, die Kunsttriebe des Menschen." Es ist für Stingelins Verfahren charakteristisch, daß er an Stellen wie dieser auf eine begriffsgeschichtliche Erläuterung verzichtet. Wichtiger ist ihm die konsequente Aktualisierung der von Nietzsche mit Lichtenberg vollzogenen Gedankenbewegung. Statt die historische Semantik der "Kunsttrieb"-Formel im Blick auf Hermann Samuel Reimarus' "Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Tiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe" von 1760 zu verfolgen, konzentriert er sich auf die Verbindungslinien, die von Nietzsches Adaption des Begriffs zur Grundthese der Psychoanalyse Jacques Lacans führen, derzufolge das Unbewußte wie eine Sprache organisiert ist.
Zugleich liest er die Sprachkritik Nietzsches als Vorgeschichte von Foucaults systematischem "Skeptizismus hinsichtlich anthropologischer Universalien". So will er in Nietzsches derzeit viel diskutiertem Interesse an der Rhetorik die anthropologische Dimension und im Entwurf einer physiologisch inspirierten Anthropologie die rhetorische Dimension sichtbar machen. Nietzsches mit Lichtenberg gelesene Theorie der Metapher erscheint so nicht nur als Sprachkritik. Sie prägt noch die "genealogische Interpretation der Gegenwart" in Nietzsches Spätwerk, dessen Dekadenztheorie Stingelin am Beispiel der Typologie des Verbrechers als "angewandte Metaphorologie" deutet.
Die Vorlesung zur antiken Rhetorik von 1872/73 ist für Stingelins Studie die Funktion eine Schlüsselquelle. Sie war das Laboratorium, in dem Nietzsches Anthropologie aus dem Geist der Sprachkritik entstand. Lichtenbergs in witziger Umkehrung von Reimarus entlehnte Formel von den "Kunsttrieben der Menschen" kehrt darin in dem Gedanken wieder, "daß die Rhetorik eine Fortbildung der in der Sprache gelegenen Kunstmittel ist. Es giebt gar keine unrhetorische ,Natürlichkeit' der Sprache, an die man appellieren könnte: die Sprache selbst ist das Resultat von lauter rhetorischen Künsten." In so einer Passage sieht Stingelin, dessen Interesse an der Kritik der "performativen Gewalt der Sprache" bewußt auf die Machtkritik Foucaults zurückgeht, die Prämissen von Foucaults Genealogie vorformuliert. Im Dementi der "Natürlichkeit" der Sprache, so die These, wird bei Lichtenberg wie bei Nietzsche stets die des Menschen in Zweifel gezogen.
Daß dieses mit zum Teil exkursartigen Fußnoten gespickte, terminologisch dichte Buch aus einer Dissertation hervorgegangen ist, verleugnet es an keiner Stelle. Der Autor selbst bezeichnet gelegentlich sein quellenkritisches Verfahren als Versuch, Nietzsche bei seiner Lektüre zu überraschen. Doch hält seine Studie mehr, als sie verspricht: Sie überrascht Nietzsche beim Denken. LOTHAR MÜLLER
Martin Stingelin: "Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs". Friedrich Nietzsches Lichtenberg-Rezeption im Spannungsfeld zwischen Sprachkritik (Rhetorik) und historischer Kritik (Genealogie). Wilhelm Fink Verlag, München 1996. 256 S., br., 68,- DM.
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Martin Stingelin liest Nietzsche Lichtenberg lesend
Im Wintersemester 1872/73 hielt Friedrich Nietzsche in Basel eine nicht eben gut besuchte Vorlesung zur antiken Rhetorik. Der eine seiner beiden Hörer war Germanist, der andere Jurist. Als ihn dieser eines Abends besuchte, rief Nietzsche ihm entgegen: "Kennen Sie Lichtenberg? Lesen Sie ihn, lesen Sie ihn!" Man kann das Buch von Martin Stingelin als einen Kommentar zu dieser Szene lesen. Es erklärt die Emphase, mit der Nietzsche auf Lichtenberg verwies. Und es erklärt, warum die Lektüreempfehlung gerade an einen Hörer der Rhetorikvorlesung adressiert ist.
Den Interpreten Nietzsches ist seine Wertschätzung des Aphoristikers und Stilkritikers Lichtenberg seit langem bekannt. Stingelin bestätigt die Vermutung, daß er durch die Lektüre der "Parerga und Paralipomena" Schopenhauers auf den Göttinger Aufklärer aufmerksam wurde. Im übrigen aber geht er über das bisher Bekannte weit hinaus. Erstmalig hat er systematisch in der von Nietzsche benutzten Ausgabe der "Vermischten Schriften" Lichtenbergs von 1867 alle Lesespuren dingfest gemacht. Die Anstreichungen, Unterstreichungen, Glossen, Korrekturen und Eselsohren, auf die er gestoßen ist, sind im überaus nützlichen Anhang seiner Studie vollständig dokumentiert. In Fortschreibung der von Mazzino Montinari auf den Weg gebrachten historisch-kritischen Nietzsche-Philologie widerlegt Stingelin glanzvoll das zähe Vorurteil, die quellenkritische Methode sei eine Domäne ideenarmer Antiquare.
Die Lichtenberg-Spur führt ins Zentrum der aktuellen Debatten um die Ursprünge und die Reichweite von Nietzsches Sprach- und Vernunftkritik. Zu den Aphorismen Lichtenbergs, die Nietzsche mit roter Tinte anstrich, gehört auch der folgende, der in den letzten Jahren steigende Berühmtheit erlangt hat: "Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, so bald man es durch Ich denke übersetzt. Das Ich anzunehmen, zu postuliren, ist praktisches Bedürfniß."
Stingelins Ausgangspunkt ist der Ansatz der neuen Forschung, Lichtenbergs Sprachskepsis als Produkt der selbstreflexiven Elemente der Aufklärung im späten achtzehnten Jahrhundert zu sehen. Schon bei Lichtenberg, so zeigt sich, wird die Grammatik als heimliche Herrscherin im Reich der Gedanken kenntlich gemacht; in der sprachkritischen Ironisierung des Idealismus wird die Pluralisierung der Vernunft betrieben. Das Vertrauen in die Perfektibilität des Menschengeschlechts wurde dabei freilich nicht aufgegeben. Überzeugend arbeitet Stingelin heraus, daß dieser Lichtenberg, der mit der Gegenstandsgewißheit die Selbstgewißheit verlor und die Philosophie als "Berichtigung des Sprachgebrauchs" dachte, für Nietzsche wichtiger war, als die wenigen expliziten Bezugnahmen erkennen lassen.
Hinter dem Stilkritiker, der in der Polemik gegen den "Bildungsphilister" David Friedrich Strauss sein Bundesgenosse ist, entdeckt Nietzsche den Sprachskeptiker. Im kontinuierlichen, verschwiegen geführten Dialog mit Lichtenbergs konjunktivischen Gedankenexperimenten entwickelt der entlaufene Philologe in Basel seit der Abhandlung "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne" von 1873 das Projekt einer Anthropologie zwischen Rhetorik und historischer Genealogie der "Menschenfassungen".
Einer von Stingelins Belegen findet sich in den Notizen des Sommers 1875 im Umkreis der Entwürfe zu "Menschliches. Allzumenschliches" und "Richard Wagner in Bayreuth". "Die Vorurtheile sind, wie Lichtenberg sagt, die Kunsttriebe des Menschen." Es ist für Stingelins Verfahren charakteristisch, daß er an Stellen wie dieser auf eine begriffsgeschichtliche Erläuterung verzichtet. Wichtiger ist ihm die konsequente Aktualisierung der von Nietzsche mit Lichtenberg vollzogenen Gedankenbewegung. Statt die historische Semantik der "Kunsttrieb"-Formel im Blick auf Hermann Samuel Reimarus' "Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Tiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe" von 1760 zu verfolgen, konzentriert er sich auf die Verbindungslinien, die von Nietzsches Adaption des Begriffs zur Grundthese der Psychoanalyse Jacques Lacans führen, derzufolge das Unbewußte wie eine Sprache organisiert ist.
Zugleich liest er die Sprachkritik Nietzsches als Vorgeschichte von Foucaults systematischem "Skeptizismus hinsichtlich anthropologischer Universalien". So will er in Nietzsches derzeit viel diskutiertem Interesse an der Rhetorik die anthropologische Dimension und im Entwurf einer physiologisch inspirierten Anthropologie die rhetorische Dimension sichtbar machen. Nietzsches mit Lichtenberg gelesene Theorie der Metapher erscheint so nicht nur als Sprachkritik. Sie prägt noch die "genealogische Interpretation der Gegenwart" in Nietzsches Spätwerk, dessen Dekadenztheorie Stingelin am Beispiel der Typologie des Verbrechers als "angewandte Metaphorologie" deutet.
Die Vorlesung zur antiken Rhetorik von 1872/73 ist für Stingelins Studie die Funktion eine Schlüsselquelle. Sie war das Laboratorium, in dem Nietzsches Anthropologie aus dem Geist der Sprachkritik entstand. Lichtenbergs in witziger Umkehrung von Reimarus entlehnte Formel von den "Kunsttrieben der Menschen" kehrt darin in dem Gedanken wieder, "daß die Rhetorik eine Fortbildung der in der Sprache gelegenen Kunstmittel ist. Es giebt gar keine unrhetorische ,Natürlichkeit' der Sprache, an die man appellieren könnte: die Sprache selbst ist das Resultat von lauter rhetorischen Künsten." In so einer Passage sieht Stingelin, dessen Interesse an der Kritik der "performativen Gewalt der Sprache" bewußt auf die Machtkritik Foucaults zurückgeht, die Prämissen von Foucaults Genealogie vorformuliert. Im Dementi der "Natürlichkeit" der Sprache, so die These, wird bei Lichtenberg wie bei Nietzsche stets die des Menschen in Zweifel gezogen.
Daß dieses mit zum Teil exkursartigen Fußnoten gespickte, terminologisch dichte Buch aus einer Dissertation hervorgegangen ist, verleugnet es an keiner Stelle. Der Autor selbst bezeichnet gelegentlich sein quellenkritisches Verfahren als Versuch, Nietzsche bei seiner Lektüre zu überraschen. Doch hält seine Studie mehr, als sie verspricht: Sie überrascht Nietzsche beim Denken. LOTHAR MÜLLER
Martin Stingelin: "Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs". Friedrich Nietzsches Lichtenberg-Rezeption im Spannungsfeld zwischen Sprachkritik (Rhetorik) und historischer Kritik (Genealogie). Wilhelm Fink Verlag, München 1996. 256 S., br., 68,- DM.
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