WARUM ERZÄHLEN?
Thomas Hettches Essays sind ebenso genaue Diagnosen unserer krisengeschüttelten, entzauberten Moderne wie mutige Bestandsaufnahmen seines eigenen Bewusstseins und Denkens. Eine Frage bestimmt das Schreiben dieses Autors: Welche Tröstung kann Literatur für unsere leeren Herzen heute noch bieten?»Unsere leeren Herzen« setzt nach »Fahrtenbuch« und »Totenberg« Thomas Hettches essayistisch-erzählerischen Erkundungen fort, mit denen er, neben dem hochgerühmten Romanwerk, seine intellektuelle Autobiografie fortschreibt.Ohne kulturpessimistische Larmoyanz, aber im Wissen, dass sich metaphysische Sinnfragen in unseren fundamental bedrohten westlichen Gesellschaften immer dringlicher stellen, befragt Thomas Hettche in seinen Essays leidenschaftlich die Literatur nach ihrem Sinn und ihrer Zukunft. Gegen den naiven Glauben einer Abbildbarkeit der Welt, der unsere Gegenwart beherrscht und das Glücks- wie das Erkenntnisversprechen der Literatur verrät, spürt Hettche in »Unsere leeren Herzen« den Quellen eines anderen Realismus, ja einer anderen Moderne nach.
Über Thomas Mann, E. T. A. Hoffmann, Marcel Proust, Rainer Maria Rilke, Wilhelm Raabe, Ernst Jünger, Karl Ove Knausgård, Thomas Brasch, Franz Fühmann, Peter Kurzeck, Georg Lukács, Wolfgang Koeppen, Immanuel Kant, Ovid, Robert Louis Stevenson, Paulus Böhmer, David Bowie, Michel Houellebecq u.v.a.
Thomas Hettches Essays sind ebenso genaue Diagnosen unserer krisengeschüttelten, entzauberten Moderne wie mutige Bestandsaufnahmen seines eigenen Bewusstseins und Denkens. Eine Frage bestimmt das Schreiben dieses Autors: Welche Tröstung kann Literatur für unsere leeren Herzen heute noch bieten?»Unsere leeren Herzen« setzt nach »Fahrtenbuch« und »Totenberg« Thomas Hettches essayistisch-erzählerischen Erkundungen fort, mit denen er, neben dem hochgerühmten Romanwerk, seine intellektuelle Autobiografie fortschreibt.Ohne kulturpessimistische Larmoyanz, aber im Wissen, dass sich metaphysische Sinnfragen in unseren fundamental bedrohten westlichen Gesellschaften immer dringlicher stellen, befragt Thomas Hettche in seinen Essays leidenschaftlich die Literatur nach ihrem Sinn und ihrer Zukunft. Gegen den naiven Glauben einer Abbildbarkeit der Welt, der unsere Gegenwart beherrscht und das Glücks- wie das Erkenntnisversprechen der Literatur verrät, spürt Hettche in »Unsere leeren Herzen« den Quellen eines anderen Realismus, ja einer anderen Moderne nach.
Über Thomas Mann, E. T. A. Hoffmann, Marcel Proust, Rainer Maria Rilke, Wilhelm Raabe, Ernst Jünger, Karl Ove Knausgård, Thomas Brasch, Franz Fühmann, Peter Kurzeck, Georg Lukács, Wolfgang Koeppen, Immanuel Kant, Ovid, Robert Louis Stevenson, Paulus Böhmer, David Bowie, Michel Houellebecq u.v.a.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.03.2018Ein ethisches Herz
Fragile Kraft: Thomas Hettche verwahrt sich in seinem Essayband "Unsere leeren Herzen" gegen schnöden Kulturpessimismus und beschwört die Kraft der Literatur
Während allerorten über die Krise der Literatur und ihres Marktes gesprochen wird und gesprochen werden muss, erscheint ein Buch, in taubenblaues Leinen gebunden, die Schrift in dunklem Rot darauf geprägt, dessen selbstbewusste Gestalt allein - dieses Bekenntnis zum Stofflichen und Haptischen, zur Wertigkeit des Objekts - nicht nur ein hoffnungsfroh stimmender Kommentar zu dieser Krise sein mag, sondern auch ein Teil der Antwort auf die Frage, die anstelle eines Klappentextes auf dem Umschlag von Thomas Hettches Essays zu lesen ist: "Welche Tröstung kann Literatur unseren leeren Herzen heute noch sein?" In 21 Essays rückt Hettche unter anderem den Realismus des vermeintlichen Philisters Wilhelm Raabe in ein neues Licht, diskutiert am Beispiel von Wolfgang Koeppen und Siegfried Unseld das Verhältnis von Autor und Verleger oder ruft den Mythos von der Häutung des Marsyas auf, um das unvermeidbar Schmerzhafte der Interpretation und erst recht der Kritik ins Bild zu setzen.
Nichts weniger unternimmt Thomas Hettche in "Unsere leeren Herzen", der neben seinen Romanen mit "Fahrtenbuch 1993-2007" (2007) und "Totenberg" (2012) bereits zwei Essaybände veröffentlicht hat, als universelle Daseinsfragen an die Literatur, ihre Produktions- und Rezeptionsweisen zu richten, was beglückender- und produktiverweise nicht im notorischen Modus des Alarmismus geschieht. Stattdessen schließt Hettche permanent Denkräume auf, in denen nicht Niedergang subsumiert wird, sondern die Möglichkeiten der Literatur verhandelt werden, was umso notwendiger erscheint angesichts der gesellschaftspolitischen Erschütterungen der Gegenwart. "Könnte nicht vielleicht jenes große Nicht mehr genauso gut wieder ein Noch nicht sein? Zumindest in der Literatur? Haben wir uns nicht viel zu sehr daran gewöhnt, immer nur als Verfallsgeschichte zu sehen, was doch mit Fug und Recht auch ein Werdendes genannt werden könnte?"
Hettche schöpft dabei aus dem Prinzip der essayistischen Form, das anstelle der Verkündung unumstößlicher Wahrheiten im probeweisen Ausloten der Gedanken besteht. Und so liegt denn sowohl das erkenntnisstiftende als auch das tröstende Potential der Literatur für ihn ebenfalls stets in einer Bewegung, die allenfalls scheinbar für einen ungreifbaren Moment zum Stillstand kommt. Der literarische Text vollziehe eine beständige Überführung von Innerlichkeit in Form, also in Sprache, der Hettche ein "ethisches Herz" zuerkennt. Die Fiktion vermag, so Hettche, beim Leser die Erfahrung zu erzeugen, "plötzlich etwas nahe zu sein, von dem man nicht zu sagen vermag, was es eigentlich sei", einer Erkenntnis genauso wie einer Emotion, so dass das Lesen Ahnung und Sehnsucht gleichermaßen erzeugt.
Damit spricht Hettche der Literatur religiöse Qualitäten zu - nicht zufällig ist es einmal der Besuch des Mindener Doms und einmal der Kirche eines Benediktinerklosters nahe Berlin, die seine Gedanken flankieren. Eben darin besteht nicht zuletzt die Gegenwartsrelevanz von Literatur. Über den Einbruch des Terrors in unseren Alltag heißt es: "Indem der Terror zu unserer Wirklichkeit wird, zeigt er die Lügenhaftigkeit einer Realität, von der man versprach, sie komme ohne Opfer und ohne Transzendenz aus." Im Umkehrschluss, und das ist vielleicht die gewagteste Hypothese in diesem Band, müsste Literatur wieder zu einer das Säkulare in seinem Absolutheitsanspruch aufbrechenden Größe werden und damit die Leerstelle schließen, die nach dem Ende der Religion klafft.
Das Buch selbst sieht der Autor als Konterpart zur digitalen Unendlichkeit, ohne dass diese, wie in der üblichen kulturkritischen Erzählung, es gleichsam zu verschlingen drohte. Im Gegenteil. Bei Hettche gewinnt das Buch seine Kraft gerade aus der Abgeschlossenheit, ähnlich einem heiligen Text, dessen Begrenzung unbedingt zwingend ist. Das mag mehr Hoffnung denn Bestandsaufnahme sein, aber womöglich muss man es nur einmal mehr beschwören, damit es zur Prophetie gerät.
Angesichts solcher sich federleicht und stilistisch formvollendet über schnöden Kulturpessimismus hinwegsetzenden Reflexionen erscheint die Auseinandersetzung mit Karl Ove Knausgård - dem Hettche ein Mitschreiben der Realität im Stile einer Gesundheits-App attestiert, dessen Lesern lustvolle Regression - regelrecht störend. Allzu offensichtlich scheint die Auseinandersetzung ein gereizter Reflex auf ein Marktphänomen zu sein. Aber das sieht man diesem Band gern nach.
Hettches Essays, so fundiert und materialreich sie einerseits sind, so bewusst literarisch sind sie andererseits gehalten, voll des Glaubens an eine utopische und gleichsam magische Wirkkraft der Literatur, was dazu führt, dass zwangsläufig immer wieder Sätze darin auftauchen, die sich, während sie nachhallen, womöglich nicht bis ins Letzte aufschlüsseln lassen. Aber gerade darin besteht ihre Qualität. So wie Hettche über das beständige Empfinden einer vagen Nähe während der Lektüre von Fiktion geschrieben hat, die Sehnsucht und deren Erfüllung beschert und zugleich verwehrt, so bewahren seine eigenen Essays einen Schwebezustand, der sie davor schützt, der Literatur programmatische Schularbeiten aufzugeben, sei es als Verpflichtung auf politisches Engagement oder auf artistische Virtuosität.
Bei aller ästhetisch-intellektuellen Beschlagenheit bleibt Hettches Texten zuletzt etwas Fragiles, eben weil sie immer auch jene Fragilitäten - Angst, Schmerz und Tod - befragen. "Wie banne ich meinen Schmerz? Was tue ich mit meiner Angst?", heißt es etwa, und ein paar Zeilen darauf: "Ich glaube, daß es die Kunst gibt, um der Phantasie zu entkommen und den Schrecken, die sie gebiert." Wiederum ein Aspekt, den man gemeinhin vielleicht zunächst andersherum gedacht hätte: Literatur als das Medium, das Phantasie stiftet, sie nicht bezwingt. Nur eine der vielen Denkbewegungen, die Thomas Hettche anstößt.
WIEBKE POROMBKA
Thomas Hettche: "Unsere leeren Herzen". Über Literatur.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 208 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fragile Kraft: Thomas Hettche verwahrt sich in seinem Essayband "Unsere leeren Herzen" gegen schnöden Kulturpessimismus und beschwört die Kraft der Literatur
Während allerorten über die Krise der Literatur und ihres Marktes gesprochen wird und gesprochen werden muss, erscheint ein Buch, in taubenblaues Leinen gebunden, die Schrift in dunklem Rot darauf geprägt, dessen selbstbewusste Gestalt allein - dieses Bekenntnis zum Stofflichen und Haptischen, zur Wertigkeit des Objekts - nicht nur ein hoffnungsfroh stimmender Kommentar zu dieser Krise sein mag, sondern auch ein Teil der Antwort auf die Frage, die anstelle eines Klappentextes auf dem Umschlag von Thomas Hettches Essays zu lesen ist: "Welche Tröstung kann Literatur unseren leeren Herzen heute noch sein?" In 21 Essays rückt Hettche unter anderem den Realismus des vermeintlichen Philisters Wilhelm Raabe in ein neues Licht, diskutiert am Beispiel von Wolfgang Koeppen und Siegfried Unseld das Verhältnis von Autor und Verleger oder ruft den Mythos von der Häutung des Marsyas auf, um das unvermeidbar Schmerzhafte der Interpretation und erst recht der Kritik ins Bild zu setzen.
Nichts weniger unternimmt Thomas Hettche in "Unsere leeren Herzen", der neben seinen Romanen mit "Fahrtenbuch 1993-2007" (2007) und "Totenberg" (2012) bereits zwei Essaybände veröffentlicht hat, als universelle Daseinsfragen an die Literatur, ihre Produktions- und Rezeptionsweisen zu richten, was beglückender- und produktiverweise nicht im notorischen Modus des Alarmismus geschieht. Stattdessen schließt Hettche permanent Denkräume auf, in denen nicht Niedergang subsumiert wird, sondern die Möglichkeiten der Literatur verhandelt werden, was umso notwendiger erscheint angesichts der gesellschaftspolitischen Erschütterungen der Gegenwart. "Könnte nicht vielleicht jenes große Nicht mehr genauso gut wieder ein Noch nicht sein? Zumindest in der Literatur? Haben wir uns nicht viel zu sehr daran gewöhnt, immer nur als Verfallsgeschichte zu sehen, was doch mit Fug und Recht auch ein Werdendes genannt werden könnte?"
Hettche schöpft dabei aus dem Prinzip der essayistischen Form, das anstelle der Verkündung unumstößlicher Wahrheiten im probeweisen Ausloten der Gedanken besteht. Und so liegt denn sowohl das erkenntnisstiftende als auch das tröstende Potential der Literatur für ihn ebenfalls stets in einer Bewegung, die allenfalls scheinbar für einen ungreifbaren Moment zum Stillstand kommt. Der literarische Text vollziehe eine beständige Überführung von Innerlichkeit in Form, also in Sprache, der Hettche ein "ethisches Herz" zuerkennt. Die Fiktion vermag, so Hettche, beim Leser die Erfahrung zu erzeugen, "plötzlich etwas nahe zu sein, von dem man nicht zu sagen vermag, was es eigentlich sei", einer Erkenntnis genauso wie einer Emotion, so dass das Lesen Ahnung und Sehnsucht gleichermaßen erzeugt.
Damit spricht Hettche der Literatur religiöse Qualitäten zu - nicht zufällig ist es einmal der Besuch des Mindener Doms und einmal der Kirche eines Benediktinerklosters nahe Berlin, die seine Gedanken flankieren. Eben darin besteht nicht zuletzt die Gegenwartsrelevanz von Literatur. Über den Einbruch des Terrors in unseren Alltag heißt es: "Indem der Terror zu unserer Wirklichkeit wird, zeigt er die Lügenhaftigkeit einer Realität, von der man versprach, sie komme ohne Opfer und ohne Transzendenz aus." Im Umkehrschluss, und das ist vielleicht die gewagteste Hypothese in diesem Band, müsste Literatur wieder zu einer das Säkulare in seinem Absolutheitsanspruch aufbrechenden Größe werden und damit die Leerstelle schließen, die nach dem Ende der Religion klafft.
Das Buch selbst sieht der Autor als Konterpart zur digitalen Unendlichkeit, ohne dass diese, wie in der üblichen kulturkritischen Erzählung, es gleichsam zu verschlingen drohte. Im Gegenteil. Bei Hettche gewinnt das Buch seine Kraft gerade aus der Abgeschlossenheit, ähnlich einem heiligen Text, dessen Begrenzung unbedingt zwingend ist. Das mag mehr Hoffnung denn Bestandsaufnahme sein, aber womöglich muss man es nur einmal mehr beschwören, damit es zur Prophetie gerät.
Angesichts solcher sich federleicht und stilistisch formvollendet über schnöden Kulturpessimismus hinwegsetzenden Reflexionen erscheint die Auseinandersetzung mit Karl Ove Knausgård - dem Hettche ein Mitschreiben der Realität im Stile einer Gesundheits-App attestiert, dessen Lesern lustvolle Regression - regelrecht störend. Allzu offensichtlich scheint die Auseinandersetzung ein gereizter Reflex auf ein Marktphänomen zu sein. Aber das sieht man diesem Band gern nach.
Hettches Essays, so fundiert und materialreich sie einerseits sind, so bewusst literarisch sind sie andererseits gehalten, voll des Glaubens an eine utopische und gleichsam magische Wirkkraft der Literatur, was dazu führt, dass zwangsläufig immer wieder Sätze darin auftauchen, die sich, während sie nachhallen, womöglich nicht bis ins Letzte aufschlüsseln lassen. Aber gerade darin besteht ihre Qualität. So wie Hettche über das beständige Empfinden einer vagen Nähe während der Lektüre von Fiktion geschrieben hat, die Sehnsucht und deren Erfüllung beschert und zugleich verwehrt, so bewahren seine eigenen Essays einen Schwebezustand, der sie davor schützt, der Literatur programmatische Schularbeiten aufzugeben, sei es als Verpflichtung auf politisches Engagement oder auf artistische Virtuosität.
Bei aller ästhetisch-intellektuellen Beschlagenheit bleibt Hettches Texten zuletzt etwas Fragiles, eben weil sie immer auch jene Fragilitäten - Angst, Schmerz und Tod - befragen. "Wie banne ich meinen Schmerz? Was tue ich mit meiner Angst?", heißt es etwa, und ein paar Zeilen darauf: "Ich glaube, daß es die Kunst gibt, um der Phantasie zu entkommen und den Schrecken, die sie gebiert." Wiederum ein Aspekt, den man gemeinhin vielleicht zunächst andersherum gedacht hätte: Literatur als das Medium, das Phantasie stiftet, sie nicht bezwingt. Nur eine der vielen Denkbewegungen, die Thomas Hettche anstößt.
WIEBKE POROMBKA
Thomas Hettche: "Unsere leeren Herzen". Über Literatur.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 208 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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