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Produktdetails
  • Verlag: Wartberg
  • Seitenzahl: 63
  • Deutsch
  • Abmessung: 325mm
  • Gewicht: 716g
  • ISBN-13: 9783831311859
  • ISBN-10: 3831311854
  • Artikelnr.: 09958590
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.01.2002

Aufbruch mit Schulranzen und Schichtunterricht
Hessens Schulen in den fünfziger Jahren / Bildband

FRANKFURT. Kurze Lederhosen, lange Zöpfe und die Schiefertafel im Ranzen: ein typisches Bild an Hessens Schulen - in den fünfziger Jahren. Doch hinter der Idylle verbarg sich oft auch viel Leid. Schüler und Lehrer mußten mit Notstand und Mangel zurechtkommen, konnten aber auch teilhaben am Neubeginn und den Aufbruch mitgestalten - eine Zeit der ständigen Ambivalenz. Gustav Hildebrand, damals in Hessen und vor allem in Frankfurt für den Seriendienst der Deutschen Presse-Agentur unterwegs, hat die Stimmung der damaligen Zeit in seinen Bildern eingefangen. Sein jetzt erschienenes Buch "Unsere Schulzeit in den 50er Jahren - Hessen" wartet zudem mit einer Besonderheit auf: Um dem Buch größtmögliche Authentizität zu verleihen, wurden Originaltexte aus den Fünfzigern verwendet. Formulierungen, Ansichten und Themen der damaligen Zeit zaubern dem Leser heute so manches Mal ein Lächeln auf das Gesicht.

Probleme bereitete Eltern vor fünfzig Jahren unter anderem die "Eitelkeit" ihrer Zöglinge, die den "unmodischen" Schulranzen gegen eine Aktentasche eintauschen wollten. Diese wiederum sei jedoch für die Körperhaltung schädlich, berichtete Hildebrand damals, denn "das Gewicht verlagert sich auf eine Seite". Außerdem verhindere eine Tasche "das Mitschwingen der Arme im Rhythmus des Gehens. Für eine gute Haltung und einen weichen elastischen Gang ist dies aber unerläßlich."

Auch unter der Überschrift "Sicheres Auftreten will gelernt sein - Spezialkurse für Frauen" verbirgt sich ein historisches Kleinod: Klienten der Frankfurter Komorowski-Schule waren "Frauen, deren Männer Karriere gemacht, höhere Positionen erreicht haben". Diese Frauen sollten lernen, "wie sie an der Seite ihres Mannes aufzutreten haben" und wie sie "gesellschaftliche Verpflichtungen wahrnehmen müssen".

Doch die damalige Bildungsgemeinde - an der Spitze das hessische Ministerium für "Kultus und Unterricht", später für "Justiz, Erziehung und Volksbildung" unter Erwin Stein - hatte auch mit ernsten Schwierigkeiten zu kämpfen, die ihre Ursachen noch im Zweiten Weltkrieg hatten. Durch die Zerstörungen war Schulraum knapp. In Frankfurt waren vor dem Krieg für 65 000 Schüler 2080 Klassenräume vorhanden, in den fünfziger Jahren für 102 000 Schüler nur 1654 Räume, berichtet Hildebrand. Auch herrschte ein Mangel an Lehrern, viele waren im Krieg gefallen, zu Beginn der fünfziger Jahre noch in Gefangenschaft oder durften nach der Entnazifizierung nicht mehr unterrichten. Gleichzeitig stieg die Schülerzahl unter anderem durch die zahllosen Flüchtlinge.

In Hessen war die Einwohnerzahl bis Ende 1946 auf 4,5 Millionen gestiegen. Das Resultat waren Klassen mit bis zu 60 Kindern, im Durchschnitt kamen auf einen Lehrer zwischen 85 und 120 Kinder. Als Lösung des Dilemmas wurde der "Schichtunterricht" eingeführt: Abwechselnd am Vor- und Nachmittag gingen die Schüler in den Unterricht. Dadurch würden manche Kinder nervös, appetitlos und litten an Schlafstörungen, klagten allerdings viele besorgte Eltern.

Vor fünfzig Jahren mußten sich Erzieher auch über das Phänomen des "Schlüsselkindes" Gedanken machen, in der Bundesrepublik waren es etwa zwei Millionen Jungen und Mädchen, die nach der Schule immer alleine zu Hause waren. Einen "lobenswerten Versuch zur Lösung dieses Problems hat die Stadt Frankfurt mit der Einrichtung einer Tagesheimschule gemacht", ist bei Hildebrand zu lesen. Dort konnten sich Kinder bis 17 Uhr "gegen eine geringe Gebühr" für Mittagessen und Kaffee unter Aufsicht aufhalten.

Es fehlte an allem, an Unterrichts- und Heizmaterialien und an Nahrung. Viele Schüler kamen oft hungrig in den Unterricht. Gegen die Mangelernährung sollte die "Schulspeisung" helfen. Wenigstens wurde die Prügelstrafe abgeschafft - offiziell. Damalige Schüler wie Michael Damian, Referent der Frankfurter Schuldezernentin Jutta Ebeling, erinnern sich aber noch an Schläge mit dem Rohrstock auf die Hand: "Es war eine steinerne Zeit, viele Lehrer kamen traumatisiert von den Erlebnissen des Krieges zu ihren Schülern zurück." Der ständige Frontalunterricht sei zermürbend gewesen. Damals habe das Motto gelautet: "Wenn alles schläft und einer spricht, so nennt man dieses Unterricht." Oft seien zwei Klassen in einem Raum von einem Lehrer unterrichtet worden: "Während die eine Klasse still vor sich hinrechnete, mußte die andere das Abc aufsagen", erinnert sich Damian.

Erst langsam sei "durch erste freiheitliche Gedanken ein wenig Bewegung in die Erstarrung gekommen". Und: "James Dean war auch an hessischen Schulen ein Star." Die fünfziger Jahre seien "hoch ökologisch" gewesen, meint Damian: "Nirgends gab es Plastik. In die Holztische konnte man hervorragend Murmelpfade für die Perlen aus den Tintenpatronen schnitzen, und auch die Schiefertafeln und Griffel waren wiederverwertbar."

Aber nicht nur die Materialien sind heute andere, das ganze Bildungssystem hat eine völlige Umwälzung erfahren: Besuchten 1952 noch 78 Prozent aller Schüler des achten Jahrgangs die Hauptschule, waren es 1995 nur noch 25 Prozent. Die Zahl der Gymnasiasten stieg in diesem Zeitraum von 15 auf 33 Prozent.

LISA UPHOFF

"Unsere Schulzeit in den 50er Jahren - Hessen", Gustav Hildebrand, Wartberg Verlag, Gudensberg-Gleichen 2001, 63 Seiten, 17,80 Euro.

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