"HEUTE IM WINTERTRÄUMEN BIN ICH EIN SCHIFF"
Heute in Winterträumen bin ich ein Schiff / in einem dunstigen Kanal mit Gegenverkehr.
Ist da ein Streifen, wo am Horizont,/ bitte lippenrot, nicht wundenrosa?
"Nichts behält seine Gestalt / und nichts geht verloren", heißt es im Auftaktgedicht "An eine Dreizehnjährige" in Dirk von Petersdorffs neuem Lyrikband. Das liebevoll beobachtende, detailreiche, ebenso fein ironische wie unerschrockene Gedicht über die Tochter mit seinem melancholischen Unterton gibt die Stimmung vor für die ganze Sammlung: "Aus deinem Zimmer trage ich / einen Joghurtbecher mit Schimmelkultur / und ein Müsli, hart geworden / wie Mörtel: Man könnte ein Haus damit bauen./ Du aber willst kein Haus, sondern auswandern."
Schwellen zum Leben, zum Tode, Abschiede und Ankünfte, alte und neue Liebe, die Gegenstände des Alltags und die der Pop- wie der Hochkultur, August Macke und das Skateboard: Dirk von Petersdorff ist der Lyriker einer unabgeschlossenen Gegenwart, die sich dem Ältesten verwandt fühlt, in ihm aber trotzdem keine rückhaltlose Geborgenheit finden kann. Nachdenklich und im souveränen Umgang mit dem Formenreichtum der lyrischen Überlieferung ein Genuss, feine Fangnetze, die die Transformationen der Gegenwart zu fassen vermögen: Die Gedichte dieses Bandes sind kleine poetische Studien der Verwandlung.
Heute in Winterträumen bin ich ein Schiff / in einem dunstigen Kanal mit Gegenverkehr.
Ist da ein Streifen, wo am Horizont,/ bitte lippenrot, nicht wundenrosa?
"Nichts behält seine Gestalt / und nichts geht verloren", heißt es im Auftaktgedicht "An eine Dreizehnjährige" in Dirk von Petersdorffs neuem Lyrikband. Das liebevoll beobachtende, detailreiche, ebenso fein ironische wie unerschrockene Gedicht über die Tochter mit seinem melancholischen Unterton gibt die Stimmung vor für die ganze Sammlung: "Aus deinem Zimmer trage ich / einen Joghurtbecher mit Schimmelkultur / und ein Müsli, hart geworden / wie Mörtel: Man könnte ein Haus damit bauen./ Du aber willst kein Haus, sondern auswandern."
Schwellen zum Leben, zum Tode, Abschiede und Ankünfte, alte und neue Liebe, die Gegenstände des Alltags und die der Pop- wie der Hochkultur, August Macke und das Skateboard: Dirk von Petersdorff ist der Lyriker einer unabgeschlossenen Gegenwart, die sich dem Ältesten verwandt fühlt, in ihm aber trotzdem keine rückhaltlose Geborgenheit finden kann. Nachdenklich und im souveränen Umgang mit dem Formenreichtum der lyrischen Überlieferung ein Genuss, feine Fangnetze, die die Transformationen der Gegenwart zu fassen vermögen: Die Gedichte dieses Bandes sind kleine poetische Studien der Verwandlung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.10.2021Mohairpullover, schneebesetzt
Lauter Sehnsuchtsvehikel: Dirk von Petersdorffs neuer Gedichtband "Unsere Spiele enden nicht"
Dass die Romantik eine noch andauernde Epoche sei, auch durch die Moderne hindurch, hat Dirk von Petersdorff als Literaturwissenschaftler verschiedentlich vertreten. Auch als Lyriker kann er es glaubhaft machen. Seine Gedichte schweben in einem Referenzuniversum zwischen Brentano und Tocotronic, zwischen Eichendorff und Supertramp, wie sich etwa schon am Titel des Bandes "Nimm den langen Weg nach Haus" (2010) zeigt. Die Rückwärtsgewandtheit, etwa auch Richtung Rhein-Romantik, geht nicht selten mit einem Augenzwinkern oder gar einer Demutsgeste einher - und mit modernen Zeilenfällen: "Es ist / in diesem Land ein Fluß, an / dem die Männer stehen. Doch / waren wir ganz klein", heißt es in dem Gedicht "Ich war mit Karl am Rhein".
Auch die eigene Jugend und Studienzeit wird dem 1966 Geborenen häufig zum Gedichtgegenstand - zu einem, der ebenfalls schon in romantische Ferne zu rücken scheint. Wobei das kein Zeichen von hohem Alter sein muss, wie jeder romantisch veranlagte Mensch verstehen wird. Man kann ja auch als Jugendlicher oder gar als Kind schon eine Erfahrung machen, die unmittelbar danach zur Quelle der Nostalgie wird.
Ein lyrisches Subgenre, an dem das Fernrücken aber besonders augenfällig wird, ist das Autogedicht. War es in dem Band von 2010 der "alte rote Golf", der ein Gedicht inspirierte und mit seinen heute leider lächerlichen 60 PS sowie einem bereits verstummten "Kassettengerät" Erinnerungen an eine Nachtfahrt über den Brenner und zur Adria wieder wach werden ließ (von "warmer Hoffnung durchs Schiebedach" bis zum "Parkplatz der Trennung"), so ist das Sehnsuchtsvehikel inzwischen schon ein größeres Modell geworden, dafür allerdings ein Diesel. Im "Ford-Transit-Song" heißt es: "Nur ein Luftzug ging / aus Meeresluft und Dieselduft, / umspielte meine Hand, / die seitlich aus dem Fenster hing".
Nicht zuletzt durch die Bezeichnung als "Song" ist für Petersdorffs Lyrik der Anschluss an moderne Lieddichter und Liedermacher gegeben; dass umgekehrt auch Lieder und Songs programmatisch "als Gedichte" aufzufassen sein können, was in der Literaturwissenschaft nicht selbstverständlich ist, hat er übrigens in einem eigenen Buch dargelegt ("In der Bar zum Krokodil", 2017). Die Nähe zum Pop oder sogar "Sirenenpop" (so heißt ein Gedichtband von 2014) hindert indessen nicht die anhaltende klassisch-romantische Italien-Sehnsucht, die sich nun von Neuem äußert. Zum Beispiel in Gedichten über römische Pinien, über Olivenbäume ("den Kopf gelehnt an die zerfurchte Rinde") oder das Mondlicht auf der Bucht von La Spezia, dem sogenannten "Golf der Poeten" also, in dem 1822 Percy Bysshe Shelley ertrank.
Als Erinnerungsvehikel dienen Petersdorff neben rollenden und segelnden auch solche, die man am Leib trägt. Ein Mohairpullover etwa sorgt für das schönste Gedicht des Bandes. Darin heißt es: "wie eine Rüstung hat er mich geschützt, / und wenn es schneit, dann können Flocken landen, / die hängen bleiben, wie uns alles nützt". Obwohl dieses Gedicht kein Sonett ist (und auch Sonette dichtet Petersdorff bisweilen, darin dezidiert Formen pflegend, die manche heute für überkommen halten), endet es mit einer Art concluding couplet, das wohl als Motto über seinem bisherigen lyrischen Werk stehen könnte: "Lasst diesen Jungen gehen, unverletzt, / im Licht der Straßenlampen, schneebesetzt". JAN WIELE
Dirk von Petersdorff: "Unsere Spiele enden nicht". Gedichte.
Verlag C. H. Beck,
München 2021. 80 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lauter Sehnsuchtsvehikel: Dirk von Petersdorffs neuer Gedichtband "Unsere Spiele enden nicht"
Dass die Romantik eine noch andauernde Epoche sei, auch durch die Moderne hindurch, hat Dirk von Petersdorff als Literaturwissenschaftler verschiedentlich vertreten. Auch als Lyriker kann er es glaubhaft machen. Seine Gedichte schweben in einem Referenzuniversum zwischen Brentano und Tocotronic, zwischen Eichendorff und Supertramp, wie sich etwa schon am Titel des Bandes "Nimm den langen Weg nach Haus" (2010) zeigt. Die Rückwärtsgewandtheit, etwa auch Richtung Rhein-Romantik, geht nicht selten mit einem Augenzwinkern oder gar einer Demutsgeste einher - und mit modernen Zeilenfällen: "Es ist / in diesem Land ein Fluß, an / dem die Männer stehen. Doch / waren wir ganz klein", heißt es in dem Gedicht "Ich war mit Karl am Rhein".
Auch die eigene Jugend und Studienzeit wird dem 1966 Geborenen häufig zum Gedichtgegenstand - zu einem, der ebenfalls schon in romantische Ferne zu rücken scheint. Wobei das kein Zeichen von hohem Alter sein muss, wie jeder romantisch veranlagte Mensch verstehen wird. Man kann ja auch als Jugendlicher oder gar als Kind schon eine Erfahrung machen, die unmittelbar danach zur Quelle der Nostalgie wird.
Ein lyrisches Subgenre, an dem das Fernrücken aber besonders augenfällig wird, ist das Autogedicht. War es in dem Band von 2010 der "alte rote Golf", der ein Gedicht inspirierte und mit seinen heute leider lächerlichen 60 PS sowie einem bereits verstummten "Kassettengerät" Erinnerungen an eine Nachtfahrt über den Brenner und zur Adria wieder wach werden ließ (von "warmer Hoffnung durchs Schiebedach" bis zum "Parkplatz der Trennung"), so ist das Sehnsuchtsvehikel inzwischen schon ein größeres Modell geworden, dafür allerdings ein Diesel. Im "Ford-Transit-Song" heißt es: "Nur ein Luftzug ging / aus Meeresluft und Dieselduft, / umspielte meine Hand, / die seitlich aus dem Fenster hing".
Nicht zuletzt durch die Bezeichnung als "Song" ist für Petersdorffs Lyrik der Anschluss an moderne Lieddichter und Liedermacher gegeben; dass umgekehrt auch Lieder und Songs programmatisch "als Gedichte" aufzufassen sein können, was in der Literaturwissenschaft nicht selbstverständlich ist, hat er übrigens in einem eigenen Buch dargelegt ("In der Bar zum Krokodil", 2017). Die Nähe zum Pop oder sogar "Sirenenpop" (so heißt ein Gedichtband von 2014) hindert indessen nicht die anhaltende klassisch-romantische Italien-Sehnsucht, die sich nun von Neuem äußert. Zum Beispiel in Gedichten über römische Pinien, über Olivenbäume ("den Kopf gelehnt an die zerfurchte Rinde") oder das Mondlicht auf der Bucht von La Spezia, dem sogenannten "Golf der Poeten" also, in dem 1822 Percy Bysshe Shelley ertrank.
Als Erinnerungsvehikel dienen Petersdorff neben rollenden und segelnden auch solche, die man am Leib trägt. Ein Mohairpullover etwa sorgt für das schönste Gedicht des Bandes. Darin heißt es: "wie eine Rüstung hat er mich geschützt, / und wenn es schneit, dann können Flocken landen, / die hängen bleiben, wie uns alles nützt". Obwohl dieses Gedicht kein Sonett ist (und auch Sonette dichtet Petersdorff bisweilen, darin dezidiert Formen pflegend, die manche heute für überkommen halten), endet es mit einer Art concluding couplet, das wohl als Motto über seinem bisherigen lyrischen Werk stehen könnte: "Lasst diesen Jungen gehen, unverletzt, / im Licht der Straßenlampen, schneebesetzt". JAN WIELE
Dirk von Petersdorff: "Unsere Spiele enden nicht". Gedichte.
Verlag C. H. Beck,
München 2021. 80 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Hilmar Klute freut sich über die utopischen Momente in den Gedichten von Dirk von Petersdorff und eine gewisse Leichtigkeit. Etwa wenn der Dichter die Schlurfigkeit seiner Teenager-Tochter betrachtet, ein Dinggedicht über seinen Mohairpulli schreibt oder anderen Alltagsphänomenen zu etwas Erhabenheit verhilft. Das ist für Klute nie gelehrt oder gar belehrend, sondern sinnlich, klug beobachtet und pointiert in der Engführung des Verses. Fast hätte Klute gesagt, tröstend, doch zu stark ist die Eigenenergie dieser Texte, fidnet er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.12.2021Rätsel mit Locken
Weniger ist mehr, ganz wenig ist alles: Dirk von Petersdorff schreibt Gedichte, die auf Ideen leicht verzichten können
Der Dichter Dirk von Petersdorff ist auch ein renommierter Literaturwissenschaftler und Professor in Jena. Er lehrt über Romantik, verortet poetische Kraftfelder im Popsong und weist nach, wieviel Clemens Brentano in Bob Dylan steckt. Aber ist Petersdorff das, was man einen Poeta Doctus, einen gelehrten Dichter, nennt?
Zum Glück nicht, denn seine Gedichte entstehen nicht unter den Laborbedingungen wissenschaftlichen Denkens, sondern nach dem Prinzip der sinnlichen Anverwandlung. In seiner neuen Sammlung „Unsere Spiele enden nicht“ finden sich Gedichte, die feine Destillate der Alltagserfahrung sind. Manche von ihnen vertrauen sich dem Reim an, ohne verschämt das Metrum unordentlicher zu gestalten. Nein, Petersdorff benötigt nicht die ironische Brechung, wenn er ein altes Sujet wie das Dinggedicht auf seinen Mohairpullover anwendet, der sich im Winter auch als Erinnerungsgegenstand bewährt: „und wenn es schneit, dann können Flocken landen, die hängen bleiben, wie uns alles nützt - / lasst diesen Jungen gehen, unverletzt,/ im Licht der Straßenlampen, unverletzt.“
Zur Sicherheit hat sich Petersdorff einen Satz der polnischen Dichterin Wislawa Szymborska als poetologischen Unterzug ins Gebälk seiner Dichtung montiert: pathetische Worte mit Mühe leicht erscheinen zu lassen – dieses Prinzip leitet Petersdorffs Versuch, seine kleinen Leuchtfeuer zwischen der Alltagsflüchtigkeit und dem erhabenen Augenblick anzuzünden. Sehr klug und pointiert ist die feine Engführung in „Weniger ist mehr, ganz wenig ist alles“. Der Titel steht über einem der intellektuell interessantesten Texte dieses Bandes. Petersdorff zeigt darin, was der Lyriker vom Theoretiker gelernt hat, nämlich die Größe, im Gedicht auf Theorie, genauer: auf Ideen verzichten zu können: „Dies hier war ein langes Gedicht, es ging/ um Physik, um Philosophie, um Raumzeit, ein Ereignis hieß Weltpunkt – alles gestrichen“. Es ist Petersdorff nicht an der Behauptung gelegen. Es geht ums Herzeigen, um die alltagsgeprüfte Wahrheit: ein Mädchen, das den Sand von den Füßen streift, der Blick aus dem Dachfenster und schließlich die eingehende Schilderung, wie sich die Locken des Mädchens dem Kragenrand nähern, dem eigentlichen Weltpunkt – so lenkt Petersdorff sein poetisches Verfahren.
„Den Gegenständen Farbe geben ist wie reimen“, heißt es einmal, und das liest sich wie eine gewitzte poetologische Gegenrede an jene Kritiker, die an Petersdorffs Gedichten gelegentlich die angeblich zu gut geölte Reimmaschine beanstanden, weil diese allzu viel vom kostbaren Inhalt schreddern würde. In den Gedichten des 1966 geborenen Petersdorff geht es oft um sehr feine Verästelungen der sensationslosen Tageserfahrung, um mikroskopisch betrachtete Abläufe und Bilder, auch um übersensible Klangwahrnehmungen an der Grenze zur Einbildung, wie in dem Gedicht „Vor dem Einschlafen“. Es ruft die Erinnerung an ein merkwürdiges Bimmeln wach, das der kleine Junge vorm Einschlafen gehört hat. Es ist der Klang, den der auf ein Gitter fallende Regen erzeugt, das stellt sich in der Mitte des Gedichts heraus. Die physikalische Erklärung ernüchtert den Erwachsenen nicht, denn er weiß seither, „dass es manchen Abenden so wenig braucht wie ein Gitter und den Regen“.
Man ist versucht, sich von diesen Texten trösten zu lassen. Aber Poesie ist nicht zum Trost da, sie will ein autonomes Energiefeld umzeichnen. Gleich am Anfang steht das Gedicht über die dreizehnjährige Tochter, ein Übergangswesen vom Kind zur Jugendlichen. Aber hier greift schon die behutsame Hand des Dichters, nein, des Vaters ein: Im Übergang sind auch die Erwachsenen, deren scheinbar gefestigtes Dasein die Tochter mit ihrer ausgestellten Schlurferei und Einsilbigkeit spiegelt. „Wenn du morgens in die Küche kommst,/ schaust du wie eine Eule,/ in den helllichten Tag versetzt“. Die Entfremdung, die Ferne, die trügerische Nähe zwischen dem heranwachsenden Mädchen und den Eltern – all dies wandelt den Blick auf das Kind, das mit immer neuen Zuschreibungen erfasst werden soll. Mal als „glorreiches Phantom“, dann als „Rätsel mit Locken“ und am schönsten: „Im Sommer schlurfst du als November herum“ .
Wenn man im Licht dieses anrührenden Textes das letzte Gedicht liest, könnte man meinen, sie fahre am Schluss als Dezember herum. Denn die Radfahrerin in „Fahrrad im Winter“ könnte die Tochter sein. Sie radelt in eine Schneedecke „und dann lässt sie los, aufgerichtet/ öffnet die Arme“. Es gehört eine schöne Portion poetischen Übermuts dazu, seinem Gedicht diesen frischen utopischen Schlenker zu geben.
HILMAR KLUTE
Dirk von Petersdorff: Unsere Spiele enden nicht. Gedichte. Verlag C.H.Beck München 2021.
75 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Weniger ist mehr, ganz wenig ist alles: Dirk von Petersdorff schreibt Gedichte, die auf Ideen leicht verzichten können
Der Dichter Dirk von Petersdorff ist auch ein renommierter Literaturwissenschaftler und Professor in Jena. Er lehrt über Romantik, verortet poetische Kraftfelder im Popsong und weist nach, wieviel Clemens Brentano in Bob Dylan steckt. Aber ist Petersdorff das, was man einen Poeta Doctus, einen gelehrten Dichter, nennt?
Zum Glück nicht, denn seine Gedichte entstehen nicht unter den Laborbedingungen wissenschaftlichen Denkens, sondern nach dem Prinzip der sinnlichen Anverwandlung. In seiner neuen Sammlung „Unsere Spiele enden nicht“ finden sich Gedichte, die feine Destillate der Alltagserfahrung sind. Manche von ihnen vertrauen sich dem Reim an, ohne verschämt das Metrum unordentlicher zu gestalten. Nein, Petersdorff benötigt nicht die ironische Brechung, wenn er ein altes Sujet wie das Dinggedicht auf seinen Mohairpullover anwendet, der sich im Winter auch als Erinnerungsgegenstand bewährt: „und wenn es schneit, dann können Flocken landen, die hängen bleiben, wie uns alles nützt - / lasst diesen Jungen gehen, unverletzt,/ im Licht der Straßenlampen, unverletzt.“
Zur Sicherheit hat sich Petersdorff einen Satz der polnischen Dichterin Wislawa Szymborska als poetologischen Unterzug ins Gebälk seiner Dichtung montiert: pathetische Worte mit Mühe leicht erscheinen zu lassen – dieses Prinzip leitet Petersdorffs Versuch, seine kleinen Leuchtfeuer zwischen der Alltagsflüchtigkeit und dem erhabenen Augenblick anzuzünden. Sehr klug und pointiert ist die feine Engführung in „Weniger ist mehr, ganz wenig ist alles“. Der Titel steht über einem der intellektuell interessantesten Texte dieses Bandes. Petersdorff zeigt darin, was der Lyriker vom Theoretiker gelernt hat, nämlich die Größe, im Gedicht auf Theorie, genauer: auf Ideen verzichten zu können: „Dies hier war ein langes Gedicht, es ging/ um Physik, um Philosophie, um Raumzeit, ein Ereignis hieß Weltpunkt – alles gestrichen“. Es ist Petersdorff nicht an der Behauptung gelegen. Es geht ums Herzeigen, um die alltagsgeprüfte Wahrheit: ein Mädchen, das den Sand von den Füßen streift, der Blick aus dem Dachfenster und schließlich die eingehende Schilderung, wie sich die Locken des Mädchens dem Kragenrand nähern, dem eigentlichen Weltpunkt – so lenkt Petersdorff sein poetisches Verfahren.
„Den Gegenständen Farbe geben ist wie reimen“, heißt es einmal, und das liest sich wie eine gewitzte poetologische Gegenrede an jene Kritiker, die an Petersdorffs Gedichten gelegentlich die angeblich zu gut geölte Reimmaschine beanstanden, weil diese allzu viel vom kostbaren Inhalt schreddern würde. In den Gedichten des 1966 geborenen Petersdorff geht es oft um sehr feine Verästelungen der sensationslosen Tageserfahrung, um mikroskopisch betrachtete Abläufe und Bilder, auch um übersensible Klangwahrnehmungen an der Grenze zur Einbildung, wie in dem Gedicht „Vor dem Einschlafen“. Es ruft die Erinnerung an ein merkwürdiges Bimmeln wach, das der kleine Junge vorm Einschlafen gehört hat. Es ist der Klang, den der auf ein Gitter fallende Regen erzeugt, das stellt sich in der Mitte des Gedichts heraus. Die physikalische Erklärung ernüchtert den Erwachsenen nicht, denn er weiß seither, „dass es manchen Abenden so wenig braucht wie ein Gitter und den Regen“.
Man ist versucht, sich von diesen Texten trösten zu lassen. Aber Poesie ist nicht zum Trost da, sie will ein autonomes Energiefeld umzeichnen. Gleich am Anfang steht das Gedicht über die dreizehnjährige Tochter, ein Übergangswesen vom Kind zur Jugendlichen. Aber hier greift schon die behutsame Hand des Dichters, nein, des Vaters ein: Im Übergang sind auch die Erwachsenen, deren scheinbar gefestigtes Dasein die Tochter mit ihrer ausgestellten Schlurferei und Einsilbigkeit spiegelt. „Wenn du morgens in die Küche kommst,/ schaust du wie eine Eule,/ in den helllichten Tag versetzt“. Die Entfremdung, die Ferne, die trügerische Nähe zwischen dem heranwachsenden Mädchen und den Eltern – all dies wandelt den Blick auf das Kind, das mit immer neuen Zuschreibungen erfasst werden soll. Mal als „glorreiches Phantom“, dann als „Rätsel mit Locken“ und am schönsten: „Im Sommer schlurfst du als November herum“ .
Wenn man im Licht dieses anrührenden Textes das letzte Gedicht liest, könnte man meinen, sie fahre am Schluss als Dezember herum. Denn die Radfahrerin in „Fahrrad im Winter“ könnte die Tochter sein. Sie radelt in eine Schneedecke „und dann lässt sie los, aufgerichtet/ öffnet die Arme“. Es gehört eine schöne Portion poetischen Übermuts dazu, seinem Gedicht diesen frischen utopischen Schlenker zu geben.
HILMAR KLUTE
Dirk von Petersdorff: Unsere Spiele enden nicht. Gedichte. Verlag C.H.Beck München 2021.
75 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Dirk von Petersdorffs Gedichte entstehen nicht unter den Laborbedingungen wissenschaftlichen Denkens, sondern nach dem Prinzip der sinnlichen Anverwandlung. In seiner neuen Sammlung finden sich Gedichte, die feine Destillate der Alltagserfahrung sind."
Süddeutsche Zeitung, Hilmar Klute
"Seine Gedichte schweben in einem Referenzuniversum zwischen Brentano und Tocotronic, zwischen Eichendorff und Supertramp"
FAZ, Jan Wiele
"Seine Gedichte sind zugleich bildungsgesättigt und nah am Alltag unserer Erlebnisgesellschaft (...) Vor allem aber sind sie von einer Ironie durchwirkt, die so fein ist, dass sie der Eigentlichkeit des Sprechens keinen Abbruch tut."
Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, Manfred Papst
"Dirk von Petersdorff ist ein Bote zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Er ist ein leichtfüßiger Poet. Er trägt geflügelte Schuhe."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Harald Hartung
"das Wissen um die Vergänglichkeit jedes poetischen Augenblicks verleiht seinen Versen eine leise, nie überhandgewinnende Melancholie."
Wiener Zeitung, Andreas Wirthensohn
"So gelassene und philosophisch kluge, so poetische und zugleich im Alltag beheimatete Gedichte liest man selten. Viele klingen wie Songs, die dringend auf einen Bob Dylan warten, der sie singt."
Focus
"melancholisch und doch gelassen, erstaunt über den erlebten Wandel der Zeiten, sinnlich ... Schon die Ouvertüre ist Weltpoesie."
Lesart, Michael Augustin
"Die Gedichte um das Leid des Altwerdens der Eltern sind anrührend."
Deutschlandfunk Kultur, Jan Bürger
"Sein literarisches Programm ließe sich als Romantisieren des Realen umschreiben. In den neuen Gedichten realisiert es sich in der Destillation des poetischen Extrakts von Wirklichkeit."
Badisches Tageblatt, Hans-Dieter Fronz
"Mit wenigen Worten, kunstvoll geformt, sagt Petersdorff alles und fast noch mehr, weil die Phantasie des Lesers angeregt ist (...) Einfühlsam beschreibt Dirk von Petersdorff jene unvergessliche Lebensphase, die niemand wirklich ganz versteht und ganz verstehen muss." literaturkritik.de, Thorsten Paprotny
"Er möchte nichts weniger als den Beweis antreten, dass sich ein Individuum souverän der alten Form bedienen und für sich nützen kann, ohne Freiheit preisgeben zu müssen. Das gelingt in diesem Fall deshalb, weil ein vollkommen gegenwärtiges Ich zu uns spricht."
Anton Thuswaldner, ORF
Süddeutsche Zeitung, Hilmar Klute
"Seine Gedichte schweben in einem Referenzuniversum zwischen Brentano und Tocotronic, zwischen Eichendorff und Supertramp"
FAZ, Jan Wiele
"Seine Gedichte sind zugleich bildungsgesättigt und nah am Alltag unserer Erlebnisgesellschaft (...) Vor allem aber sind sie von einer Ironie durchwirkt, die so fein ist, dass sie der Eigentlichkeit des Sprechens keinen Abbruch tut."
Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, Manfred Papst
"Dirk von Petersdorff ist ein Bote zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Er ist ein leichtfüßiger Poet. Er trägt geflügelte Schuhe."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Harald Hartung
"das Wissen um die Vergänglichkeit jedes poetischen Augenblicks verleiht seinen Versen eine leise, nie überhandgewinnende Melancholie."
Wiener Zeitung, Andreas Wirthensohn
"So gelassene und philosophisch kluge, so poetische und zugleich im Alltag beheimatete Gedichte liest man selten. Viele klingen wie Songs, die dringend auf einen Bob Dylan warten, der sie singt."
Focus
"melancholisch und doch gelassen, erstaunt über den erlebten Wandel der Zeiten, sinnlich ... Schon die Ouvertüre ist Weltpoesie."
Lesart, Michael Augustin
"Die Gedichte um das Leid des Altwerdens der Eltern sind anrührend."
Deutschlandfunk Kultur, Jan Bürger
"Sein literarisches Programm ließe sich als Romantisieren des Realen umschreiben. In den neuen Gedichten realisiert es sich in der Destillation des poetischen Extrakts von Wirklichkeit."
Badisches Tageblatt, Hans-Dieter Fronz
"Mit wenigen Worten, kunstvoll geformt, sagt Petersdorff alles und fast noch mehr, weil die Phantasie des Lesers angeregt ist (...) Einfühlsam beschreibt Dirk von Petersdorff jene unvergessliche Lebensphase, die niemand wirklich ganz versteht und ganz verstehen muss." literaturkritik.de, Thorsten Paprotny
"Er möchte nichts weniger als den Beweis antreten, dass sich ein Individuum souverän der alten Form bedienen und für sich nützen kann, ohne Freiheit preisgeben zu müssen. Das gelingt in diesem Fall deshalb, weil ein vollkommen gegenwärtiges Ich zu uns spricht."
Anton Thuswaldner, ORF
Rezensent Hilmar Klute freut sich über die utopischen Momente in den Gedichten von Dirk von Petersdorff und eine gewisse Leichtigkeit. Etwa wenn der Dichter die Schlurfigkeit seiner Teenager-Tochter betrachtet, ein Dinggedicht über seinen Mohairpulli schreibt oder anderen Alltagsphänomenen zu etwas Erhabenheit verhilft. Das ist für Klute nie gelehrt oder gar belehrend, sondern sinnlich, klug beobachtet und pointiert in der Engführung des Verses. Fast hätte Klute gesagt, tröstend, doch zu stark ist die Eigenenergie dieser Texte, fidnet er.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH