Eine Lübecker Familie, protestantisch, konservativ, kaisertreu: die Lindhorsts. 1890 kommt Marthe in dem weitläufigen Patrizierhaus in der Königstraße zur Welt. Um sie eine Schar älterer Brüder, deren Freiheiten nicht ihre sein werden. Und doch ist es ein Leben mit glänzenden Aussichten. Bis ein Bestsellerroman, verfasst vom Sohn eines verstorbenen Bekannten, den respektablen Lindhorsts klarmacht, dass sie für ihr Umfeld auch nach zwei Generationen noch immer «die Jüdischen» sind.
Unsereins ist der Roman einer Stadt und ihrer Gesellschaft, ihrer Bürger und Lohndiener, der Handwerker und, vor allem, ihrer Frauen. Ob Dienstmädchen, Hausfrau, Weißnäherin oder Schriftstellerin, ob manisch-depressiv wie Marthes Mutter, durchlässig wie Marthe selbst, die mit eigenen und fremden Erwartungen ringt. Inger-Maria Mahlke erzählt von Identität und Zugehörigkeit, von Geschlecht und Klasse, von Macht- und Liebesverhältnissen - von allem, was nicht nur den vormals «kleinsten Staat desdeutschen Reichs» formte und zusammenhielt.
Der neue Roman der Buchpreisträgerin: eine epische Familiengeschichte voll von Respekt, Humor und tiefer Einsicht.
Unsereins ist der Roman einer Stadt und ihrer Gesellschaft, ihrer Bürger und Lohndiener, der Handwerker und, vor allem, ihrer Frauen. Ob Dienstmädchen, Hausfrau, Weißnäherin oder Schriftstellerin, ob manisch-depressiv wie Marthes Mutter, durchlässig wie Marthe selbst, die mit eigenen und fremden Erwartungen ringt. Inger-Maria Mahlke erzählt von Identität und Zugehörigkeit, von Geschlecht und Klasse, von Macht- und Liebesverhältnissen - von allem, was nicht nur den vormals «kleinsten Staat desdeutschen Reichs» formte und zusammenhielt.
Der neue Roman der Buchpreisträgerin: eine epische Familiengeschichte voll von Respekt, Humor und tiefer Einsicht.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Hellauf begeistert ist Rezensent Paul Jandl von Inger-Maria Mahlkes "Gegengeschichte zu Thomas Manns Schlüsselroman": Sie beleuchtet darin das Leben des Dienstpersonals der Buddenbrooks, wobei die Verweise auf Mann nur einen Teil des Spaßes ausmachen, den er bei der Lektüre hat, versichert er. Gerne liest Jandl von der Familie Lindhorst, die von den "weltgeschichtlichen Zentrifugalkräften" zwischen 1890 und 1906 zwar erfasst wird, doch der Fokus liegt auf dem privaten Zusammenleben, das von Syphillis bis beruflichem Misserfolg immer wieder untergraben wird. Besonderer Gewinn liegt für ihn auch darin, dass die Autorin vor dem Urbild Buddenbrooks trotzdem ihre eigene Sprache und Geschichte findet, resümiert er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2023Als der Pfau noch auf der Schulbank saß
Schlüsselfertig: Inger-Maria Mahlkes Romanpanorama "Unsereins" über die Lübecker Welt zu Zeiten Thomas Manns.
Von Sandra Kegel
In diesem Jahr sind gleich zwei Romane von Autorinnen erschienen, die sich mit dem Werk von Thomas Mann beschäftigen und daraus je eigene interessante Volten schlagen. Beide Autorinnen verbindet, dass sie in zwei Hauptwerken Manns, dem "Zauberberg" und den "Buddenbrooks", einerseits lustvoll herumwühlen, daraus andererseits aber etwas entstehen lassen, was mehr ist als nur intertextuelle Referenz.
Zuerst kam vor wenigen Monaten "Empusion" von Olga Tokarczuk heraus, der erste Roman der polnischen Schriftstellerin seit der Verleihung des Literaturnobelpreises 2019. "Empusion", eine Wortschöpfung aus Symposion und einer mythologischen Schreckensgestalt, erzählt auf der Folie des "Zauberbergs" von 1924 und in Analogie zum alpinen Kurort von einem Lungensanatorium im schlesischen Görbersdorf. Dort serviert die Autorin Abend für Abend im Speisesaal unter Herren ein deftiges Bankett patriarchaler Ideen.
Anders als Tokarczuk behält Inger-Maria Mahlke in ihrem Roman "Unsereins", dem ersten seit "Archipel", für den sie 2018 den Deutschen Buchpreis erhielt, den Schauplatz Thomas Manns bei - in ihrem Fall den von "Buddenbrooks". "Unsereins" spielt während der vorigen Jahrhundertwende in Lübeck, dem "kleinsten Staat des Deutschen Kaiserreichs", wie es sich selbst nicht ganz korrekt bezeichnet. Und wie bei Mann wird in "Unsereins" der Name Lübeck, dessen Stadtgesellschaft Mahlke in diesem großangelegten Panorama beschreibt, nie genannt.
In fünfzehn Kapiteln setzt sie die Zeit zwischen 1890 und 1906 ins Bild. Sie erzählt im Präsens, was dem Text seine Kraft unmittelbaren Erlebens verleiht. Der Stoff wird entwickelt aus dem Innenleben der Figuren. Zugleich wird der Roman, und das macht die literarische Spannung dieser horizontalen Erzählung aus, spürbar aus der Gegenwart heraus geschrieben, wenn etwa en passant Anspielungen auf Algorithmen oder Drohnen fallen. Die Erzählinstanz zoomt sich wie eine Kamera aus großer Höhe, aus der sie alles überblickt, hinab und geht mitten hinein ins Geschehen der stolzen Hansestadt mit ihren vielen geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen.
Schon in der Schule müssen hier die vielen "einander überlappenden Hierarchien, unübersichtlichen Verflechtungen und sich aus ihnen ergebende Konsequenzen" gelernt sein. Den Primanern sind die feinen Unterschiede zwischen Mittelschicht und unterer Mittelschicht bewusst. Ganz oben stehen die, deren Väter im Klassenbuch als Senator oder Bürgerschaft gekennzeichnet sind. Wer Pech hat, steht unten, so wie auch Ida, das Dienstmädchen der Lindhorsts. Von einer anderen Magd erfährt sie, dass es helfe, sich bei den Kindern der Herrschaft beliebt zu machen. Das könne in späteren Jahren vor der Armut retten. Aber, fragt sich Ida, wie schließt man Freundschaft mit einem Fünfjährigen?
Die Kaufmannsfamilie Lindhorst - Friedrich und seine Frau und ihre acht Kinder - steht im Zentrum des Romans. Da sie jüdische Vorfahren haben, stoßen sie immer wieder an die Grenzen der Gesellschaft. Über sie hinaus erzählt "Unsereins" zugleich von vielen anderen Menschen, die ebenfalls nicht dazugehören, mitunter ist es hilfreich, das Personenverzeichnis vorn im Buch zu konsultieren.
Inger-Maria Mahlke stammt wie Thomas Mann aus Lübeck. Die Geschichten, die diese Stadt seit Erscheinen der "Buddenbrooks" 1901 untrennbar mit der Literatur verbindet - klagende Familienmitglieder, herumgereichte Listen, welche Herrschaften in dem Schlüsselroman Vorbild waren für welche Figuren -, sind der Autorin bestens bekannt. So hört man eine gewisse diebische Freude heraus, wenn sie den leicht blasierten Schüler Tommy auftauchen lässt, den alle hier nur "Pfau" nennen" und der stets in Begleitung seines Freundes Otto erscheint. Auch er ist eine historisch verbürgte Figur, dem wir in den "Buddenbrooks" wiederum als Kai begegnen - und der wiederum seinem Jugendfreund Thomas Mann treu ergeben ist. Dass ihn mit diesem eine "ungesunde Obsession" verbinde, wird ihm bescheinigt.
Später im Roman wird Mann, der die Schule ohne Abitur verlassen hat und schließlich in München als nahezu Unbekannter sein 1000-Seiten-Werk über den "Verfall einer Familie" schreiben und in voller Länge im Verlag S. Fischer veröffentlichen wird, für einen Vortrag nach Lübeck zurückkehren. Das Gerede und die Aufregung der Lübecker Familien hat sich bis dahin noch immer nicht gelegt.
Indem Mahlke nicht nur eine Familie, sondern eine ganze Gesellschaft und dabei insbesondere die unteren Stände in den Blick nimmt, die Dienerschaft, die Lohnarbeiter und Entwicklungen wie das Entstehen der Sozialdemokratie sowie den latenten Antisemitismus der damaligen Zeit beschreibt, weitet sie ihren Roman über Fragen der Ähnlichkeit zu Wahrheit und Dichtung Thomas Manns zu einem Werk aus eigener Kraft.
Auf fast fünfhundert Seiten entfaltet sie ihr detailliertes Panorama vom Leben Ende des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Ein ums andere Mal wird deutlich, wie nah sich die unterschiedlichen Klassen, die so sehr um gesellschaftlichen Abstand bemüht sind, räumlich tatsächlich sind. Oftmals trennen die Senatoren nur wenige Meter von den Bediensteten und Armen. Und während die einen gefangen sind im starren Reglement ihrer Schicht, sind die anderen gänzlich unfrei. Über ihre Zeit können diese nicht bestimmen, und die Mühsal, die es kostet, die Böden anderer Leute zu schrubben, zeigt eine Welt, in der längst nicht jedes Individuum zählt.
Macht und Ohnmacht, Sicherheit und Unsicherheit - in diesem Spannungsfeld bewegen sich die Romane von Inger-Maria Mahlke seit jeher. In "Rechnung offen" (2010) erzählte sie dies anhand der Bewohner eines Neuköllner Mietshauses, in "Wie Ihr wollt" (2015) anhand einer kleinwüchsigen Adligen im England des sechzehnten Jahrhunderts, die unter Hausarrest stand, obwohl sie Anspruch auf den Thron gehabt hätte. In "Archipel" machte sie dies am Beispiel der historischen Zerrissenheit einer Ferieninsel klar: Die Gegensätze findet Inger-Maria Mahlke auch in "Unsereins", wenn sie die Geschichte des Kaiserreichs und biographische Aperçus aus dem Leben Thomas Manns mit fiktiven Figuren und einem Romangeschehen vermischt - bei aller Historie aber schreibt sie immer so, dass das Erzählte zum Naherlebnis wird.
Inger-Maria Mahlke: "Unsereins". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 496 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schlüsselfertig: Inger-Maria Mahlkes Romanpanorama "Unsereins" über die Lübecker Welt zu Zeiten Thomas Manns.
Von Sandra Kegel
In diesem Jahr sind gleich zwei Romane von Autorinnen erschienen, die sich mit dem Werk von Thomas Mann beschäftigen und daraus je eigene interessante Volten schlagen. Beide Autorinnen verbindet, dass sie in zwei Hauptwerken Manns, dem "Zauberberg" und den "Buddenbrooks", einerseits lustvoll herumwühlen, daraus andererseits aber etwas entstehen lassen, was mehr ist als nur intertextuelle Referenz.
Zuerst kam vor wenigen Monaten "Empusion" von Olga Tokarczuk heraus, der erste Roman der polnischen Schriftstellerin seit der Verleihung des Literaturnobelpreises 2019. "Empusion", eine Wortschöpfung aus Symposion und einer mythologischen Schreckensgestalt, erzählt auf der Folie des "Zauberbergs" von 1924 und in Analogie zum alpinen Kurort von einem Lungensanatorium im schlesischen Görbersdorf. Dort serviert die Autorin Abend für Abend im Speisesaal unter Herren ein deftiges Bankett patriarchaler Ideen.
Anders als Tokarczuk behält Inger-Maria Mahlke in ihrem Roman "Unsereins", dem ersten seit "Archipel", für den sie 2018 den Deutschen Buchpreis erhielt, den Schauplatz Thomas Manns bei - in ihrem Fall den von "Buddenbrooks". "Unsereins" spielt während der vorigen Jahrhundertwende in Lübeck, dem "kleinsten Staat des Deutschen Kaiserreichs", wie es sich selbst nicht ganz korrekt bezeichnet. Und wie bei Mann wird in "Unsereins" der Name Lübeck, dessen Stadtgesellschaft Mahlke in diesem großangelegten Panorama beschreibt, nie genannt.
In fünfzehn Kapiteln setzt sie die Zeit zwischen 1890 und 1906 ins Bild. Sie erzählt im Präsens, was dem Text seine Kraft unmittelbaren Erlebens verleiht. Der Stoff wird entwickelt aus dem Innenleben der Figuren. Zugleich wird der Roman, und das macht die literarische Spannung dieser horizontalen Erzählung aus, spürbar aus der Gegenwart heraus geschrieben, wenn etwa en passant Anspielungen auf Algorithmen oder Drohnen fallen. Die Erzählinstanz zoomt sich wie eine Kamera aus großer Höhe, aus der sie alles überblickt, hinab und geht mitten hinein ins Geschehen der stolzen Hansestadt mit ihren vielen geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen.
Schon in der Schule müssen hier die vielen "einander überlappenden Hierarchien, unübersichtlichen Verflechtungen und sich aus ihnen ergebende Konsequenzen" gelernt sein. Den Primanern sind die feinen Unterschiede zwischen Mittelschicht und unterer Mittelschicht bewusst. Ganz oben stehen die, deren Väter im Klassenbuch als Senator oder Bürgerschaft gekennzeichnet sind. Wer Pech hat, steht unten, so wie auch Ida, das Dienstmädchen der Lindhorsts. Von einer anderen Magd erfährt sie, dass es helfe, sich bei den Kindern der Herrschaft beliebt zu machen. Das könne in späteren Jahren vor der Armut retten. Aber, fragt sich Ida, wie schließt man Freundschaft mit einem Fünfjährigen?
Die Kaufmannsfamilie Lindhorst - Friedrich und seine Frau und ihre acht Kinder - steht im Zentrum des Romans. Da sie jüdische Vorfahren haben, stoßen sie immer wieder an die Grenzen der Gesellschaft. Über sie hinaus erzählt "Unsereins" zugleich von vielen anderen Menschen, die ebenfalls nicht dazugehören, mitunter ist es hilfreich, das Personenverzeichnis vorn im Buch zu konsultieren.
Inger-Maria Mahlke stammt wie Thomas Mann aus Lübeck. Die Geschichten, die diese Stadt seit Erscheinen der "Buddenbrooks" 1901 untrennbar mit der Literatur verbindet - klagende Familienmitglieder, herumgereichte Listen, welche Herrschaften in dem Schlüsselroman Vorbild waren für welche Figuren -, sind der Autorin bestens bekannt. So hört man eine gewisse diebische Freude heraus, wenn sie den leicht blasierten Schüler Tommy auftauchen lässt, den alle hier nur "Pfau" nennen" und der stets in Begleitung seines Freundes Otto erscheint. Auch er ist eine historisch verbürgte Figur, dem wir in den "Buddenbrooks" wiederum als Kai begegnen - und der wiederum seinem Jugendfreund Thomas Mann treu ergeben ist. Dass ihn mit diesem eine "ungesunde Obsession" verbinde, wird ihm bescheinigt.
Später im Roman wird Mann, der die Schule ohne Abitur verlassen hat und schließlich in München als nahezu Unbekannter sein 1000-Seiten-Werk über den "Verfall einer Familie" schreiben und in voller Länge im Verlag S. Fischer veröffentlichen wird, für einen Vortrag nach Lübeck zurückkehren. Das Gerede und die Aufregung der Lübecker Familien hat sich bis dahin noch immer nicht gelegt.
Indem Mahlke nicht nur eine Familie, sondern eine ganze Gesellschaft und dabei insbesondere die unteren Stände in den Blick nimmt, die Dienerschaft, die Lohnarbeiter und Entwicklungen wie das Entstehen der Sozialdemokratie sowie den latenten Antisemitismus der damaligen Zeit beschreibt, weitet sie ihren Roman über Fragen der Ähnlichkeit zu Wahrheit und Dichtung Thomas Manns zu einem Werk aus eigener Kraft.
Auf fast fünfhundert Seiten entfaltet sie ihr detailliertes Panorama vom Leben Ende des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Ein ums andere Mal wird deutlich, wie nah sich die unterschiedlichen Klassen, die so sehr um gesellschaftlichen Abstand bemüht sind, räumlich tatsächlich sind. Oftmals trennen die Senatoren nur wenige Meter von den Bediensteten und Armen. Und während die einen gefangen sind im starren Reglement ihrer Schicht, sind die anderen gänzlich unfrei. Über ihre Zeit können diese nicht bestimmen, und die Mühsal, die es kostet, die Böden anderer Leute zu schrubben, zeigt eine Welt, in der längst nicht jedes Individuum zählt.
Macht und Ohnmacht, Sicherheit und Unsicherheit - in diesem Spannungsfeld bewegen sich die Romane von Inger-Maria Mahlke seit jeher. In "Rechnung offen" (2010) erzählte sie dies anhand der Bewohner eines Neuköllner Mietshauses, in "Wie Ihr wollt" (2015) anhand einer kleinwüchsigen Adligen im England des sechzehnten Jahrhunderts, die unter Hausarrest stand, obwohl sie Anspruch auf den Thron gehabt hätte. In "Archipel" machte sie dies am Beispiel der historischen Zerrissenheit einer Ferieninsel klar: Die Gegensätze findet Inger-Maria Mahlke auch in "Unsereins", wenn sie die Geschichte des Kaiserreichs und biographische Aperçus aus dem Leben Thomas Manns mit fiktiven Figuren und einem Romangeschehen vermischt - bei aller Historie aber schreibt sie immer so, dass das Erzählte zum Naherlebnis wird.
Inger-Maria Mahlke: "Unsereins". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 496 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Gegenstück zu den "Buddenbrooks" aus heutiger Perspektive ... Und ein großer Spaß. Denis Scheck WDR 3 "Mosaik" 20231127
Hellauf begeistert ist Rezensent Paul Jandl von Inger-Maria Mahlkes "Gegengeschichte zu Thomas Manns Schlüsselroman": Sie beleuchtet darin das Leben des Dienstpersonals der Buddenbrooks, wobei die Verweise auf Mann nur einen Teil des Spaßes ausmachen, den er bei der Lektüre hat, versichert er. Gerne liest Jandl von der Familie Lindhorst, die von den "weltgeschichtlichen Zentrifugalkräften" zwischen 1890 und 1906 zwar erfasst wird, doch der Fokus liegt auf dem privaten Zusammenleben, das von Syphillis bis beruflichem Misserfolg immer wieder untergraben wird. Besonderer Gewinn liegt für ihn auch darin, dass die Autorin vor dem Urbild Buddenbrooks trotzdem ihre eigene Sprache und Geschichte findet, resümiert er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Lübeck in kürzeren Sätzen
Inger-Maria Mahlke scheut in ihrem Epos „Unsereins“ nicht die Kollision
mit Thomas Manns „Buddenbrooks“, aber glücklicherweise seinen Stil.
Mit hanseatischer Zuverlässigkeit hat Inger-Marie Mahlke, 1977 in Hamburg geboren und in Lübeck aufgewachsen, seit 2010 alle zwei bis drei Jahre einen Roman vorgelegt, bis sie 2018 für „Archipel“ den Deutschen Buchpreis erhielt. Dann kündigte sie an, sie werde sich für das nächste Werk mehr Zeit nehmen. Auch darauf war Verlass, wie man sieht. Fünf Jahre später ist jetzt „Unsereins“ erschienen, ein knapp fünfhundertseitiges Epos, in dem die studierte Juristin abermals ihren Hang und ihr Talent zur historischen Recherche vorführt: Hatte sie sich für „Wie ihr wollt“ von 2015 in die Tudor-Ära begeben und in „Archipel“ die Geschichte der Insel Teneriffa, wo sie einen Teil ihrer Jugend verbrachte, bis ins frühe 20. Jahrhundert zurückverfolgt, wendet sie sich diesmal ihrer Heimatstadt Lübeck zu, um dort in der überschaubaren Zeitspanne zwischen 1890 und 1906 ein breit angelegtes Familien- und Gesellschaftspanorama zu entfalten. Was auf eine Kollision mit den „Buddenbrooks“ hinausläuft, dem berühmtesten aller Lübeck-Romane, der 1901 erschien.
Genau darauf kam es der Autorin offenbar an, und was sie daraus macht, ist so couragiert wie unterhaltsam. Sie weist dem jungen Thomas Mann eine Nebenrolle zu und nimmt seinen spektakulären Erstling zum Anlass, die Schraube seiner Figurenverschlüsselung, die nach der 1903 veröffentlichten Zweitauflage tout Lübeck in ein Such- und Ratespiel verwickelte, einfach noch ein Stück weiter zu drehen. „Einfach“ gilt hier im doppelten Sinne: Mögen auch bei Mahlke die Bezüge zwischen literarischen Gestalten und deren realen Vorbildern noch etwas komplizierter sein als bei Mann, so bleibt sie erzähltechnisch und stilistisch doch in der leichteren Sphäre, klug genug, dem Jahrhundertwerk nicht etwa das Wasser reichen zu wollen.
Die holsteinische Hansestadt war damals „der kleinste Staat des deutschen Kaiserreichs“. Bremen habe eigentlich noch weniger Fläche, wird im Vorspann eingeräumt, „jedoch: zweitkleinster klingt mickrig“. Diese Gebrauchsanweisung deutet schon an, dass nicht alles an der Geschichte tierisch ernst zu nehmen ist und dass die Fiktion, wenn sie besser klang, der Realität vorgezogen wurde. Das ist eine gute Grundlage, um diese originelle Mischung aus Dichtung und Wahrheit zu goutieren. Und um Spaß daran zu finden, die von Mahlke eingebauten Volten mithilfe eigener Recherchen und Rückschlüsse zu dechiffrieren. Was dadurch noch kurzweiliger wird, dass die Autorin, ganz in Thomas Manns Manier, echte und fiktive Identitäten und Biografien immer nur teilweise zur Deckung bringt, um dann wieder völlig frei mit den handelnden Personen zu verfahren.
Im Zentrum von „Unsereins“ steht die Familie des Rechtsanwalts und Senators Friedrich Lindhorst, hinter dem sich die Buddenbrooks-Figur Dr. Moritz Hagenström respektive dessen reales Vorbild Emil Ferdinand Fehling verbirgt, der später Bürgermeister von Lübeck wurde. Fehling war in erster Ehe vermählt mit Ada Marie Caroline, der Tochter des seinerzeit hochpopulären Lübecker Lyrikers Emanuel Geibel, den Mahlke in „Keitel“ umgetauft hat und süffisant als „berühmtesten Dichter aller Zeiten“ tituliert. Bei Thomas Mann tritt er als Hauspoet Hoffstede auf, aber nicht als Schwiegervater von Dr. Hagenström, der ja ein butterblondes Fräulein Puttfarken aus Hamburg heiratet, wohingegen Friedrich Lindhorsts Gattin Marie mit der historisch verbürgten Frau Fehling nicht nur die Lebensdaten, die ererbte psychische Krankheit und den reichen Kindersegen gemeinsam hat, sondern auch das dunkle Haar und die Geburt in München … und so geht es munter fort.
In ihre Konstruktion aus Übereinstimmungen, Abweichungen und mutwilligen Verrätselungen mischt die Autorin historische Figuren, die unter ihrem Klarnamen auftreten: Neben dem leicht arrogant scheiternden Gymnasiasten „Tomy“ Mann betrifft das etwa dessen Freund, den künftigen Kunsthistoriker Otto Grautoff, ferner den aufstrebenden Sozialdemokraten Theodor Schwartz, den Maler Vilhelm Petersen alias Willy Gretor, dessen Kollegin und Geliebte Maria Schorer sowie weibliche Mitglieder des Lesezirkels „Ibsen-Club“, unter ihnen Fanny zu Reventlow, die kurz mit dem ältesten Fehling-Sohn liiert war. Es war damals einiges los in Lübeck, und Inger-Maria Mahlke sind hübsche Szenen dazu eingefallen.
Noch mehr schriftstellerische Zuwendung erfahren die Mitwirkenden, die vollkommen oder weitgehend erfunden sind – oder es jedenfalls zu sein scheinen, wenn die Zeit für detektivische Detailforschung fehlt. Da ist die Familie des amtierenden Wasserbaudirektors, hier Schilling genannt, die um ihren Aufstieg ins Großbürgertum ringt.
Da ist der aus Berlin zugereiste Gymnasiast Georg Presswitz, ein doch sensibler Beobachter und Chronist am ehrwürdig-elitären Katharineum, das auch die Autorin besucht hat. Und da sind die für einen „Gesellschaftsroman“ nach heutigem Maßstab wichtigsten Protagonisten, nämlich jene, die den unteren Klassen angehören und durch tägliche Mühsal ihren Arbeitgebern das privilegierte Leben erst ermöglichen.
Eingehend widmet sich Mahlke dem Schicksal der Ida Stuermann, die als Dienstmädchen im Haushalt der Lindhorsts schuftet, und ihrem traurig misslingenden Ausbruchsversuch. Aber auch der Ratsdiener Johann Isenhagen und der Lohndiener Charlie Helms, der wegen seiner Homosexualität im Gefängnis landet, werden empathisch in den Blick genommen. Wie überhaupt die Klappentext-Botschaft, dies sei vor allem ein Roman der Frauen, ein wenig nach vorauseilendem Feminismus riecht: Den zweifellos interessanten Frauengestalten zum Trotz ist Mahlkes multiperspektivische Erzählung ein Musterexemplar an Geschlechtergerechtigkeit, passend zum titelgebenden Indefinitpronomen „Unsereins“.
Auch sonst versucht die Autorin möglichst vielen Erwartungen gerecht zu werden, die man an einen solchen Epochen-Bildausschnitt rund um die Jahrhundertwende haben kann. Soziale und politische Umbrüche, wirtschaftliche Expansion und technischer Fortschritt, Intrigen und Verwerfungen innerhalb des Bürgertums, alte Strukturen und neue Bewegungen – alles wird gestreift und mit privaten Verhältnissen und Lebensläufen anschaulich verknüpft, Abstecher nach England und Japan inbegriffen, nach Timmendorf und Bad Kissingen sowieso.
Schon früher ist Mahlke für ihre atmosphärisch starken Detailschilderungen gerühmt worden: Hier sieht man die prächtig ausgestattete Verfilmung förmlich vor sich, zumal die lockere, elegante Episodenprosa im Präsens sich leicht in ein Serienskript umwandeln ließe. Und der Drohnen-Blick auf die Stadt, der zu Beginn und am Schluss wirkungsvoll imaginiert wird, scheint Derartiges direkt vorzubereiten.
Was ebenfalls vorkommt, wenn auch sehr diskret, sind Anspielungen auf den jüdischen Hintergrund der Familie Lindhorst, ergo Fehling beziehungsweise Hagenström, und damit auf die ewige Streitfrage, inwieweit Thomas Mann in den „Buddenbrooks“ antisemitische Klischees bediente, sie nur darstellte oder ihnen gar selbst erlegen war. Das ist aber nicht, wie man manchen Ankündigungen entnehmen könnte, das zentrale Thema des Romans. Auch geht es darin nicht, wie wiederum der Klappentext suggeriert, vorrangig um die jüngste Lindhorst-Tochter Marthe, die im zweiten Kapitel zur Welt kommt und im letzten gerade sechzehn ist. Bei ihr handelt es sich, nach Mahlkes System der Figurentarnung, um Maria Fehling, die von 1890 bis 1929 lebte und Historikerin wurde. Ihre Biografie dürfte allerdings bemerkenswert genug sein, um sie zum Ausgangspunkt einer Fortsetzung zu machen – ganz im Sinne der abschließenden Worte der Erzählerin: „Aber vielleicht ist dies nicht das Ende, sondern nur der Anfang.“
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Sie weist dem jungen
Thomas Mann eine
Nebenrolle zu
Die Episodenprosa
ließe sich leicht in ein
Serienskript umwandeln
Inger-Maria Mahlke: Unsereins. Roman. Rowohlt, Hamburg 2023. 496 Seiten, 26 Euro.
Die preisgekrönte Schriftstellerin Inger-Maria Mahlke, Jahrgang 1977, ist in Lübeck aufgewachsen.
Foto: Arne Dedert/dpa
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Inger-Maria Mahlke scheut in ihrem Epos „Unsereins“ nicht die Kollision
mit Thomas Manns „Buddenbrooks“, aber glücklicherweise seinen Stil.
Mit hanseatischer Zuverlässigkeit hat Inger-Marie Mahlke, 1977 in Hamburg geboren und in Lübeck aufgewachsen, seit 2010 alle zwei bis drei Jahre einen Roman vorgelegt, bis sie 2018 für „Archipel“ den Deutschen Buchpreis erhielt. Dann kündigte sie an, sie werde sich für das nächste Werk mehr Zeit nehmen. Auch darauf war Verlass, wie man sieht. Fünf Jahre später ist jetzt „Unsereins“ erschienen, ein knapp fünfhundertseitiges Epos, in dem die studierte Juristin abermals ihren Hang und ihr Talent zur historischen Recherche vorführt: Hatte sie sich für „Wie ihr wollt“ von 2015 in die Tudor-Ära begeben und in „Archipel“ die Geschichte der Insel Teneriffa, wo sie einen Teil ihrer Jugend verbrachte, bis ins frühe 20. Jahrhundert zurückverfolgt, wendet sie sich diesmal ihrer Heimatstadt Lübeck zu, um dort in der überschaubaren Zeitspanne zwischen 1890 und 1906 ein breit angelegtes Familien- und Gesellschaftspanorama zu entfalten. Was auf eine Kollision mit den „Buddenbrooks“ hinausläuft, dem berühmtesten aller Lübeck-Romane, der 1901 erschien.
Genau darauf kam es der Autorin offenbar an, und was sie daraus macht, ist so couragiert wie unterhaltsam. Sie weist dem jungen Thomas Mann eine Nebenrolle zu und nimmt seinen spektakulären Erstling zum Anlass, die Schraube seiner Figurenverschlüsselung, die nach der 1903 veröffentlichten Zweitauflage tout Lübeck in ein Such- und Ratespiel verwickelte, einfach noch ein Stück weiter zu drehen. „Einfach“ gilt hier im doppelten Sinne: Mögen auch bei Mahlke die Bezüge zwischen literarischen Gestalten und deren realen Vorbildern noch etwas komplizierter sein als bei Mann, so bleibt sie erzähltechnisch und stilistisch doch in der leichteren Sphäre, klug genug, dem Jahrhundertwerk nicht etwa das Wasser reichen zu wollen.
Die holsteinische Hansestadt war damals „der kleinste Staat des deutschen Kaiserreichs“. Bremen habe eigentlich noch weniger Fläche, wird im Vorspann eingeräumt, „jedoch: zweitkleinster klingt mickrig“. Diese Gebrauchsanweisung deutet schon an, dass nicht alles an der Geschichte tierisch ernst zu nehmen ist und dass die Fiktion, wenn sie besser klang, der Realität vorgezogen wurde. Das ist eine gute Grundlage, um diese originelle Mischung aus Dichtung und Wahrheit zu goutieren. Und um Spaß daran zu finden, die von Mahlke eingebauten Volten mithilfe eigener Recherchen und Rückschlüsse zu dechiffrieren. Was dadurch noch kurzweiliger wird, dass die Autorin, ganz in Thomas Manns Manier, echte und fiktive Identitäten und Biografien immer nur teilweise zur Deckung bringt, um dann wieder völlig frei mit den handelnden Personen zu verfahren.
Im Zentrum von „Unsereins“ steht die Familie des Rechtsanwalts und Senators Friedrich Lindhorst, hinter dem sich die Buddenbrooks-Figur Dr. Moritz Hagenström respektive dessen reales Vorbild Emil Ferdinand Fehling verbirgt, der später Bürgermeister von Lübeck wurde. Fehling war in erster Ehe vermählt mit Ada Marie Caroline, der Tochter des seinerzeit hochpopulären Lübecker Lyrikers Emanuel Geibel, den Mahlke in „Keitel“ umgetauft hat und süffisant als „berühmtesten Dichter aller Zeiten“ tituliert. Bei Thomas Mann tritt er als Hauspoet Hoffstede auf, aber nicht als Schwiegervater von Dr. Hagenström, der ja ein butterblondes Fräulein Puttfarken aus Hamburg heiratet, wohingegen Friedrich Lindhorsts Gattin Marie mit der historisch verbürgten Frau Fehling nicht nur die Lebensdaten, die ererbte psychische Krankheit und den reichen Kindersegen gemeinsam hat, sondern auch das dunkle Haar und die Geburt in München … und so geht es munter fort.
In ihre Konstruktion aus Übereinstimmungen, Abweichungen und mutwilligen Verrätselungen mischt die Autorin historische Figuren, die unter ihrem Klarnamen auftreten: Neben dem leicht arrogant scheiternden Gymnasiasten „Tomy“ Mann betrifft das etwa dessen Freund, den künftigen Kunsthistoriker Otto Grautoff, ferner den aufstrebenden Sozialdemokraten Theodor Schwartz, den Maler Vilhelm Petersen alias Willy Gretor, dessen Kollegin und Geliebte Maria Schorer sowie weibliche Mitglieder des Lesezirkels „Ibsen-Club“, unter ihnen Fanny zu Reventlow, die kurz mit dem ältesten Fehling-Sohn liiert war. Es war damals einiges los in Lübeck, und Inger-Maria Mahlke sind hübsche Szenen dazu eingefallen.
Noch mehr schriftstellerische Zuwendung erfahren die Mitwirkenden, die vollkommen oder weitgehend erfunden sind – oder es jedenfalls zu sein scheinen, wenn die Zeit für detektivische Detailforschung fehlt. Da ist die Familie des amtierenden Wasserbaudirektors, hier Schilling genannt, die um ihren Aufstieg ins Großbürgertum ringt.
Da ist der aus Berlin zugereiste Gymnasiast Georg Presswitz, ein doch sensibler Beobachter und Chronist am ehrwürdig-elitären Katharineum, das auch die Autorin besucht hat. Und da sind die für einen „Gesellschaftsroman“ nach heutigem Maßstab wichtigsten Protagonisten, nämlich jene, die den unteren Klassen angehören und durch tägliche Mühsal ihren Arbeitgebern das privilegierte Leben erst ermöglichen.
Eingehend widmet sich Mahlke dem Schicksal der Ida Stuermann, die als Dienstmädchen im Haushalt der Lindhorsts schuftet, und ihrem traurig misslingenden Ausbruchsversuch. Aber auch der Ratsdiener Johann Isenhagen und der Lohndiener Charlie Helms, der wegen seiner Homosexualität im Gefängnis landet, werden empathisch in den Blick genommen. Wie überhaupt die Klappentext-Botschaft, dies sei vor allem ein Roman der Frauen, ein wenig nach vorauseilendem Feminismus riecht: Den zweifellos interessanten Frauengestalten zum Trotz ist Mahlkes multiperspektivische Erzählung ein Musterexemplar an Geschlechtergerechtigkeit, passend zum titelgebenden Indefinitpronomen „Unsereins“.
Auch sonst versucht die Autorin möglichst vielen Erwartungen gerecht zu werden, die man an einen solchen Epochen-Bildausschnitt rund um die Jahrhundertwende haben kann. Soziale und politische Umbrüche, wirtschaftliche Expansion und technischer Fortschritt, Intrigen und Verwerfungen innerhalb des Bürgertums, alte Strukturen und neue Bewegungen – alles wird gestreift und mit privaten Verhältnissen und Lebensläufen anschaulich verknüpft, Abstecher nach England und Japan inbegriffen, nach Timmendorf und Bad Kissingen sowieso.
Schon früher ist Mahlke für ihre atmosphärisch starken Detailschilderungen gerühmt worden: Hier sieht man die prächtig ausgestattete Verfilmung förmlich vor sich, zumal die lockere, elegante Episodenprosa im Präsens sich leicht in ein Serienskript umwandeln ließe. Und der Drohnen-Blick auf die Stadt, der zu Beginn und am Schluss wirkungsvoll imaginiert wird, scheint Derartiges direkt vorzubereiten.
Was ebenfalls vorkommt, wenn auch sehr diskret, sind Anspielungen auf den jüdischen Hintergrund der Familie Lindhorst, ergo Fehling beziehungsweise Hagenström, und damit auf die ewige Streitfrage, inwieweit Thomas Mann in den „Buddenbrooks“ antisemitische Klischees bediente, sie nur darstellte oder ihnen gar selbst erlegen war. Das ist aber nicht, wie man manchen Ankündigungen entnehmen könnte, das zentrale Thema des Romans. Auch geht es darin nicht, wie wiederum der Klappentext suggeriert, vorrangig um die jüngste Lindhorst-Tochter Marthe, die im zweiten Kapitel zur Welt kommt und im letzten gerade sechzehn ist. Bei ihr handelt es sich, nach Mahlkes System der Figurentarnung, um Maria Fehling, die von 1890 bis 1929 lebte und Historikerin wurde. Ihre Biografie dürfte allerdings bemerkenswert genug sein, um sie zum Ausgangspunkt einer Fortsetzung zu machen – ganz im Sinne der abschließenden Worte der Erzählerin: „Aber vielleicht ist dies nicht das Ende, sondern nur der Anfang.“
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Sie weist dem jungen
Thomas Mann eine
Nebenrolle zu
Die Episodenprosa
ließe sich leicht in ein
Serienskript umwandeln
Inger-Maria Mahlke: Unsereins. Roman. Rowohlt, Hamburg 2023. 496 Seiten, 26 Euro.
Die preisgekrönte Schriftstellerin Inger-Maria Mahlke, Jahrgang 1977, ist in Lübeck aufgewachsen.
Foto: Arne Dedert/dpa
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