Das familiendynamische Konzept der beiden Autoren ist durch den Begriff der Gerechtigkeit geprägt, ihr therapeutisches Konzept um das der Fairneß und den Wert der Familie. Diese ethische Orientierung macht den Blick frei für die schicksalhafte Verflechtung der Generationen. Und sie führt zu einer kritischen Prüfung zentraler psychoanalytischer Begriffe und Konzepte.
»Das Buch hat als "Klassiker" nach wie vor seine Berechtigung; die Konzepte sind relevant und stellen wichtige Grundlagen für die therapeutische Arbeit dar.«Lothar Unzner, socialnet.de, 3/2014»Nur wesentliche Bücher fordern uns heraus, und ?Unsichtbare Bindungen? ist ein solches Buch. Daher wünsche ich es nicht nur in die Hände von Familienforschern und -therapeuten, sondern von allen, die ernsthaft an Problemen der menschlichen Persönlichkeit interessiert sind.«Helm Stierlin»"Unsichtbare Bindungen" von Ivan Boszormenyi-Nagy und Geraldine Spark steht als der Klassiker zur Mehrgenerationenperspektive schon seit vielen Jahren in meinem Bücherregal. Loyalität, Kontenausgleich und Parentifizierung sind die wesentlichen Begriffe und Konzepte, die ich mit dem Buch verbinde, aufgeschlagen hatte ich es allerdings schon länger nicht mehr und eigentlich auch nie ganz gelesen. Eine gute Voraussetzung , es mal wieder hervorzuholen:1973 erschien das Buch in den USA. Boszormenyi-Nagy war zu der Zeit Professor für Psychiatrie an der Universität in Philadelphia. Aus Ungarn stammend, wo er zunächst eine psychoanalytische Ausbildung absolviert hatte, lebte und arbeitete er seit Ende der vierziger Jahren in den USA. Seine langjährige Tätigkeit im Bereich von Psychiatrie und Kinderpsychiatrie hatte ihn zu einem der Pioniere familientherapeutischen Denkens werden lassen. Geraldine Spark war psychiatrische Sozialarbeiterin und Mitarbeiterin der familientherapeutischen Abteilung der Universitätsklinik. Obwohl sie als gleichwertige Mitautorin gilt, ist sie leider eher unbekannt geblieben.Das Anliegen des Buches ist es, eine Theorie zu entwerfen, in der sowohl "das Tiefenerleben der Einzelpersönlichkeit als auch die Vielfalt des Kraftfelds Familie" festgehalten wird.Die Autoren stehen dabei im Spannungsfeld der traditionellen Psychoanalyse einerseitsund der neuen Familientherapeutischen Konzepte andererseits, vor allem der strukturellen und strategischen Schule. Der Psychoanalyse wird vorgeworfen, daß sie in ihrem Menschenbild zu sehr am Individuum und dessen »egoistischen« Trieben orientiert ist. Die strukturelle und strategische Familientherapie scheint ausschließlich mit aktuellen Mustern beschäftigt und dadurch einen Mangel an Tiefgang aufzuweisen. Das Ziel der Autoren ist es, unbewußte Motive anders als triebtheoretisch zu begründen und auf diese Weise systemische Ideen um eine Tiefendimension zu bereichern.Ausgehend von der Philosophie Martin Bubers sind zwei Begriffe grundlegend für diesen Ansatz: Begegnung und Gerechtigkeit. Begegnung wird als grundlegendes und konstituierendes Element von Menschsein verstanden (hier liegt die Absetzung von der Psychoanalyse), Gerechtigkeit als Ordnungsprizip menschlicher Beziehungen gilt als "existenzielle Gegebenheit". Damit wird das Streben nach Gerechtigkeit zu einem primären menschlichen Handlungsmotiv.Auf dieser Grundlage wird eine psychologische Theorie entwickelt, in der wechselseitige Verpflichtungen und Erwartungen und Wünsche nach Ausgleich zu wesentlichen bewußten und unbewußten Motiven von Verhalten werden. Als bedeutsam wird besonders der Ausgleich zwischen den Generationen gesehen, die Verpflichtung und Schuld der Kinder gegenüber ihren Eltern. Begriffe wie Verdienstbuchführung, Kontenausgleich entstehen auf dem Hintergrund dieser Überlegungen, der zentrale Begriff ist Loyalität.Loyalität gilt als natürliche Bindung an die Herkunftsfamilie. Im Prozeß des Erwachsenwerdens müssen diese Loyalitätsbindungen langsam gelöst und verändert werden. Mit dem Eingehen einer Ehe und der Gründung einer eigenen Familie muß ein Teil, der größere, auf den Ehepartner übertragen werden. Bei sehr starren Loyalitäten oder unbewußten Konflikten kann diese Lösung oder Übertragung mißlingen. Ungelöste und meist unbewußte Loyalitätsbindungen können zur Ursache zahlreicher Konflikte und Krisen werden, vor allem Adolszenz- und Ablösungskrisen und Ehekonflikten, aber auch anderen körperlichen und psychischen Erkrankungen.An vielen Fallgeschichten wird erläutert, was die Autoren mit ihren Konzepten beschreiben und erklären wollen. Die Beispiele sind sehr anschaulich und das Verständnis der geschilderten Ehekonflikte, Adoleszenzkrisen u. a. auf dem Hintergrund ungelöster Loyalitätskonflikte unmittelbar einleuchtend. Diese fallbezogenen Teile des Buches finde ich auch beim erneuten Lesen ausgesprochen anregend. Oft schweife ich mit meinen Gedanken ab zu Paaren und Familien aus meiner eigenen Praxis und mir kommen ganz neue Hypothesen in den Sinn.Gut gefällt mir auch die sehr wertschätzende Haltung, der Blick richtet sicher immer auch auf die Ressourcen. Alle Konzepte haben auch eine positive Konnotation, es gibt wenig Pathologieorientiertes.Mühsam zu lesen sind dagegen die Theoriekapitel. Die Sprache ist sperrig und die Darstellung wenig strukturiert. Bei dem Versuch, den klinisch-orientierten Konzepten eine allgemeine psychologische Theorie zu unterlegen, verheddern sich die Autoren immer wieder, wechseln zwischen psychologischer Theorie, philosophischen Grundlagen und weltanschaulichen Statements. Der Leser verliert schnell den Faden, die Theorie bleibt wage und zu sehr moralisch-philosophisch begründet, zu wenig psychologisch. Zudem fußen die weltanschaulichen Überlegungen auf einem ausgesprochen wertkonservativen und ungebrochen patriachalen Weltbild und sind heute für Frauen zumeist nur schwer verdaulich.Anders als andere Klassiker, wie zum Beispiel "Die Zweierbeziehung" von Jörg Willi, ist "Unsichtbare Bindungen" immer ein Fachbuch geblieben. Für einen breiten Leserkreis ist die Lektüre zu mühsam, die Sprache zu sperrig und die Theorie oft zu langatmig.Die grundlegenden Ideen sind aber nicht weniger anregend und spannend. Und so erfreuen sich diese grundlegenden Überlegungen inzwischen tatsächlich einer enormen Popularität, verbunden nur mit einem anderer Autor - Bert Hellinger. Hellinger ist es gelungen, die wesentlichen Gedanken von Boszormenyi-Nagy und Spark in ein übersichtliches, populärwissenschaftliches Konzept zu überführen und damit einem breiten Interessentenkreis zugänglich zu machen. Natürlich sagt Hellinger nicht genau das gleiche, aber die Grundlagen sind unverkennbar (auch wenn Hellinger selbst darum nicht viel Aufhebens macht). Die Erweiterung liegt vor allem in der therapeutischen Technik der Aufstellungen und dem damit verbundenen Angebot von Lösungen. Der Gedanke einer grundlegenden Ordnung ist auch bei Boszormenyi-Nagy und Spark schon angelegt, wird aber bei Hellinger viel prägnater und apodiktischer. Im patriachaler Weltbild sind sie sich einig.Bei Hellinger erleben die "Unsichtbare Bindungen" eine Renaissance, ansonsten fristen sie in der systemischen Familientherapie eher ein Hintergrunddasein. Doch auch fast dreißig Jahren nach dem ersten Erscheinen des Buchs scheint mir das grundlegende Ansinnen der Autoren noch immer von Aktualität, der Versuch das "Tiefenerleben" des einzelnen konzeptionell mit einem systemischen Verständnis von Störungen zu verbinden.Die systemische Sichtweise hat sich in dieser Zeit wesentlich weiterentwickelt. Die strategischen und strukturellen Ansätze sind in ihrer Bedeutung relativiert und durch differenzierte konstrukivistische Konzepte erweitert worden. Direktive Interventionen und Verschreibungen spielen in der therapeutischen Technik kaum noch eine Rolle, an ihre Stelle sind Fragetechniken, reflektierende Kommentare und kreative Methoden getreten. Dennoch: die Einbeziehung des ?Tiefenerlebens? des einzelnen ist zumindest theoretisch nicht befriedigend gelöst. Gerade in den letzten Jahre hat sich wieder ein zunehmendes Unbehagen breitgemacht über die zu kognitive, musterorientierte Sichtweise des systemischen Ansatzes. Der Begriff der Begegnung ist in dieser Debatte wieder aufgetaucht (Welter-Enderlin).Die Weiterentwicklung von Konzepten zu Beziehung und Beziehungsfähigkeit scheint mir noch immer ein spannendes Thema. Dabei lohnt es sich durchaus, auf Boszormenyi-Nagy und Spark zurückzugreifen. Schon die Tatsache, daß diese Ideen in Verbindung mit der Aufstellungspraxis auf so großes Interesse stoßen, spricht dafür, daß etwas Wesentliches darin erfaßt wird. Die Begrenztheit ihres Ansatzes liegt aber in der vor allem ethisch-philosophischen Begründung. Für bereichernd halte ich die Einbeziehung neuerer entwicklungspsychologischer Theorie und Forschung zur Entstehung von Beziehung und Beziehugnsfähigkeit um diese Begrenztheit zu überwinden. Aber auch für die therapeutische Praxis hat das Buch noch immer viele Anregungen zu bieten. Das Konzept bewußter und unbewußter Loyalität und die Idee des Strebens nach Gerechtigleit und Ausgleich läßt viele interessante Hypothesen für Therapien entstehen. Die Frage, wie mit diesen Hypothesen dann therapeutisch gearbeitet wird, eröffnet wiederum ein weites Feld für Kreativität. Die Autoren des Buchs halten sich noch weitgehend an das psychoanalytische Konzept des Durcharbeitens. Hellinger hat sich für die (Er-)Löungssätze entschieden. Ich kann mir dazwischen noch viele andere spannende Möglichkeiten denken.Mich hat das nochmalige Lesen des Buchs sehr zu theoretischen Überlegungen und praktischen Ideen angeregt, auch wenn ich streckenweise etwas ermüdet und genervt war und mir letzendlich wieder einige Seiten gespart habe. Jeder Interessierten kann ich nur empfehlen, das Buch ab und zu mal hervorzunehmen und sich gezielt ein paar anregende, auffrischende Ideen zu holen.«Renate Weihe-Scheidt, Freiburg, www.systemagazin.de (erstmals Kontext, 3/2001)