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»Der Höhepunkt von Modianos Kunst.« Les Echos
Jean Eyben ist knapp 20, als er in einer Pariser Detektei anheuert und auf die verschwundene Noëlle Lefebvre angesetzt wird. Alle Hinweise führen ins Leere, doch das Rätsel lässt Jean auch Jahre später nicht los. Da sind die Namen von Noëlles Kontakten, das schmale, damals heimlich entwendete Dossier und ihr sporadisch geführter Kalender mit dem geheimnisvollen Satz: »Wenn ich gewusst hätte ...« Als Jean einen Jugendfreund trifft, erscheint ihm ein Detail plötzlich von Bedeutung: Noëlle Lefebvre stammt aus »einem Dorf in der Umgebung von…mehr

Produktbeschreibung
»Der Höhepunkt von Modianos Kunst.« Les Echos

Jean Eyben ist knapp 20, als er in einer Pariser Detektei anheuert und auf die verschwundene Noëlle Lefebvre angesetzt wird. Alle Hinweise führen ins Leere, doch das Rätsel lässt Jean auch Jahre später nicht los. Da sind die Namen von Noëlles Kontakten, das schmale, damals heimlich entwendete Dossier und ihr sporadisch geführter Kalender mit dem geheimnisvollen Satz: »Wenn ich gewusst hätte ...« Als Jean einen Jugendfreund trifft, erscheint ihm ein Detail plötzlich von Bedeutung: Noëlle Lefebvre stammt aus »einem Dorf in der Umgebung von Annecy«. So wie er selbst. Ein verblüffender, tief berührender Roman über die Hoheit der Erinnerung und die Deutung der eigenen Geschichte.
Autorenporträt
Patrick Modiano, 1945 geboren, ist einer der bedeutendsten französischen Schriftsteller der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Auszeichungen, darunter den großen Romanpreis der Académie française und den Prix Goncourt. 2012 wurde ihm der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur verliehen und 2014 der Nobelpreis für Literatur.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2021

Schule des Lebens dient der Literaturausbildung

Die milden Detektive: Patrick Modiano entfaltet in seinem neuen Roman "Unsichtbare Tinte" ein neues Vexierspiel der Erinnerung.

Von Niklas Bender

Eigentlich. Nach zwei Jahrzehnten mit Patrick Modiano muss der Kritiker zugeben, dass seine Besprechungen am besten mit diesem Wort beginnen sollten. Eigentlich schreibt Modiano leichte kleine Romane, deren "petite musique" (so die französische Kritik) schon mal süßlich wird. Eigentlich passiert wenig, und eigentlich ergibt das bisschen eine schlichte Handlung. Eigentlich wiederholen sich Identitätssuche, Paris-Nostalgie, ja Detailmotive und Formulierungen. Und doch: In Modianos Romanen ist alles komplexer als anfangs gedacht. Zugleich schwebender, abgründiger - gelungener.

"Unsichtbare Tinte" ist ein treffendes Beispiel dafür. Ein alternder Ich-Erzähler berichtet von seinen Recherchen nach Noëlle Lefebvre. Es handelt sich um eine spurlos verschwundene Frau, auf die ihn Anfang der sechziger Jahre der Chef der Detektei Hutte angesetzt hatte. Der damals Zwanzigjährige hatte dort nur für ein paar Monate angeheuert: "Ich hatte gedacht, diese zeitweilige Arbeit würde mir einen Haufen Material liefern, das mich später einmal inspirieren könnte, falls ich mich der Literatur widmete. Die Schule des Lebens, sozusagen." Seine Ermittlungen, finanziert von Georges Brainos, einem reichen, etwas suspekten Auftraggeber, konzentrieren sich auf Noëlles Domizil sowie wenige Orte, vor allem die Tanzbar "Dancing de la Marine" am Quai de Grenelle. Zwar gelingt es dem Jungschnüffler, den Schauspieler Gérard Mourade kennenzulernen, einen Freund der Verschwundenen; über ihn gelangt er zu ihrem letzten Aufenthaltsort, wo er Noëlles Notizbuch findet und erfährt, dass sie für ein Lederwarengeschäft gearbeitet hatte. Tatsächlich aber verlaufen die Fährten rasch im Sande.

Der junge Mann, der selbst eine Leerstelle bleibt (woher kommt der belgische Pass?), schlägt einen nicht näher bestimmten anderen Weg ein. Ihm gehen weiterhin Noëlle Lefebvre - die eigentlich anders heißt - und die mit ihr verbundenen Personen durch den Kopf, neben Brainos vor allem Sancho Lefebvre (eigentlich Serge Servoz-Lefebvre), ihr tatsächlicher Ehemann. Hin und wieder reichert er das himmelblaue Dossier an, das er aus der Agentur entwendet hat. So zehn Jahre später, als ihm ein Freund, Journalist im Ressort "Vermischtes", von einer Kriminalaffäre berichtet, in die Mourade verwickelt war, oder fünfzehn Jahre später, als ihm ein Autogeschäft auffällt, dessen Besitzer Roger Béavioure angeblich Noëlles Gatte im Moment ihres Verschwindens war. Seine jugendliche Hoffnung, die Teile würden sich wie ein Puzzle zusammensetzen lassen, schwindet, der Vergleich wird ersetzt: "Mir ging's wie Forschern, die jahrzehntelang versucht haben, eine uralte Sprache zu entziffern." Freilich eine Individualsprache: die auf den ersten Blick banalen, wie mit Zaubertinte geschriebenen Worte im Notizbuch der Flüchtigen.

Man erahnt das gewohnte modianeske Arsenal an existentiellen Zerbrechlichund Flüchtigkeiten: die Ungreifbarkeit eines Menschenlebens, seine Leerstellen, Abbrüche und dünnen Spuren, den Trug von Namen, die Unzuverlässigkeit der Zeugen. Die schriftstellerische Arbeit wider das Vergessen illustriert ein originelles Bild: "Sich auf keinen Fall unterbrechen, sondern beim Bild des Skifahrers bleiben, der für alle Ewigkeit einen ziemlich steilen Hang hinabgleitet, wie der Füller über die weiße Seite." Das ist die Gegenmetapher zur abschüssigen Straße, zum Schwindel des Sichverlierens, die Modiano häufig evoziert. Andere Begriffe und Motive kennt man: von banalen Reminiszenzen wie dem amerikanischen Cabrio bis zur Bezeichnung des Sommers als "metaphysische Jahreszeit", eine Formel, "die ein Philosoph, dessen Namen ich vergessen habe", geprägt habe. In "Damit du dich im Viertel nicht verirrst" (2014) wurde sie dem "Philosophielehrer Maurice Caveing" zugeschrieben, einem Philosophen, der wirklich existiert hat - man meint, einer Ausweitung von Erinnern und Vergessen aufs ganze Werk beizuwohnen.

Zum Kern: Warum interessiert sich ein Siebzigjähriger für eine Gleichaltrige, die "fast ein halbes Jahrhundert" zuvor abgetaucht ist? "Im ziemlich geradlinigen Verlauf meines Lebens war er eine ohne Antwort gebliebene Frage", stellt der Erzähler fest und meint damit den Gedanken an die Verschwundene. Der tiefere Grund ist, dass ihn die Ahnung nicht loslässt, "auf der Suche nach einem fehlenden Kettenglied in meinem Leben" zu sein: Noëlle stammt aus einem Dorf bei Annecy (Haute-Savoie), in dem er selbst einen Teil seiner Jugend verbracht hat; vermutlich hat er sie gekannt, jedoch unter anderem Namen. Die Ski-Metapher findet ihre Erklärung.

Das letzte Fünftel des Romans setzt eine beruhigende sinnstiftende Note. Es ist aus der Perspektive von Noëlle erzählt, die sich nach Rom abgesetzt und dort ihr Leben gelebt hatte. Man erfährt, wie sie einen Unbekannten trifft, in dem man den Erzähler erahnt. Offensichtlich hat seine Suche - auf der er wie in einem Wald bei Nachtanbruch "in die Irre" zu gehen drohte (Dante-Geigen klingen im Hintergrund) - ein gutes Ende gefunden. Die Begegnung findet in einer verwaisten Fotogalerie statt, ausgestellt wird dort das Werk eines gewissen Gaspard de la Nuit.

Modiano verdichtet die bedeutungsschwere Rom-Referenz weiter. Die ewige Stadt - "Hier ändert sich nichts, nie . . .", sagt Noëlle - ist von jeher ein Pol der französischen Literatur. Bei Modiano wird sie zum Ort der "endgültigen Flucht", der Amnesie ("Das Vergessen hatte das alles zugedeckt mit einer weißen und rutschigen Schicht. Schnee.") und eines möglichen Wiederfindens. Vor allem ist sie Ort einer poetisch dichten Prosa, denn der Band "Gaspard de la Nuit" (postum 1842) von Aloysius Bertrand (1807 bis 1841) ist, so ein Topos der Literaturgeschichte, der Beginn des Prosagedichts französischer Sprache. Als Prosagedicht will dieser Roman gelesen werden - eigentlich.

Patrick Modiano: "Unsichtbare Tinte". Roman.

Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser Verlag, München 2021, 142 S., geb., 19,- [Euro].

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