Jedes Mal, wenn sich in Österreich nach 1918 etwas ereignete, stand das Land unter Beobachtung: als Deutschösterreich, als Erste Republik, als Ständestaat, als Alpen- und Donaugaue des Großdeutschen Reichs, als Zweite Republik - bis in die Gegenwart. Es wurde und wird geschaut, gehört und meist nicht geschwiegen. So als ob Österreich noch immer jene Versuchsstation für Weltuntergänge wäre, als die sie Karl Kraus beschrieben hat. Was 1918 notgedrungen als Experiment begann, war 1938 auch schon wieder gescheitert. 1945 wollten vier Besatzungsmächte kein Risiko eingehen und stellten Österreich unter Kuratel. Und auch in weiterer Folge stand das Land immer wieder unter Beobachtung: 1956, während des Volksaufstands in Ungarn, 1968 bei der Besetzung der Tschechoslowakei, 1986 nach der Wahl Kurt Waldheims zum österreichischen Bundespräsidenten, 1991 während des slowenischen Unabhängigkeitskrieges, 2000 nach der Bildung einer Kleinen Koalition und nicht zuletzt 2016 bei der längsten Wahl eines österreichischen Staatsoberhauptes. Österreich galt als Problemzone, als Sonderfall, als Musterschüler und gleich mehrfach als böser Bube, dem man ganz genau auf die Finger schauen wollte. Das tut man auch heute. Ein spannender und abwechslungsreicher Überblick über die österreichische Geschichte der letzten 100 Jahre.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.01.2018Unter Aufsicht
Österreich und die großen Mächte vom Ende der Monarchie bis zur Gegenwart
Manfried Rauchensteiner ist ein Historiker, der schon viele monumentale Werke verfasst hat. In seiner jüngsten großen Monographie entwickelt er einen Erzählbogen vom Kriegsende 1918 bis zur jüngsten Zeit mit völlig österreich-untypischer Gegenwarts-Geschichtsschreibung. Dabei wird deutlich, wie der Kleinstaat wiederholt kritisch beäugt und bevormundet wurde. "Deutschösterreich" erklärte sich 1918 zum Bestand der "Deutschen Republik", was jedoch der am 10. September 1919 von Staatskanzler Renner in Saint-Germain-en-Laye unterzeichnete "schmerzliche Frieden" unterband. Als Tirol und Salzburg 1921 auf Bundesländerebene den Anschluss an Bayern wollten, untersagten das die Entente-Mächte unter Androhung der Einstellung von Lebensmittellieferungen in das hungernde Land.
Die Genfer Völkerbundanleihe zur Sanierung des Staatshaushalts von 1922 sah unter einem niederländischen Finanzkommissar ein zwanzigjähriges Anschluss-Verbot an Deutschland vor, das sich mit der Lausanner Anleihe von 1932 wiederholte. Als zuvor der großdeutsche Vizekanzler Schober mit Reichsaußenminister Curtius eine Zollunion ausgehandelt hatte, gab es ein französisches Veto. Ein knapper Richterspruch des Internationalen Gerichtshofs (IGH) entschied mit 8:7-Stimmen im Sinne der Unvereinbarkeit des Projekts mit Genf.
Hitler hatte in Gestalt von Theo Habicht einen in München sitzenden Landesinspektor, der die bereits in Österreich verbotene NSDAP dirigierte. Franz von Papen wirkte ab 1934 als Gesandter "in besonderer Mission des Führers" in Wien. Er fädelte das "Juli-Abkommen" von 1936 ein, welches von der Satellisierung direkt 1938 zur Strangulierung Österreichs führte. Nun bekamen die Österreich-Aufseher den "Anschluss" auf andere Weise.
Die seit 1941 so benannten "Alpen- und Donaugaue" waren nach 1945 in vier Besatzungszonen aufgeteilt - allerdings im Unterschied zu Deutschland hieß der Alliierte Rat in Wien nicht Kontrollrat und die Okkupation endete nach zehn Jahren. Das war jedoch nur unter Auflagen im Staatsvertrag vom 15. Mai 1955 mit einem jetzt dauerhaften Anschlussverbot an Deutschland verbunden: Die Geschichte von 1919, 1922 und 1932 wiederholte sich nun verschärft. Als Empfänger von Marshallplan-Hilfe musste Österreich amerikanische Embargos gegen den Osten im Rahmen der COCOM-Listen einhalten.
Sollte sich dabei ein Außenminister wie Erwin Lanc (1983-84) widersetzen, wurde seitens der Regierung von Ronald Reagan so viel Druck ausgeübt, dass er schließlich gehen musste. Als Österreich 1963 eine Assoziierung an die EWG anstrebte, ließ der belgische Außenminister Spaak auf der Grundlage des IGH-Gutachtens von 1931 prüfen, ob das nicht Anschluss bedeuten würde. 1967 legte Italien in Brüssel ein Veto gegen ein EG-Abkommen Österreichs wegen der Anschläge in Südtirol ein. Erst 1972 kam es zustande.
Es gibt nur ein Staatsoberhaupt in der Geschichte Europas über dessen Amtsverbleib eine internationale Historikerkommission zu befinden versuchte: Es ging um die Kriegsvergangenheit des 1986 mit absoluter Mehrheit gewählten Bundespräsidenten Kurt Waldheim. Am Tag der Republikgründung von 1945, dem 27. April, verhängten die Vereinigten Staaten 1987 ein Einreiseverbot für den früheren UN-Generalsekretär (1972-1981) und setzten ihn auf die "watchlist". Alle Proteste gegen die Verletzung der Unschuldsvermutung halfen nichts. 1992 verzichtete Waldheim auf eine zweite Amtsperiode.
Als am 14. Juli 1989 Österreichs EG-Beitrittsantrag mit Neutralitätsvorbehalt beantragt wurde, empfahl der belgische Außenminister Eyskens Verhandlungen mit der Sowjetunion, die 1955 auf diesen "immerwährenden" Status des Landes beharrt hatte. Österreich wurde 1995 EU-Mitglied. Fünf Jahre später verhängten die 14-EU-Partner einen Boykott gegen Österreich wegen der Regierungsbeteiligung der FPÖ an der von dem ÖVP-Politiker Wolfgang Schüssel geführten Bundesregierung. Bilaterale Kontakte wurden eingefroren, Bewerber für internationale Organisationen abgelehnt und Botschafter nur auf Niedrigebene empfangen. Der Spuk hörte bald wieder auf, zumal die jahrzehntelang nicht erfolgte Entschädigung für NS-Opfer und Zwangsarbeiter von ÖVP und FPÖ umso "freiwilliger" zügig in Angriff genommen wurde.
Rauchensteiner zeichnet insgesamt fein akzentuierte, differenzierte und nuancierte Bilder: Es gab auch Zeiten, in denen sich das Land souverän wähnte und sich wenig aus internationaler Beobachtung machte, so in der Ära des Bundeskanzlers Bruno Kreisky (1970-83), als man zum Beispiel der PLO - und damit einen nichtexistierenden Staat - die Errichtung einer Botschaft in Wien gestattete. Als inoffizielles Mitglied im Europäischen Währungssystem war man jedoch wiederum abhängig von der D-Mark. Der Autor macht mit seinem bahnbrechenden Werk deutlich, wie wichtig die Geschichte Österreichs auch aus der Sicht von London, Paris und Washington zu betrachten ist. Dieser Zugang ist nicht unbedingt repräsentativ für den Stand der heimischen Zunft, die sich von einer internationalen Geschichtsperspektivierung der Republik fernhält.
Die altehrwürdige und hierarchische Österreichische Akademie der Wissenschaften hat sogar - entgegen der jüngeren internationalen Entwicklung und ihrer aktuellen Erklärungsnotwendigkeit - die Zeitgeschichtsforschung weitgehend marginalisiert und dafür eine frühneuzeitliche Habsburg-Retro-Schau priorisiert. Mit dieser Rückwärtsgewandtheit droht weitere Nabelschau und eine Verprovinzialisierung. Rauchensteiners großes neues Werk und der kritische Blick von außen versprechen: auch dieses Österreich wird weiter beobachtet.
MICHAEL GEHLER
Manfried Rauchensteiner: Unter Beobachtung. Österreich seit 1918.
Böhlau Verlag, Wien 2017, 628 S., 29,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Österreich und die großen Mächte vom Ende der Monarchie bis zur Gegenwart
Manfried Rauchensteiner ist ein Historiker, der schon viele monumentale Werke verfasst hat. In seiner jüngsten großen Monographie entwickelt er einen Erzählbogen vom Kriegsende 1918 bis zur jüngsten Zeit mit völlig österreich-untypischer Gegenwarts-Geschichtsschreibung. Dabei wird deutlich, wie der Kleinstaat wiederholt kritisch beäugt und bevormundet wurde. "Deutschösterreich" erklärte sich 1918 zum Bestand der "Deutschen Republik", was jedoch der am 10. September 1919 von Staatskanzler Renner in Saint-Germain-en-Laye unterzeichnete "schmerzliche Frieden" unterband. Als Tirol und Salzburg 1921 auf Bundesländerebene den Anschluss an Bayern wollten, untersagten das die Entente-Mächte unter Androhung der Einstellung von Lebensmittellieferungen in das hungernde Land.
Die Genfer Völkerbundanleihe zur Sanierung des Staatshaushalts von 1922 sah unter einem niederländischen Finanzkommissar ein zwanzigjähriges Anschluss-Verbot an Deutschland vor, das sich mit der Lausanner Anleihe von 1932 wiederholte. Als zuvor der großdeutsche Vizekanzler Schober mit Reichsaußenminister Curtius eine Zollunion ausgehandelt hatte, gab es ein französisches Veto. Ein knapper Richterspruch des Internationalen Gerichtshofs (IGH) entschied mit 8:7-Stimmen im Sinne der Unvereinbarkeit des Projekts mit Genf.
Hitler hatte in Gestalt von Theo Habicht einen in München sitzenden Landesinspektor, der die bereits in Österreich verbotene NSDAP dirigierte. Franz von Papen wirkte ab 1934 als Gesandter "in besonderer Mission des Führers" in Wien. Er fädelte das "Juli-Abkommen" von 1936 ein, welches von der Satellisierung direkt 1938 zur Strangulierung Österreichs führte. Nun bekamen die Österreich-Aufseher den "Anschluss" auf andere Weise.
Die seit 1941 so benannten "Alpen- und Donaugaue" waren nach 1945 in vier Besatzungszonen aufgeteilt - allerdings im Unterschied zu Deutschland hieß der Alliierte Rat in Wien nicht Kontrollrat und die Okkupation endete nach zehn Jahren. Das war jedoch nur unter Auflagen im Staatsvertrag vom 15. Mai 1955 mit einem jetzt dauerhaften Anschlussverbot an Deutschland verbunden: Die Geschichte von 1919, 1922 und 1932 wiederholte sich nun verschärft. Als Empfänger von Marshallplan-Hilfe musste Österreich amerikanische Embargos gegen den Osten im Rahmen der COCOM-Listen einhalten.
Sollte sich dabei ein Außenminister wie Erwin Lanc (1983-84) widersetzen, wurde seitens der Regierung von Ronald Reagan so viel Druck ausgeübt, dass er schließlich gehen musste. Als Österreich 1963 eine Assoziierung an die EWG anstrebte, ließ der belgische Außenminister Spaak auf der Grundlage des IGH-Gutachtens von 1931 prüfen, ob das nicht Anschluss bedeuten würde. 1967 legte Italien in Brüssel ein Veto gegen ein EG-Abkommen Österreichs wegen der Anschläge in Südtirol ein. Erst 1972 kam es zustande.
Es gibt nur ein Staatsoberhaupt in der Geschichte Europas über dessen Amtsverbleib eine internationale Historikerkommission zu befinden versuchte: Es ging um die Kriegsvergangenheit des 1986 mit absoluter Mehrheit gewählten Bundespräsidenten Kurt Waldheim. Am Tag der Republikgründung von 1945, dem 27. April, verhängten die Vereinigten Staaten 1987 ein Einreiseverbot für den früheren UN-Generalsekretär (1972-1981) und setzten ihn auf die "watchlist". Alle Proteste gegen die Verletzung der Unschuldsvermutung halfen nichts. 1992 verzichtete Waldheim auf eine zweite Amtsperiode.
Als am 14. Juli 1989 Österreichs EG-Beitrittsantrag mit Neutralitätsvorbehalt beantragt wurde, empfahl der belgische Außenminister Eyskens Verhandlungen mit der Sowjetunion, die 1955 auf diesen "immerwährenden" Status des Landes beharrt hatte. Österreich wurde 1995 EU-Mitglied. Fünf Jahre später verhängten die 14-EU-Partner einen Boykott gegen Österreich wegen der Regierungsbeteiligung der FPÖ an der von dem ÖVP-Politiker Wolfgang Schüssel geführten Bundesregierung. Bilaterale Kontakte wurden eingefroren, Bewerber für internationale Organisationen abgelehnt und Botschafter nur auf Niedrigebene empfangen. Der Spuk hörte bald wieder auf, zumal die jahrzehntelang nicht erfolgte Entschädigung für NS-Opfer und Zwangsarbeiter von ÖVP und FPÖ umso "freiwilliger" zügig in Angriff genommen wurde.
Rauchensteiner zeichnet insgesamt fein akzentuierte, differenzierte und nuancierte Bilder: Es gab auch Zeiten, in denen sich das Land souverän wähnte und sich wenig aus internationaler Beobachtung machte, so in der Ära des Bundeskanzlers Bruno Kreisky (1970-83), als man zum Beispiel der PLO - und damit einen nichtexistierenden Staat - die Errichtung einer Botschaft in Wien gestattete. Als inoffizielles Mitglied im Europäischen Währungssystem war man jedoch wiederum abhängig von der D-Mark. Der Autor macht mit seinem bahnbrechenden Werk deutlich, wie wichtig die Geschichte Österreichs auch aus der Sicht von London, Paris und Washington zu betrachten ist. Dieser Zugang ist nicht unbedingt repräsentativ für den Stand der heimischen Zunft, die sich von einer internationalen Geschichtsperspektivierung der Republik fernhält.
Die altehrwürdige und hierarchische Österreichische Akademie der Wissenschaften hat sogar - entgegen der jüngeren internationalen Entwicklung und ihrer aktuellen Erklärungsnotwendigkeit - die Zeitgeschichtsforschung weitgehend marginalisiert und dafür eine frühneuzeitliche Habsburg-Retro-Schau priorisiert. Mit dieser Rückwärtsgewandtheit droht weitere Nabelschau und eine Verprovinzialisierung. Rauchensteiners großes neues Werk und der kritische Blick von außen versprechen: auch dieses Österreich wird weiter beobachtet.
MICHAEL GEHLER
Manfried Rauchensteiner: Unter Beobachtung. Österreich seit 1918.
Böhlau Verlag, Wien 2017, 628 S., 29,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Michael Gehler hält das Buch des Historikers Manfried Rauchensteiner für einen Wurf. Der Blick auf Österreich von internationaler Warte scheint Gehler die Ausnahme in der österreichischen Historikerzunft zu sein. Rauchensteiners Monografie, die laut Rezensent den Bogen vom Kriegsende 1918 bis in die jüngste Zeit schlägt, zeigt Gehler nicht nur, wie Österreich in der Vergangenheit bevormundet wurde, der Autor zeichnet tatsächlich ein differenziertes, fein nuanciertes Bild. Denn auch Zeiten der Souveränität wie unter Kreisky kommen im Buch vor, stellt Gehler fest. Ein Werk gegen die Rückwärtsgewandtheit und die drohende Verprovinzialisierung der österreichischen Zeitgeschichtsschreibung, findet Gehler.
© Perlentaucher Medien GmbH
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