Produktdetails
- Verlag: Fest
- Originaltitel: A Varanda do Frangipani
- Seitenzahl: 155
- Abmessung: 210mm
- Gewicht: 315g
- ISBN-13: 9783828600836
- ISBN-10: 3828600832
- Artikelnr.: 26023515
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.11.2000Im Rausch der Kürbiskerne
Mia Couto versetzt Moçambique in einen Traumzustand
Nur auf dem Luftweg ist das Altersheim zu erreichen. Minenverseuchte Pfade und die schroffe moçambiquanische Küste machten das ehemalige Gefängnis zu jener Festung, die es in früheren Zeiten hätte sein sollen. Für die jetzigen Insassen ist das unter portugiesischer Herrschaft begonnene Bauwerk ein Zwischenreich. Das Refugium des Aufbegehrens, der Innenschau und des metamorphischen Neuanfangs hat halb schon die Wirklichkeit verlassen und das Märchen erreicht. Die Alten wissen wenig von der revolutionären Sprengkraft, die ihrer Lebensweise innewohnt. Zu fest sind sie mit dem Felsplateau verwachsen, als daß eine andere Existenz ihnen vorstellbar wäre: "Alles ist immer hier passiert, auf dieser Terrasse, unter diesem Baum, dem Frangipani." Selbst dem weißen Sonderling unter den farbigen Heimbewohnern, Domingos Mourao, gilt seine vorletzte Stätte als der einzige erfahrbare Kosmos. Welch gefahrvollen Widerstand gegen die moderne Welt dieser völlige Rückzug bedeutet, ermessen nur die Jüngeren.
Der Hubschrauber brachte einen Kriminalinspektor aus der Hauptstadt nach São Nicolau. Eine Woche später soll Izidine Naíta wieder in Maputo sein und den Fall gelöst haben. Die Aussagen der betagten Zeugen und Verdächtigen notiert er in ein Notizbuch. Obwohl er schreibt "wie Gott: geradeaus, aber ohne Zeilen", fügen sich die Monologe nicht zu der einen, wahren Geschichte. Jeder und jede nämlich gesteht freudig die Tat. Izidine Naíta, versiert in der Beobachtung großstädtischer Drogenkriege, fühlt sich überfordert. Er glaubt aus der Zeit herauszufallen, wann immer die Alten ihre Sprache reden, die die seine nicht ist.
Auch Marta Gimo kam einst aus der Kapitale in die Einöde. Sie ist jünger als der Polizist, doch längst Teil geworden dieser Gerontokratie. Die Male ihres Vorlebens trägt die Pflegerin noch am geschundenen Körper: Während der achtziger Jahre verboten die kommunistischen Machthaber ihr, weiterhin im Krankenhaus zu arbeiten, und steckten sie in ein Umerziehungslager. Von dort gelang es dem ehemaligen Heimleiter, Vasto Excelêncio, sie freizubekommen. Dank der wunderlichen Alten verlernte Marta bald "die Ordnung der Traurigkeit". Sie lebt jetzt nach dem "Zeitmaß der Träume".
Anders als ihre Patienten hat die Pflegerin einen klaren Begriff von deren trotzigem Traditionalismus. Weil seit dem Friedensvertrag von 1992 "Menschen ohne Geschichte, Menschen, die nur durch Nachahmung existieren", die Macht im Lande ausüben, ist der Krieg nicht beendet. Er schwelt vielmehr fort unter der Oberfläche, hat sich gehäutet zum "Staatsstreich gegen das Einstmalige". Moçambique kappt, so Marta Gimo, in der Euphorie für alles Zukünftige seine Wurzeln. Lediglich die winzige Enklave am Meer hält einer vormodernen Vergangenheit die Treue. São Nicolau ist die Gegenwelt.
Den Alten wurde die Revolte, die Marta den überkommenen Gesängen, Riten und Legenden abliest, zur Natur. An die Stelle des Begriffs treten bei ihnen das Gespür und die Innenschau. Körperlich erinnern sie sich an ihre Herkunft, an die Geburt, nach der etwa Navaia Caetano sofort zu altern begann. Der "Fluch" lastet schwer auf dem "alten Kind", das er geblieben ist. Er trägt seit Dekaden den Tod in sich, erwartet ihn stündlich nach dem Ende seiner Erzählungen, die er Lügen nennt. Zugleich schützt ihn sein fabulierendes Erinnern aber vor diesem neugierigen Zuhörer namens Tod: Wer lügt, bleibt am Leben.
Das abseitige Asyl blieb nicht unbehelligt von der Welt. Vasto Excelêncio hielt Einzug und mit ihm der Krieg. Unter dem brutalen Regiment des Mulatten litt vor allem Domingos, der einzige hellhäutige Bewohner. Ihn mißhandelte der Leiter am ausdauerndsten. Als Vasto Excelêncio schließlich auch seine eigene Ehefrau schlug, ließ Domingos einen großen Felsbrocken auf ihn fallen. Navaia hingegen erstach den Tyrannen, weil er ein exorzistisches Ritual als "Affengehampel" verunglimpft hatte. Domingos' bester Freund erwürgte Vasto Excelêncio, nachdem dieser Marta vergewaltigt hatte, und die Zauberin Naozinha vergiftete das Scheusal.
Die Senioren kämpfen um das Verdienst, dem gewissenlosen Morgen noch einmal Einhalt geboten zu haben. Sie tun es mit den Mitteln eines Gedächtnisses, dessen Lücken sie durch Phantasie schließen. Meister sind sie im Erfinden und im Finden gleichermaßen, im Vertrauen auf "verbrannte Kürbiskerne", die "die Erinnerung an vergessene Geliebte" zurückbringen. Die schöpferische Gabe ist jedoch auch eine Last, da die leibliche Existenz nur anhält, sofern die Alten unentwegt reden, flunkern, sich erinnern. Die Stadtmenschen haben von dieser Pflicht sich kühl befreit, die aussterbende Gattung auf der Anhöhe muß einen jenseitigen Neuanfang erhoffen, der Schweigen schenkt. Phantasien der Auflösung und der Metamorphose wechseln einander ab. Der Wunsch, ein Stein, ein Baum, ein Fisch zu werden, entspringt dem Verlangen nach vollendeter Schöpfung. Als nämlich, so heißt es, "das Einstmalige entstand", gab es nur Menschen. Um der Eintönigkeit auf Erden abzuhelfen, verwandelten die Götter "einige Menschen in Pflanzen, andere in Tiere und noch andere in Steine". Die verbliebenen Menschen haben offenbar nicht alle ihre endgültige Daseinsform erreicht.
Mia Couto will seinen durchweg fesselnden, einfallsreichen, vielschichtigen Roman allegorisch verstanden wissen. Ein vorangestelltes Zitat nennt Moçambique "diese große Terrasse am Indischen Ozean". Die Auseinandersetzung im Schatten des Frangipanibaumes weist auf einen gesellschaftlich bedeutsamen Konflikt: Ob Moçambique einen faulen Frieden mit seiner erst kolonialen, dann kommunistischen Vergangenheit schließt oder deren Wunden anerkennt, entscheidet sich am Umgang mit den Traditionen. Auch außerhalb Afrikas kann man nachempfinden, wie sehr die Haltung zur Geschichte eine Gemeinschaft zu spalten vermag. Marta Gimo umsorgt die Alten auf der Terrasse von São Nicolau, weil sie dort "eine andere Ordnung" verwirklicht sieht. Die Vergangenheit ist Utopie geworden.
ALEXANDER KISSLER
Mia Couto: "Unter dem Frangipanibaum". Roman. Aus dem moçambiquanischen Portugiesisch übersetzt von Karin von Schweder-Schreiner. Alexander Fest Verlag, Berlin 2000. 160 S., geb., 32,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mia Couto versetzt Moçambique in einen Traumzustand
Nur auf dem Luftweg ist das Altersheim zu erreichen. Minenverseuchte Pfade und die schroffe moçambiquanische Küste machten das ehemalige Gefängnis zu jener Festung, die es in früheren Zeiten hätte sein sollen. Für die jetzigen Insassen ist das unter portugiesischer Herrschaft begonnene Bauwerk ein Zwischenreich. Das Refugium des Aufbegehrens, der Innenschau und des metamorphischen Neuanfangs hat halb schon die Wirklichkeit verlassen und das Märchen erreicht. Die Alten wissen wenig von der revolutionären Sprengkraft, die ihrer Lebensweise innewohnt. Zu fest sind sie mit dem Felsplateau verwachsen, als daß eine andere Existenz ihnen vorstellbar wäre: "Alles ist immer hier passiert, auf dieser Terrasse, unter diesem Baum, dem Frangipani." Selbst dem weißen Sonderling unter den farbigen Heimbewohnern, Domingos Mourao, gilt seine vorletzte Stätte als der einzige erfahrbare Kosmos. Welch gefahrvollen Widerstand gegen die moderne Welt dieser völlige Rückzug bedeutet, ermessen nur die Jüngeren.
Der Hubschrauber brachte einen Kriminalinspektor aus der Hauptstadt nach São Nicolau. Eine Woche später soll Izidine Naíta wieder in Maputo sein und den Fall gelöst haben. Die Aussagen der betagten Zeugen und Verdächtigen notiert er in ein Notizbuch. Obwohl er schreibt "wie Gott: geradeaus, aber ohne Zeilen", fügen sich die Monologe nicht zu der einen, wahren Geschichte. Jeder und jede nämlich gesteht freudig die Tat. Izidine Naíta, versiert in der Beobachtung großstädtischer Drogenkriege, fühlt sich überfordert. Er glaubt aus der Zeit herauszufallen, wann immer die Alten ihre Sprache reden, die die seine nicht ist.
Auch Marta Gimo kam einst aus der Kapitale in die Einöde. Sie ist jünger als der Polizist, doch längst Teil geworden dieser Gerontokratie. Die Male ihres Vorlebens trägt die Pflegerin noch am geschundenen Körper: Während der achtziger Jahre verboten die kommunistischen Machthaber ihr, weiterhin im Krankenhaus zu arbeiten, und steckten sie in ein Umerziehungslager. Von dort gelang es dem ehemaligen Heimleiter, Vasto Excelêncio, sie freizubekommen. Dank der wunderlichen Alten verlernte Marta bald "die Ordnung der Traurigkeit". Sie lebt jetzt nach dem "Zeitmaß der Träume".
Anders als ihre Patienten hat die Pflegerin einen klaren Begriff von deren trotzigem Traditionalismus. Weil seit dem Friedensvertrag von 1992 "Menschen ohne Geschichte, Menschen, die nur durch Nachahmung existieren", die Macht im Lande ausüben, ist der Krieg nicht beendet. Er schwelt vielmehr fort unter der Oberfläche, hat sich gehäutet zum "Staatsstreich gegen das Einstmalige". Moçambique kappt, so Marta Gimo, in der Euphorie für alles Zukünftige seine Wurzeln. Lediglich die winzige Enklave am Meer hält einer vormodernen Vergangenheit die Treue. São Nicolau ist die Gegenwelt.
Den Alten wurde die Revolte, die Marta den überkommenen Gesängen, Riten und Legenden abliest, zur Natur. An die Stelle des Begriffs treten bei ihnen das Gespür und die Innenschau. Körperlich erinnern sie sich an ihre Herkunft, an die Geburt, nach der etwa Navaia Caetano sofort zu altern begann. Der "Fluch" lastet schwer auf dem "alten Kind", das er geblieben ist. Er trägt seit Dekaden den Tod in sich, erwartet ihn stündlich nach dem Ende seiner Erzählungen, die er Lügen nennt. Zugleich schützt ihn sein fabulierendes Erinnern aber vor diesem neugierigen Zuhörer namens Tod: Wer lügt, bleibt am Leben.
Das abseitige Asyl blieb nicht unbehelligt von der Welt. Vasto Excelêncio hielt Einzug und mit ihm der Krieg. Unter dem brutalen Regiment des Mulatten litt vor allem Domingos, der einzige hellhäutige Bewohner. Ihn mißhandelte der Leiter am ausdauerndsten. Als Vasto Excelêncio schließlich auch seine eigene Ehefrau schlug, ließ Domingos einen großen Felsbrocken auf ihn fallen. Navaia hingegen erstach den Tyrannen, weil er ein exorzistisches Ritual als "Affengehampel" verunglimpft hatte. Domingos' bester Freund erwürgte Vasto Excelêncio, nachdem dieser Marta vergewaltigt hatte, und die Zauberin Naozinha vergiftete das Scheusal.
Die Senioren kämpfen um das Verdienst, dem gewissenlosen Morgen noch einmal Einhalt geboten zu haben. Sie tun es mit den Mitteln eines Gedächtnisses, dessen Lücken sie durch Phantasie schließen. Meister sind sie im Erfinden und im Finden gleichermaßen, im Vertrauen auf "verbrannte Kürbiskerne", die "die Erinnerung an vergessene Geliebte" zurückbringen. Die schöpferische Gabe ist jedoch auch eine Last, da die leibliche Existenz nur anhält, sofern die Alten unentwegt reden, flunkern, sich erinnern. Die Stadtmenschen haben von dieser Pflicht sich kühl befreit, die aussterbende Gattung auf der Anhöhe muß einen jenseitigen Neuanfang erhoffen, der Schweigen schenkt. Phantasien der Auflösung und der Metamorphose wechseln einander ab. Der Wunsch, ein Stein, ein Baum, ein Fisch zu werden, entspringt dem Verlangen nach vollendeter Schöpfung. Als nämlich, so heißt es, "das Einstmalige entstand", gab es nur Menschen. Um der Eintönigkeit auf Erden abzuhelfen, verwandelten die Götter "einige Menschen in Pflanzen, andere in Tiere und noch andere in Steine". Die verbliebenen Menschen haben offenbar nicht alle ihre endgültige Daseinsform erreicht.
Mia Couto will seinen durchweg fesselnden, einfallsreichen, vielschichtigen Roman allegorisch verstanden wissen. Ein vorangestelltes Zitat nennt Moçambique "diese große Terrasse am Indischen Ozean". Die Auseinandersetzung im Schatten des Frangipanibaumes weist auf einen gesellschaftlich bedeutsamen Konflikt: Ob Moçambique einen faulen Frieden mit seiner erst kolonialen, dann kommunistischen Vergangenheit schließt oder deren Wunden anerkennt, entscheidet sich am Umgang mit den Traditionen. Auch außerhalb Afrikas kann man nachempfinden, wie sehr die Haltung zur Geschichte eine Gemeinschaft zu spalten vermag. Marta Gimo umsorgt die Alten auf der Terrasse von São Nicolau, weil sie dort "eine andere Ordnung" verwirklicht sieht. Die Vergangenheit ist Utopie geworden.
ALEXANDER KISSLER
Mia Couto: "Unter dem Frangipanibaum". Roman. Aus dem moçambiquanischen Portugiesisch übersetzt von Karin von Schweder-Schreiner. Alexander Fest Verlag, Berlin 2000. 160 S., geb., 32,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ein erfreuliches Erbe der europäischen Kolonialgeschichte sei die Anzahl afrikanischer Schriftsteller weißer Hautfarbe wie Brink, Coetzee, Gordimer oder - etwas unbekannter - Mia Couto, die der Geschichte ihres Landes auf die Spur zu kommen suchen, meint Peter Kultzen in seiner Besprechung des Romans von Couto. Der Mozambikaner Couto, Jahrgang 1955, ist einer der wenigen Weißen, die während des Bürgerkriegs im Land geblieben sind. Sein Roman über einen "xipoco", eine untote Seele, die sich, um nicht postum zu einem Nationalhelden erklärt zu werden, in einem Kriminalkommissar reinkarniert, wirkt auf den Rezensenten sowohl hochpoetisch wie völlig ironisch. Das Besondere, hebt Kultzen hervor, sei jedoch die "kunstvolle Amalgamierung veschiedener Sprachen" und Kulturen, die man im Deutschen ansonsten vermisse. Die hervorragende Übersetzung von Karin von Schweder-Schreiner sei deshalb für das Deutsche geradezu "eine kleine Verjüngungskur".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Mia Coutos vielschichtige Erzählung besticht durch seine fantasievolle Sprache voller ungewöhnlicher Wortschöpfungen und lyrischer Sprachbilder. Es bringt dem Leser ein modernes Mosambik nahe, bei dem die Gespenster der Vergangenheit zum Greifen nah erscheinen. Eine Leseüberraschung für alle, die Afrika lieben.« Regina Kiepe Welternährung (Welthungerhilfe)