Seit dem Unfalltod seiner Eltern wohnt Jan allein auf dem Hof am Rande der Nordsee, das Leben geht seinen Gang, aber die Einsamkeit nagt an ihm. Ein bisschen Gesellschaft wäre schön, eine Frau, Gespräche, Sex, vielleicht sogar eine eigene Familie? Jan gibt eine Anzeige auf und erhält Antwort von Wil. Wil jedoch, so stellt sich heraus, verfolgt einen ganz eigenen Plan - sie sucht keine Liebe, sondern Ruhe vom Stadtleben und von den Enttäuschungen der Vergangenheit. Ihre einzige Bedingung lautet: Von dem Haus, in dem sie künftig leben wird, muss sie das Meer sehen können. Literarisch, atmosphärisch und mit einem feinen Gespür für das Skurrile beschreibt Mathijs Deen den Prozess einer ungewöhnlichen Paarwerdung. Zwei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, versuchen zusammenzufinden. Kann das gut gehen?
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.08.2019„Bauernsohn sucht Frau. Wohnt allein. 80 ha.“
Landleben II: Weit im Norden gibt ein Mann eine Anzeige auf. Er bekommt vier Zuschriften. Alle von derselben Frau. Was da passiert ist, erzählt Mathijs Deen
Einige Fernsehformate, die international Furore machten, wurden in den Niederlanden erfunden. Nicht jedoch, wie man meinen könnte, die weltweit ausgestrahlte Kuppelshow „Bauer sucht Frau“: Sie geht, abgesehen von einem bescheidenen Vorläufer in der Schweiz, auf ein britisches Modell zurück. Aber auch das gab es noch nicht, als der niederländische Radiojournalist und Schriftsteller Mathijs Deen im Jahr 1997, damals unter anderem Titel, seinen Roman „Unter den Menschen“ veröffentlichte, der aus heutiger Sicht das populäre Szenario – einsamer Landwirt testet einsame Städterin auf ihre Stalleignung – vorwegzunehmen scheint.
Vor drei Jahren wurde das Buch in einer überarbeiteten Version als Wiederentdeckung gefeiert, jetzt liegt es in (sehr feiner) deutscher Übersetzung vor. Und natürlich werden erst einmal Erinnerungen an die bizarren Peinlichkeiten der ruralen Doku-Soap wach, wenn man auf dem Umschlag liest: „Bauernsohn sucht Frau. Wohnt allein. 80 ha.“
Der Mann, der am Romananfang diese Kontaktanzeige aufgibt, wäre im Alliterations-Jargon der Heiratsshow entweder ein „knorriger Kartoffelbauer“ oder ein „raubeiniger Rübenbauer“, denn beides wächst auf seinem Acker.
Jan heißt er, und er lebt „irgendwo weit im Norden“ am Seedeich, auf seinem geerbten Hof, der „wie ein wartendes Arbeitspferd sein Hinterteil dem Meer zuwendet“. Der Abstand zum nächsten Haus beträgt fünf Kilometer. Der Postbote fährt, um Zeit zu sparen, nur bis zu Jans Briefkasten an der Gemeindestraße, einen Kilometer Fußweg entfernt. Jeden Tag bringt er die Zeitung von gestern. Es ist Winter, und es ist einen Monat her, seit Jan zuletzt mit jemandem gesprochen hat – mit dem Fahrer, der die Rüben abholte. Bis zur nächsten Aussaat hat er nichts zu tun, alle saisonalen Arbeiten auf dem Hof sind erledigt.
Beim Aufwärmen einer Suppe spürt er plötzlich „eine Sinnlosigkeit, mit der er schlecht umgehen kann“. Und so gibt er die besagte Anzeige auf, denn das Internet-Dating ist zum Zeitpunkt der Handlung noch nicht erfunden.
Schon die ersten Absätze des Romans, in denen Mathijs Deen mit umwerfender Lakonie und atmosphärischer Dichte jene ländliche Lebenswelt skizziert, lassen alle Klischees in weite Ferne rücken. Dabei mangelt es hier keineswegs an Skurrilitäten. Die erwähnte Suppe ist Teil einer „totalitären Menge“ vorgekochter und tiefgefrorener Mahlzeiten, die Jans Mutter dem Sohn hinterlassen hat, als die Eltern ihm den Hof übergaben. Der Inhalt der beiden Gefriertruhen reicht für ein bis anderthalb Jahre. Der Vater hat ihm ein Mikrowellengerät dazu geschenkt, bevor die Eheleute zur ersten und letzten Urlaubsreise ihres Lebens aufbrachen. Nach Österreich, wo sie mit dem Auto in einen See fuhren und ertranken. (Merkwürdig: Diese Variante des Elterntods findet sich auch in einem –aktuellen österreichischen Debütroman von Barbara Zeman.) Nun ist Jan Vollwaise, und genauso fühlt er sich. Als er seinen eigenen Anzeigentext in der Zeitung liest, findet er es aber doch seltsam, dass er „Bauernsohn“ geschrieben hat „und nicht einfach Mann oder Bauer oder Landwirt“.
Er bekommt vier Zuschriften. Ohne zu wissen, dass sie alle von einer einzigen Frau stammen, die sich hinter verschiedenen Namen, Telefonnummern und Schreibstilen verbirgt. Jan antwortet auf den kürzesten Brief, in dem die kryptische Botschaft steht: „Ich weiß, wie das ist.“ So gerät er an Wil, deren Name auf Niederländisch „Wille“ bedeutet. In Wirklichkeit heißt sie nicht so, sondern Irene, nach der griechischen Friedensgöttin. Aber mit ihrer Friedfertigkeit hat sie schlechte Erfahrungen gemacht, sie wurde von anderen ausgenutzt. Ein Therapeut hat ihr geholfen, und nun ist sie entschlossen, ihren Willen durchzusetzen: Sie will am Meer wohnen, das sie mit Freiheit und Ruhe verbindet, und sie will die Kontrolle behalten. Da sie in der Anzeigenabteilung der Zeitung arbeitet, konnte sie schon mal heimlich nach Nordgroningen fahren, um sich den Hof anzuschauen. „Das ist es“, war ihr Gedanke. Dann ließ sie die anderen Zuschriften auf Jans Inserat verschwinden und verfolgte ihren Plan.
Was Jan will, ist viel weniger klar. Sex, auf jeden Fall, Gespräche und etwas Zuwendung. Nicht mehr einsam sein. Aber er möchte auch, dass im Prinzip alles beim Alten bleibt. Er ist ein langsamer Landmensch, und er hat sich noch nie Gedanken darüber gemacht, ob man von seinem Hof aus das Meer sehen kann. Während Wil einen Neuanfang sucht, strebt er nach Beständigkeit und Kontinuität. Doch Wil ist, wie sich herausstellt, so unberechenbar wie die Winterstürme.
Es ist schlicht hinreißend, wie Mathijs Deen diese beiden Figuren mit ihren Hemmungen und Verletzungen, ihren Kommunikationsstörungen und ihren gegensätzlichen Erwartungen in der kargen, kalten Landschaft zusammenrasseln lässt. Wie er als diskreter, liebevoll amüsierter Beobachter ihre Annäherungs- und Abstoßungsversuche schildert und nur dort, wo es unbedingt notwendig ist, die inneren Vorgänge erhellt, die zu den jeweiligen Aktionen und Reaktionen führen – zu Szenen, die abwechselnd hochkomisch und tieftraurig sind und immer mit diesem gewissen Etwas an holländischem Pragmatismus unterlegt.
Das Kammerspiel wird kurz aufgebrochen durch eine anrührende Episode mit Wils dementer Mutter in Amsterdam. Und schon bald erkennt man, dass dieser wunderbare kleine Roman weder im Niemandsland hinter dem Nordseedeich spielt noch im Notstandsgebiet der Partnersuche, sondern mitten „Unter den Menschen“, im Zentrum unserer existenziellen Widersprüche, Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen. Eine Verfilmung ist vorgesehen, aber sie kann nur schwächer sein als das Buch. So ist das bei richtig guter Literatur.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Die Eltern haben dem Sohn
vorgekochte Mahlzeiten für ein
bis anderthalb Jahre hinterlassen
Dieser wunderbare kleine
Roman spielt im Zentrum
unserer Ängste und Wünsche
Mathijs Deen: Unter den Menschen. Roman.
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Mare Verlag, Hamburg 2019.
192 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Landleben II: Weit im Norden gibt ein Mann eine Anzeige auf. Er bekommt vier Zuschriften. Alle von derselben Frau. Was da passiert ist, erzählt Mathijs Deen
Einige Fernsehformate, die international Furore machten, wurden in den Niederlanden erfunden. Nicht jedoch, wie man meinen könnte, die weltweit ausgestrahlte Kuppelshow „Bauer sucht Frau“: Sie geht, abgesehen von einem bescheidenen Vorläufer in der Schweiz, auf ein britisches Modell zurück. Aber auch das gab es noch nicht, als der niederländische Radiojournalist und Schriftsteller Mathijs Deen im Jahr 1997, damals unter anderem Titel, seinen Roman „Unter den Menschen“ veröffentlichte, der aus heutiger Sicht das populäre Szenario – einsamer Landwirt testet einsame Städterin auf ihre Stalleignung – vorwegzunehmen scheint.
Vor drei Jahren wurde das Buch in einer überarbeiteten Version als Wiederentdeckung gefeiert, jetzt liegt es in (sehr feiner) deutscher Übersetzung vor. Und natürlich werden erst einmal Erinnerungen an die bizarren Peinlichkeiten der ruralen Doku-Soap wach, wenn man auf dem Umschlag liest: „Bauernsohn sucht Frau. Wohnt allein. 80 ha.“
Der Mann, der am Romananfang diese Kontaktanzeige aufgibt, wäre im Alliterations-Jargon der Heiratsshow entweder ein „knorriger Kartoffelbauer“ oder ein „raubeiniger Rübenbauer“, denn beides wächst auf seinem Acker.
Jan heißt er, und er lebt „irgendwo weit im Norden“ am Seedeich, auf seinem geerbten Hof, der „wie ein wartendes Arbeitspferd sein Hinterteil dem Meer zuwendet“. Der Abstand zum nächsten Haus beträgt fünf Kilometer. Der Postbote fährt, um Zeit zu sparen, nur bis zu Jans Briefkasten an der Gemeindestraße, einen Kilometer Fußweg entfernt. Jeden Tag bringt er die Zeitung von gestern. Es ist Winter, und es ist einen Monat her, seit Jan zuletzt mit jemandem gesprochen hat – mit dem Fahrer, der die Rüben abholte. Bis zur nächsten Aussaat hat er nichts zu tun, alle saisonalen Arbeiten auf dem Hof sind erledigt.
Beim Aufwärmen einer Suppe spürt er plötzlich „eine Sinnlosigkeit, mit der er schlecht umgehen kann“. Und so gibt er die besagte Anzeige auf, denn das Internet-Dating ist zum Zeitpunkt der Handlung noch nicht erfunden.
Schon die ersten Absätze des Romans, in denen Mathijs Deen mit umwerfender Lakonie und atmosphärischer Dichte jene ländliche Lebenswelt skizziert, lassen alle Klischees in weite Ferne rücken. Dabei mangelt es hier keineswegs an Skurrilitäten. Die erwähnte Suppe ist Teil einer „totalitären Menge“ vorgekochter und tiefgefrorener Mahlzeiten, die Jans Mutter dem Sohn hinterlassen hat, als die Eltern ihm den Hof übergaben. Der Inhalt der beiden Gefriertruhen reicht für ein bis anderthalb Jahre. Der Vater hat ihm ein Mikrowellengerät dazu geschenkt, bevor die Eheleute zur ersten und letzten Urlaubsreise ihres Lebens aufbrachen. Nach Österreich, wo sie mit dem Auto in einen See fuhren und ertranken. (Merkwürdig: Diese Variante des Elterntods findet sich auch in einem –aktuellen österreichischen Debütroman von Barbara Zeman.) Nun ist Jan Vollwaise, und genauso fühlt er sich. Als er seinen eigenen Anzeigentext in der Zeitung liest, findet er es aber doch seltsam, dass er „Bauernsohn“ geschrieben hat „und nicht einfach Mann oder Bauer oder Landwirt“.
Er bekommt vier Zuschriften. Ohne zu wissen, dass sie alle von einer einzigen Frau stammen, die sich hinter verschiedenen Namen, Telefonnummern und Schreibstilen verbirgt. Jan antwortet auf den kürzesten Brief, in dem die kryptische Botschaft steht: „Ich weiß, wie das ist.“ So gerät er an Wil, deren Name auf Niederländisch „Wille“ bedeutet. In Wirklichkeit heißt sie nicht so, sondern Irene, nach der griechischen Friedensgöttin. Aber mit ihrer Friedfertigkeit hat sie schlechte Erfahrungen gemacht, sie wurde von anderen ausgenutzt. Ein Therapeut hat ihr geholfen, und nun ist sie entschlossen, ihren Willen durchzusetzen: Sie will am Meer wohnen, das sie mit Freiheit und Ruhe verbindet, und sie will die Kontrolle behalten. Da sie in der Anzeigenabteilung der Zeitung arbeitet, konnte sie schon mal heimlich nach Nordgroningen fahren, um sich den Hof anzuschauen. „Das ist es“, war ihr Gedanke. Dann ließ sie die anderen Zuschriften auf Jans Inserat verschwinden und verfolgte ihren Plan.
Was Jan will, ist viel weniger klar. Sex, auf jeden Fall, Gespräche und etwas Zuwendung. Nicht mehr einsam sein. Aber er möchte auch, dass im Prinzip alles beim Alten bleibt. Er ist ein langsamer Landmensch, und er hat sich noch nie Gedanken darüber gemacht, ob man von seinem Hof aus das Meer sehen kann. Während Wil einen Neuanfang sucht, strebt er nach Beständigkeit und Kontinuität. Doch Wil ist, wie sich herausstellt, so unberechenbar wie die Winterstürme.
Es ist schlicht hinreißend, wie Mathijs Deen diese beiden Figuren mit ihren Hemmungen und Verletzungen, ihren Kommunikationsstörungen und ihren gegensätzlichen Erwartungen in der kargen, kalten Landschaft zusammenrasseln lässt. Wie er als diskreter, liebevoll amüsierter Beobachter ihre Annäherungs- und Abstoßungsversuche schildert und nur dort, wo es unbedingt notwendig ist, die inneren Vorgänge erhellt, die zu den jeweiligen Aktionen und Reaktionen führen – zu Szenen, die abwechselnd hochkomisch und tieftraurig sind und immer mit diesem gewissen Etwas an holländischem Pragmatismus unterlegt.
Das Kammerspiel wird kurz aufgebrochen durch eine anrührende Episode mit Wils dementer Mutter in Amsterdam. Und schon bald erkennt man, dass dieser wunderbare kleine Roman weder im Niemandsland hinter dem Nordseedeich spielt noch im Notstandsgebiet der Partnersuche, sondern mitten „Unter den Menschen“, im Zentrum unserer existenziellen Widersprüche, Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen. Eine Verfilmung ist vorgesehen, aber sie kann nur schwächer sein als das Buch. So ist das bei richtig guter Literatur.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Die Eltern haben dem Sohn
vorgekochte Mahlzeiten für ein
bis anderthalb Jahre hinterlassen
Dieser wunderbare kleine
Roman spielt im Zentrum
unserer Ängste und Wünsche
Mathijs Deen: Unter den Menschen. Roman.
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Mare Verlag, Hamburg 2019.
192 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Wie Mathijs Deen das schreibt, zärtlich und doch distanziert, poetisch und doch sachlich, problembewusst und doch komisch - ein Leseerlebnis.« Westfälische Rundschau