Cetarti versinkt im Nichts. Ohne Arbeit und Plan verbringt er seine Tage kiffend vor dem Fernseher und schaut mit Vorliebe Tierfilme über kannibalische Riesenkraken und militärhistorische Dokumentationen im Discovery Channel. Der Anruf eines Unbekannten reißt ihn jäh aus seiner Lethargie. Seine Mutter und sein Bruder seien erschossen worden, er solle sich um die Leichen kümmern. Eher unwillig und mit genügend Dope in der Tasche macht er sich in das abgelegene Provinzdorf im Chaco auf. Lapachito ist ein finsterer Ort, wo die Häuser immer tiefer im Schlamm versinken und eine grelle, furchterregende Sonne die Menschen in den Wahnsinn treibt. Für Cetarti - und den Leser - beginnt ein halluzinogener Horrortrip in eine surreale Welt, in der es von giftigen Insekten wimmelt und die Menschen sich wie Raubtiere verhalten. Entführungen, Erpressungen und Erniedrigungen sind hier so selbstverständlich wie das Basteln an Modellen von Langstreckenbombern, Fastfood und Kabelfernsehen. Carlos Busqued zeichnet in diesem erstaunlichen Debüt mit einer direkten, harten und melodiösen Sprache das Bild eines zivilisatorischen Untergangs, in dem die Grenze zwischen albtraumhafter Realität und realistischen Albträumen zunehmend verschwimmt. Ein flammend radikaler Roman, voller Verweise auf die jüngste Geschichte Argentiniens, auf Folter, Verbrechen, Schuld und Hass, auf die Tiefenwirkungen der Diktatur. Mit der sezierenden Unerbittlichkeit eines Zoologen blickt Carlos Busqued in das Antlitz des Kraken, der nicht nur Argentinien in seinen Fängen hält.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.01.2011Kunst am Abgrund
Kiffen, Tier- und Technikfilme, das ist das Leben von Cetarti. Ein Nihilist, dem es an Begabung und auch sonst allem fehlt. Nicht leicht, einem solchen Menschen irgendetwas Interessantes abzugewinnen. So fragt man sich, warum der argentinische Autor Carlos Busqued, Jahrgang 1970, sich in seinem Debütroman so einen Protagonisten angetan hat. Vielleicht hätte es etwas gebracht, ihn psychologisch auszuloten, aber auf psychologische und sonstige Analyse setzt Busqued nicht - er versucht es mit einem Mittel, das schlechte lateinamerikanische Autoren in letzter Zeit im Wortsinn ad nauseam bemühen: der drastischen Schilderung deprimierender Umstände. Pornofilme müssen darum her, dazu sterbende Tiere, von erstickenden Fischen über zertretene Kakerlaken bis zu angefahrenen Rindern. Dazu auch eine Stadt mit überforderter Kanalisation, so dass der ganze Dreck nach oben spült. Das kann man symbolisch deuten, ebenso auch die Riesenkraken aus der Tiefe. Beide legen das Wort "abgründig" nah. Dergleichen gebraucht man gern, wenn man über die Zeit der argentinischen Militärdiktatur parliert. Denn um die geht es, um Machenschaften aus einer düsteren Zeit, die sich fortsetzen bis in die Gegenwart. Man könnte also einiges hineinlesen. Man kann es aber auch lassen - und kommt damit der Wahrheit vermutlich näher. Und die lautet, dass Busqued nicht viel eingefallen ist in diesem Roman. Es gibt, das hat gerade dieses Jahr gezeigt, sehr viel bessere argentinische Autoren. Sie haben gezeigt, was Busqued noch lernen muss: dass eine düstere historische Zeit allein nicht genügt, um gute Literatur entstehen zu lassen. Man muss auch noch Kunst hinzufügen. Die aber sucht man in diesem Roman vergebens. (Carlos Busqued: "Unter dieser furchterregenden Sonne". Aus dem Argentinischen von Dagmar Ploetz. Antje Kunstmann Verlag, München 2010. 190 S,. geb., 17,90 [Euro].) nipp
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kiffen, Tier- und Technikfilme, das ist das Leben von Cetarti. Ein Nihilist, dem es an Begabung und auch sonst allem fehlt. Nicht leicht, einem solchen Menschen irgendetwas Interessantes abzugewinnen. So fragt man sich, warum der argentinische Autor Carlos Busqued, Jahrgang 1970, sich in seinem Debütroman so einen Protagonisten angetan hat. Vielleicht hätte es etwas gebracht, ihn psychologisch auszuloten, aber auf psychologische und sonstige Analyse setzt Busqued nicht - er versucht es mit einem Mittel, das schlechte lateinamerikanische Autoren in letzter Zeit im Wortsinn ad nauseam bemühen: der drastischen Schilderung deprimierender Umstände. Pornofilme müssen darum her, dazu sterbende Tiere, von erstickenden Fischen über zertretene Kakerlaken bis zu angefahrenen Rindern. Dazu auch eine Stadt mit überforderter Kanalisation, so dass der ganze Dreck nach oben spült. Das kann man symbolisch deuten, ebenso auch die Riesenkraken aus der Tiefe. Beide legen das Wort "abgründig" nah. Dergleichen gebraucht man gern, wenn man über die Zeit der argentinischen Militärdiktatur parliert. Denn um die geht es, um Machenschaften aus einer düsteren Zeit, die sich fortsetzen bis in die Gegenwart. Man könnte also einiges hineinlesen. Man kann es aber auch lassen - und kommt damit der Wahrheit vermutlich näher. Und die lautet, dass Busqued nicht viel eingefallen ist in diesem Roman. Es gibt, das hat gerade dieses Jahr gezeigt, sehr viel bessere argentinische Autoren. Sie haben gezeigt, was Busqued noch lernen muss: dass eine düstere historische Zeit allein nicht genügt, um gute Literatur entstehen zu lassen. Man muss auch noch Kunst hinzufügen. Die aber sucht man in diesem Roman vergebens. (Carlos Busqued: "Unter dieser furchterregenden Sonne". Aus dem Argentinischen von Dagmar Ploetz. Antje Kunstmann Verlag, München 2010. 190 S,. geb., 17,90 [Euro].) nipp
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Fasziniert zeigt sich Andreas Fanizadeh von diesem so "unglaublich spannenden" wie düsteren Roman des Argentiniers Carlos Busqued, den er als sensibel und mehrdeutigen Autor schätzt. Busqueds erzählt darin aus der Parallelwelt lohnarbeitsferner Existenzen, sein lakonisch-subtiler Stil mische argentinische Erzähltradition und popkulturelle Ästhetik, schreibt der Kritiker und fühlt sich gelegentlich an die surrealen Einsprengsel in Filmen der Coen-Brothers oder Quentin Tarantinos erinnert. Es geht in diesem Thriller um das lethargische und ereignislose Außenseiterleben eines Vorstadtbewohners, lesen wir, der eines Tages durch den gewaltsamen Tod seines Onkels aufgescheucht wird. So kommt der Plot in Gang, der sich, wie uns der Kritiker versichert, mit grotesker Beiläufigkeit bald in gewaltsame Regionen aufschwingt, eine Welt aus Drogen, Hardcore-Pornos und Todeskämpfen. Insgesamt sei dieser Roman ein komplexer, kultureller Hybrid, und mithin eine Antithese zu allen Sarrazins und anderen Vereinfachern dieser Welt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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