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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.02.2010

Biskuit sollst du dem Kannibalen bringen

Verlässliche Tropen: Die Philosophin Karen Gloy reist in die Wälder von Westpapua und stößt dort auf Wilde, die nicht nur ihre Erwartungen erfüllen, sondern auch recht anstellig sind.

Tief in den Urwald zu einer Gruppe von Menschen zu reisen, die noch nie Kontakt mit Weißen hatten, ist nicht nur ein Abenteuer, sondern auch mit großen körperlichen Anstrengungen verbunden. Die emeritierte Philosophieprofessorin Karen Gloy, ausgewiesene Kant- und Hegelkennerin, hat diese Mühen auf sich genommen und in Westpapua (Irian Jaya), dem indonesischen Teil der Insel Neuguinea, die in Baumhäusern wohnenden Kombai besucht. Auch heute noch gebe es bei ihnen Kannibalismus, heißt es gelegentlich - wobei unsicher ist, ob sie überhaupt jemals dem Kannibalismus gefrönt haben.

Die Philosophin, die nicht das erste Mal auf Neuguinea weilte - sie hatte auch schon Papua-Neuguinea und in Westpapua das andere Baumhausvolk, die Korowai, kennengelernt -, spürt vor allem das Bedürfnis nach philosophischer Reflexion auf die Grundlagen unserer Kultur, also unserer Art zu denken, zu handeln und zu leben. Einen unvoreingenommenen Blick auf die eigenen Bedingungen erlaube aber nur ein Schritt zurück, der Besuch "möglichst unberührter und unverdorbener Naturethnien oder wenig akkulturierter Völker" liegt daher nahe.

Wie sich Gloy den Kombai genähert hat, schildert sie in ihrem neuen Buch, in dessen allgemeiner gehaltenem Teil sie die Zerstörung fremder Kulturen nicht nur durch Missionare, sondern auch durch den Ökotourismus und die Wissenschaft beklagt. Zuerst komme die Aspirin-Tablette, danach die Eisenaxt, und der neu gewonnene materielle Reichtum habe oft eine seelische Verarmung zur Folge. Von der Philosophin, die diese Entwicklung klar benennt, erwartet man folglich ein besser durchdachtes Handeln, und mit Interesse schaut ihr jetzt der Leser bei der Vorbereitung des Besuchs über die Schulter.

In Jayapura, der Hauptstadt Westpapuas, wo es angeblich kein nach westlichen Maßstäben ordentliches Hotel gibt - "Wasser zum Spülen der Toilette steht in einem Eimer, Kakerlaken sind inklusive. Daran muss man sich in den Tropen gewöhnen" -, kauft einer der beiden einheimischen Expeditionsführer "Kästen mit Tabak und Zigaretten in Hülle und Fülle" ein, "da die Eingeborenen ganz versessen auf Tabak sind und sich in heiklen Situationen oder bei Feindseligkeit am ehesten durch Tabakgeschenke beruhigen lassen". Aber Gloy weiß es besser, wie man sich Eingeborenen gegenüber verhalten soll. Sie gibt zu verstehen - vermutlich ohne auf Zustimmung zu stoßen -, dass sie "die Verteilung von Tabak aufgrund seiner gesundheitsschädigenden Wirkung nicht so sinnvoll fände und daher die Mitnahme von Biskuits eher empfehlen würde".

Der Empfang bei den Kombai, so wie Gloy ihn dann darstellt, ist eines Abenteuerromans würdig. Die Männer dieser Baummenschen stürmen mit beängstigendem Kriegsgeschrei heran und richten ihre spitzen Pfeile und Speere auf die Besucher. Einer der Führer ruft: "Ladies, lay down, lay down, put off your cameras", die Besucher werfen sich in den Schlamm, und dann zischen die Pfeile vorbei. Beim Anblick des Tabaks, so schreibt Gloy an anderer Stelle, hätten sich die Einheimischen sofort beruhigt.

Das Zusammentreffen zwischen der Philosophin und den Bewohnern Westpapuas ist nicht ohne einen besonderen Charme. Gloy bemerkt "taktvoll", dass die kleinen und schlanken Eingeborenen sich auch deshalb besser durch den Urwald bewegen können, weil bei ihnen der große Zeh und die übrigen Zehen breit auseinander stehen, so dass sie damit Baumstämme besser umklammern können, "zwar nicht ganz so wie bei äffischen Hominiden, aber in einer Zwischenform".

Jeden Abend lässt Gloy bei den Kombai, wie sie schreibt, einen Eingeborenen - möglichst den Clanchef - zur Beantwortung von Fragen an das Lagerfeuer bitten, sie zitiert die Einheimischen gleichsam heran. In anderen Expeditionsberichten wären an dieser Stelle wahrscheinlich wieder Pfeile geflogen. Doch im Buch der Philosophin ist bei den "unberührten" Kombai von Kontaktscheu keine Spur. Häuptling Batote berichtet von Sitten, die es schon gegeben habe, "als die Missionare und Holländer ins Land kamen". Zum Thema "Kannibalismus heute" weiß er zu berichten, Zauberer verspeisten "ihr Opfer heimlich. Aber wenn ich mich verstecke, wird nichts passieren." Aha! Zweifel an der Glaubwürdigkeit kommen der Autorin nicht.

Beim Thema Zauberer wird der Leser aus der Trance befreit, in die ihn der in seiner unwirklichen Art ungewöhnliche und dadurch interessante Expeditionsbericht, der allerdings viele Fragen aufwirft, versetzt hat. Nun wird es tatsächlich philosophisch, auch wenn Gloy das gesicherte Gebiet von Kant und Hegel umgeht. Die Autorin vergleicht Doppelblind-Studien mit Voodoo und selbsterfüllenden Prophezeiungen und spekuliert, "es könnte sich herausstellen, dass das Burn-out-Syndrom die moderne Fortsetzung der archaischen Verhexung und Zauberei ist".

GÜNTER PAUL

Karen Gloy: "Unter Kannibalen". Eine Philosophin im Urwald von Westpapua". Primus Verlag, Darmstadt 2010. 128 S., geb., Abb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Mit gemischten Gefühlen hat Rezensent Günter Paul diesen Expeditionsbericht der Philosophin Karen Gloy gelesen. Die renommierte Kant- und Hegelexpertin schildert nach seiner Auskunft ihre Annäherung an das Naturvolk der Kombai, die in den Wäldern von Westpapua leben, kritisiert die Zerstörung fremder Kulturen und reflektiert die Grundlagen von Kultur. Der Bericht Gloys über den Empfang bei den Kombai ist für ihn eines "Abenteurromans würdig" und ihre Schilderung des Zusammentreffens mit den Eingeborenen am Lagerfeuer hat in seinen Augen durchaus Charme. Allerdings verhehlt er auch nicht, dass die Autorin vor allem "Wilde" trifft, "die nicht nur ihre Erwartungen erfüllen, sondern auch recht anstellig sind". Paul schätzt den Expiditionsbericht als "ungewöhnlich" und "interessant". Zugleich bescheinigt er ihm aber eine "unwirkliche Art" und hält fest, dass er "viele Fragen aufwirft".

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