Im sibirischen Omsk klagt die Künstlerin Oksana dem Dostojewski-Denkmal ihr Leid, bis es antwortet. Der Schriftsteller Gregor begeht bei einer Preisverleihung im Münchner Literaturhaus Mikrofonraub, um seine Gedichte vorzutragen. Beim Besuch eines Berliner Casinos verfällt der Komponist Sirius der Automatenmusik. Und alle stehen auf einer Dachterrasse in Granada, denn nicht viel lässt sich gedankenlos so lange anstarren wie die Alhambra.Ralph Hammerthalers Komplizen sind auf der ständigen Suche nach der künstlerischen Form, Erkenntnis, Anerkennung, Rausch und Liebe. Obsessiv überzeugt von der Notwendigkeit ihres Schaffens stehen sie am Rand der Gesellschaft und vermessen die Grenzen dieser ständig neu. Mit viel Humor und erzählerischem Geschick bringt uns Hammerthaler die Welt der Kunst nahe.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.09.2018Wie man lernt, mit Kobolden zu kämpfen
Und wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt ein Stipendium daher: Ralph Hammerthalers Künstlerroman „Unter Komplizen“
Sein letzter Roman wurde gefeiert, Benjamin Waldes kann Atem holen. Für den nächsten Roman hat sein Verlag einen Vorschuss gezahlt, einen Abgabetermin gibt es noch nicht. Endlich kann sich Ben dem Nichtstun hingeben. Und entdeckt, dass er genau dafür geschaffen ist. Nirgendwo kann man das so gut wie in Berlin, wo er lebt. Doch der Moment, in dem der Druck nachlässt und sich noch kein neuer aufgebaut hat, ist nur ein Augenblick. Irgendwann wird der Verlag nachfragen, wie er vorankommt, das Geld wird aufgebraucht sein, das Selbstbild wieder bröckeln.
„Unter Komplizen“ ist ein Künstlerroman der Gegenwart, also keiner, der die Bildungsgeschichte eines Individuums oder gar eines Genies erzählt. Stattdessen fängt er das diffuse Zusammengehörigkeitsgefühl einer losen Gruppe ein, zu der Künstler verschiedener Sparten gehören. Sie haben sich 2008 als Stipendiaten im fiktiven Ort Seestadt in der Nähe von München kennengelernt. Längst sind sie wieder in alle Winde zerstreut. doch sie skypen, mailen, simsen, manche besuchen sich. Und vielleicht gibt es auch so etwas wie den Geist der Gruppe – einen Kobold, einen Dschinn, einen Irrwisch.
Ralph Hammerthaler, 1965 in Wasserburg am Inn geboren und zwei Jahre lang Kulturredakteur der SZ, hat mit „Alles bestens“ 2002 als Romanautor debütiert. Zuletzt erschien sein „Kurzer Roman über ein Verbrechen“ (2016), in dem Jugendliche in der brandenburgischen Provinz vor und hinter der Kamera Pornos drehen.
Seinem neuen Roman hat er ein Motto von Federico García Lorca vorangestellt: „La verdadera lucha es con el duende“ („der wahre Kampf ist der mit dem Duende“). In der Form eines Kaleidoskops verschiedener Erzählperspektiven schildert er das Auf und Ab kreativer Existenzen und begibt sich auf die Suche nach einer gemeinsamen Idee. Gibt es etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnt? Was braucht man für die Kunst – Handwerk, Seele, Inspiration, Wut? Oder kommt es auf jenen Moment an, in dem das Feuer überspringt, wie es Lorca im Konzept des „duende“ (Kobold) darstellte, bei dem sich Seele und Körper, Inspiration und Aktion, Mysterium und Besessenheit mischen? Der „Kobold“ lässt sich auf alle Künste beziehen, bei Lorca besonders auf Musik, Tanz und gesprochene Poesie.
Rafael, Schauspieler und Regisseur, lebt in Mexiko-Stadt. Er trägt stets Lorcas Bändchen „Conferencias“ bei sich (dem das Motto des Romans entnommen ist) und wird von einem „Azteken“ begleitet, einem eingebildeten Doppelgänger, mit dem er sich immer wieder in Kämpfe verwickelt. Damals in Seestadt hat er mit Ben um Marie konkurriert, die den Schriftsteller vorzog. Marie ist die jüngste der drei Töchter der SPD-Stadträtin Mathilde, die mit einem Unternehmer verheiratet ist. Seit einem halben Jahr ist Marie verschwunden. Mathilde, Ende fünfzig, für die meisten Stipendiaten ein wichtiger Bezugspunkt und Inbild familiärer und bürgerschaftlicher Tüchtigkeit, gerät durch die Sorge um Marie immer tiefer in den Sog der Verzweiflung. Selbst wenn sie Gäste hat, betreut sie nebenher schon mal die beiden kleinen Söhne, die ihr Mann in Affären gezeugt hat. Nun steigt ihr Alkoholkonsum. Stürze und Absencen häufen sich.
Mathildes Verzweiflung und Maries Verschwinden bilden den emotionalen Faden, der die verschiedenen Zeit- und Realitätsebenen des Romans verbindet. Das Spektrum an Künstlerbiografien, das Hammerthaler entfaltet, ist groß und lässt die Internationalität der Kunstszene ahnen. Joachim Muhammad, der schwule Balletttänzer, dessen Vater aus Saudi-Arabien stammt, konvertiert zum Islam und träumt von einem Sufi-Ballett. Rike, in Basel geborene Fotografin, empfindet den Arbeitsvertrag, den sie eines Tages doch als technische Redakteurin eines schwäbischen Herstellers von Flugzeugsitzen unterschreibt, als Verrat an der Kunst.
Die Video-Künstlerin Oksana hatte 2006 eine große Einzelausstellung in Moskau, nun unterhält sie sich im sibirischen Omsk mit der Statue Dostojewskis – auch darüber, dass sie hinter dem Autounfall ihrer Freundin ein Attentat vermutet. Der Komponist Sirius, für dessen Oper „Nazi Comics“ Ben das Libretto geschrieben hat und der zeitweilig als Sounddesigner für Glücksspielautomaten über die Runden zu kommen versuchte, lebt inzwischen in der Psychiatrie. Sergej arbeitet seit vierzig Jahren für das „direkte und wahre Theater“, hat Felder in Niederbayern geerbt und bis auf einen Stellplatz für seinen Wohnwagen gleich wieder verkauft.
Das Kaleidoskop der Biografien entwirft eine Kunstwelt ohne Glamour, bevölkert von prekären Existenzen. Und auch die Kunstförderung fordert ihre Opfer. Zum Stipendiaten-Jahrgang 2008 gehörte Gregor Hesse, dem in den Achtzigerjahren drei schmale Gedichtbände Vergleiche mit Baudelaire, Rimbaud und Verlaine einbrachten. Er hat das Künstlerhaus seither nicht mehr verlassen, ein Juror hält schützend seine Hand über ihn. Jedes Jahr hat er Angst vor den neuen Stipendiaten, die seinen Alltag durcheinanderbringen könnten. Als er den Lorca-Leser Rafael in Mexiko besucht, wird er zu einem koboldartigen Gespenst.
Ralph Hammerthaler hat an diesem Roman unter anderem als Stadtschreiber in Dresden gearbeitet, wie seine Figur Benjamin Waldes. Es ist üblich, über Stipendiaten-Literatur zu spotten. In diesem Roman wird die Zerreißprobe zwischen scheinbar passabler Stipendiaten-Existenz, die für kurze Zeit die Geldnot lindert, und einem aufs Ganze gehenden, kompromisslosen Kunstbegriff zur Energiequelle.
Hammerthaler lässt seinen Künstlerroman in Granada mit einem hoffnungsvollen Blick auf die nächtlich beleuchtete Alhambra enden. Manche Bezüge, etwa der zu Roberto Bolaños epochalem Roman „2666“, wirken etwas weit hergeholt. Die Idee aber, den abgeklärten Kunstbegriff der Gegenwart durch Lorcas dämonischen Kobold und andere Obsessionen herauszufordern , gibt „Unter Komplizen“ einen verheißungsvollen Drive.
MEIKE FESSMANN
Ralph Hammerthaler: Unter Komplizen. Roman. Verbrecher Verlag, Berlin 2018. 496 S., 24 Euro.
Die Video-Künstlerin Oksana
unterhält sich in Omsk in Sibirien
mit einer Statue Dostojewskis
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Und wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt ein Stipendium daher: Ralph Hammerthalers Künstlerroman „Unter Komplizen“
Sein letzter Roman wurde gefeiert, Benjamin Waldes kann Atem holen. Für den nächsten Roman hat sein Verlag einen Vorschuss gezahlt, einen Abgabetermin gibt es noch nicht. Endlich kann sich Ben dem Nichtstun hingeben. Und entdeckt, dass er genau dafür geschaffen ist. Nirgendwo kann man das so gut wie in Berlin, wo er lebt. Doch der Moment, in dem der Druck nachlässt und sich noch kein neuer aufgebaut hat, ist nur ein Augenblick. Irgendwann wird der Verlag nachfragen, wie er vorankommt, das Geld wird aufgebraucht sein, das Selbstbild wieder bröckeln.
„Unter Komplizen“ ist ein Künstlerroman der Gegenwart, also keiner, der die Bildungsgeschichte eines Individuums oder gar eines Genies erzählt. Stattdessen fängt er das diffuse Zusammengehörigkeitsgefühl einer losen Gruppe ein, zu der Künstler verschiedener Sparten gehören. Sie haben sich 2008 als Stipendiaten im fiktiven Ort Seestadt in der Nähe von München kennengelernt. Längst sind sie wieder in alle Winde zerstreut. doch sie skypen, mailen, simsen, manche besuchen sich. Und vielleicht gibt es auch so etwas wie den Geist der Gruppe – einen Kobold, einen Dschinn, einen Irrwisch.
Ralph Hammerthaler, 1965 in Wasserburg am Inn geboren und zwei Jahre lang Kulturredakteur der SZ, hat mit „Alles bestens“ 2002 als Romanautor debütiert. Zuletzt erschien sein „Kurzer Roman über ein Verbrechen“ (2016), in dem Jugendliche in der brandenburgischen Provinz vor und hinter der Kamera Pornos drehen.
Seinem neuen Roman hat er ein Motto von Federico García Lorca vorangestellt: „La verdadera lucha es con el duende“ („der wahre Kampf ist der mit dem Duende“). In der Form eines Kaleidoskops verschiedener Erzählperspektiven schildert er das Auf und Ab kreativer Existenzen und begibt sich auf die Suche nach einer gemeinsamen Idee. Gibt es etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnt? Was braucht man für die Kunst – Handwerk, Seele, Inspiration, Wut? Oder kommt es auf jenen Moment an, in dem das Feuer überspringt, wie es Lorca im Konzept des „duende“ (Kobold) darstellte, bei dem sich Seele und Körper, Inspiration und Aktion, Mysterium und Besessenheit mischen? Der „Kobold“ lässt sich auf alle Künste beziehen, bei Lorca besonders auf Musik, Tanz und gesprochene Poesie.
Rafael, Schauspieler und Regisseur, lebt in Mexiko-Stadt. Er trägt stets Lorcas Bändchen „Conferencias“ bei sich (dem das Motto des Romans entnommen ist) und wird von einem „Azteken“ begleitet, einem eingebildeten Doppelgänger, mit dem er sich immer wieder in Kämpfe verwickelt. Damals in Seestadt hat er mit Ben um Marie konkurriert, die den Schriftsteller vorzog. Marie ist die jüngste der drei Töchter der SPD-Stadträtin Mathilde, die mit einem Unternehmer verheiratet ist. Seit einem halben Jahr ist Marie verschwunden. Mathilde, Ende fünfzig, für die meisten Stipendiaten ein wichtiger Bezugspunkt und Inbild familiärer und bürgerschaftlicher Tüchtigkeit, gerät durch die Sorge um Marie immer tiefer in den Sog der Verzweiflung. Selbst wenn sie Gäste hat, betreut sie nebenher schon mal die beiden kleinen Söhne, die ihr Mann in Affären gezeugt hat. Nun steigt ihr Alkoholkonsum. Stürze und Absencen häufen sich.
Mathildes Verzweiflung und Maries Verschwinden bilden den emotionalen Faden, der die verschiedenen Zeit- und Realitätsebenen des Romans verbindet. Das Spektrum an Künstlerbiografien, das Hammerthaler entfaltet, ist groß und lässt die Internationalität der Kunstszene ahnen. Joachim Muhammad, der schwule Balletttänzer, dessen Vater aus Saudi-Arabien stammt, konvertiert zum Islam und träumt von einem Sufi-Ballett. Rike, in Basel geborene Fotografin, empfindet den Arbeitsvertrag, den sie eines Tages doch als technische Redakteurin eines schwäbischen Herstellers von Flugzeugsitzen unterschreibt, als Verrat an der Kunst.
Die Video-Künstlerin Oksana hatte 2006 eine große Einzelausstellung in Moskau, nun unterhält sie sich im sibirischen Omsk mit der Statue Dostojewskis – auch darüber, dass sie hinter dem Autounfall ihrer Freundin ein Attentat vermutet. Der Komponist Sirius, für dessen Oper „Nazi Comics“ Ben das Libretto geschrieben hat und der zeitweilig als Sounddesigner für Glücksspielautomaten über die Runden zu kommen versuchte, lebt inzwischen in der Psychiatrie. Sergej arbeitet seit vierzig Jahren für das „direkte und wahre Theater“, hat Felder in Niederbayern geerbt und bis auf einen Stellplatz für seinen Wohnwagen gleich wieder verkauft.
Das Kaleidoskop der Biografien entwirft eine Kunstwelt ohne Glamour, bevölkert von prekären Existenzen. Und auch die Kunstförderung fordert ihre Opfer. Zum Stipendiaten-Jahrgang 2008 gehörte Gregor Hesse, dem in den Achtzigerjahren drei schmale Gedichtbände Vergleiche mit Baudelaire, Rimbaud und Verlaine einbrachten. Er hat das Künstlerhaus seither nicht mehr verlassen, ein Juror hält schützend seine Hand über ihn. Jedes Jahr hat er Angst vor den neuen Stipendiaten, die seinen Alltag durcheinanderbringen könnten. Als er den Lorca-Leser Rafael in Mexiko besucht, wird er zu einem koboldartigen Gespenst.
Ralph Hammerthaler hat an diesem Roman unter anderem als Stadtschreiber in Dresden gearbeitet, wie seine Figur Benjamin Waldes. Es ist üblich, über Stipendiaten-Literatur zu spotten. In diesem Roman wird die Zerreißprobe zwischen scheinbar passabler Stipendiaten-Existenz, die für kurze Zeit die Geldnot lindert, und einem aufs Ganze gehenden, kompromisslosen Kunstbegriff zur Energiequelle.
Hammerthaler lässt seinen Künstlerroman in Granada mit einem hoffnungsvollen Blick auf die nächtlich beleuchtete Alhambra enden. Manche Bezüge, etwa der zu Roberto Bolaños epochalem Roman „2666“, wirken etwas weit hergeholt. Die Idee aber, den abgeklärten Kunstbegriff der Gegenwart durch Lorcas dämonischen Kobold und andere Obsessionen herauszufordern , gibt „Unter Komplizen“ einen verheißungsvollen Drive.
MEIKE FESSMANN
Ralph Hammerthaler: Unter Komplizen. Roman. Verbrecher Verlag, Berlin 2018. 496 S., 24 Euro.
Die Video-Künstlerin Oksana
unterhält sich in Omsk in Sibirien
mit einer Statue Dostojewskis
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