»Dieses klare und schöne Buch zeigt: Ohne das Verrücktsein wäre unsere Welt ein schlechterer Ort.« Julia von Heinz
An einer Umbruchstelle im Leben wird Lea De Gregorio verrückt. Zu viele Gedanken drehen frei in ihrem Kopf, zu viele Fragen rasen ihr durchs Herz, der Schlaf bleibt aus. Und es folgt, was hierzulande nun mal vorgesehen ist: die Behandlung in der Psychiatrie. Doch geht der Heilung die Entmündigung voraus. Hier bestimmen, entscheiden, sprechen andere für sie. Muss sie sich dieser althergebrachten Ordnung tatsächlich fügen, damit alles besser wird? Oder sie erst recht in Frage stellen? Eine Suche nach grundlegenden Antworten beginnt, sie führt sie an tabuisierte Orte der Geschichte, in unsere Sprache, die Philosophie und schließlich in den Kampf. Gegen Ausgrenzung und Diskriminierung von Verrückten, einer viel zu lange übersehenen Minderheit.
Lea De Gregorio entlarvt die tradierten Ungerechtigkeiten in unserem Denken, Fühlen, Handeln. Unter Verrückten sagt man du leistet dringend notwendige Psychiatrie- und Gesellschaftskritik. In einer Sprache, die so klar und so klug und so zärtlich ist, dass sie den Blick auf unser Zusammenleben substanziell zu verändern vermag.
An einer Umbruchstelle im Leben wird Lea De Gregorio verrückt. Zu viele Gedanken drehen frei in ihrem Kopf, zu viele Fragen rasen ihr durchs Herz, der Schlaf bleibt aus. Und es folgt, was hierzulande nun mal vorgesehen ist: die Behandlung in der Psychiatrie. Doch geht der Heilung die Entmündigung voraus. Hier bestimmen, entscheiden, sprechen andere für sie. Muss sie sich dieser althergebrachten Ordnung tatsächlich fügen, damit alles besser wird? Oder sie erst recht in Frage stellen? Eine Suche nach grundlegenden Antworten beginnt, sie führt sie an tabuisierte Orte der Geschichte, in unsere Sprache, die Philosophie und schließlich in den Kampf. Gegen Ausgrenzung und Diskriminierung von Verrückten, einer viel zu lange übersehenen Minderheit.
Lea De Gregorio entlarvt die tradierten Ungerechtigkeiten in unserem Denken, Fühlen, Handeln. Unter Verrückten sagt man du leistet dringend notwendige Psychiatrie- und Gesellschaftskritik. In einer Sprache, die so klar und so klug und so zärtlich ist, dass sie den Blick auf unser Zusammenleben substanziell zu verändern vermag.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der Arzt Philipp Sterzer möchte seinen ausführlichen Text zu Lea de Gregorios Buch "Unter Verrückten sagt man du" ausdrücklich nicht als Rezension verstanden wissen. Denn zu einem wertenden Kommentar sieht er sich nicht in der Position: De Gregorios Buch ist eine wütende, mit persönlicher Erfahrung und zahlreichen Argumenten unterfütterte Anklage gegen das psychiatrische System. Sterzer kommt von der anderen Seite. Er ist Neurowissenschaftler und Psychiater und hat ebenjene bedeutende psychiatrische Klinik geleitet, die de Gregorio exemplarisch kritisiert. Sterzer sieht sich daher in einer schwierigen Doppelposition. Tendenziell pflichtet er der Autorin, die sich gegen die Stigmatisierung von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen und gegen Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie wendet, bei. Auch ihrer Analyse historischer Verflechtungen kann er zustimmen. Dennoch steht er auf der dominierenden Seite jener Hierarchie von Patient:innen und meistens männlichen Psychiatern. Und so kann Sterzer "Unter Verrückten sagt man du" nur als wichtigen Debattenbeitrag einer möglichst breiten Öffentlichkeit zur Lektüre empfehlen, denn sie sollten sich des wichtigen Themas der Entstigmatisierung von Menschen mit Psychiatrieerfahrung und der notwendigen Verbesserung des psychiatrischen Systems nicht verschließen, so der sympathisierende Leser, wenn auch nicht Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.06.2024Im Dilemma
Von Philipp Sterzer
Lea De Gregorio hat ein wütendes Buch geschrieben ("Unter Verrückten sagt man du - Eine dringend notwendige Psychiatrie- und Gesellschaftskritik", Suhrkamp Verlag). Sie ist wütend auf eine Gesellschaft, in der psychisch Erkrankte stigmatisiert und ausgegrenzt werden, in der Menschen aufgrund einer psychiatrischen Diagnose nicht für voll genommen und in allem, was sie tun, halb mitleidig, halb misstrauisch beäugt werden. Sie ist wütend auf die Psychiatrie, weil sie Menschen mit psychischen Erkrankungen bevormundet, ihnen Diagnosen gibt, die wie ein Stempel ein Leben lang an ihnen haften bleiben, und Betroffene manchmal sogar einsperrt oder ihnen gegen ihren Willen Medikamente verabreicht. De Gregorio weiß, wovon sie spricht, denn sie ist einer von diesen Menschen.
"Unter Verrückten sagt man du". Mit dem Titel ihres Buches zitiert die Autorin eine Kämpferin für eine menschlichere Psychiatrie, Dorothea Buck, die wegen der Diagnose Schizophrenie in der NS-Zeit zwangssterilisiert wurde. De Gregorio bezieht sich mit diesem Zitat auf eine Situation, die sie aus eigenen Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken kennt: Alle Patienten duzen sich wie selbstverständlich, während man mit den Therapeutinnen ebenso selbstverständlich per Sie ist. Man kann das als Vorwurf gegenüber den Therapeuten lesen, als eine Kritik an deren Haltung. Zunächst einmal handelt es sich aber nur um eine Beobachtung. Eine Beobachtung allerdings, die ein Machtgefälle illustriert. Dieses Gefälle ist für diejenigen, die an seinem unterem Ende stehen, jederzeit und manchmal schmerzhaft spürbar. Allen anderen aber, vor allem denjenigen, die oben stehen, muss das Machtgefälle vor Augen geführt werden, und das ist es, was der Titel von De Gregorios Buch auf den Punkt bringt.
Ich selbst bin Psychiater und Neurowissenschaftler, ein sogenannter Experte, und sollte zu dem, was De Gregorio schreibt, etwas zu sagen haben. Wäre es nicht legitim, als jemand, der über langjährige berufliche Erfahrung in der Psychiatrie verfügt, zu ihren Ausführungen Stellung zu nehmen, ihrer Perspektive als Betroffene meine professionelle Perspektive gegenüberzustellen? Sollte ich nicht versuchen, ihrer wütenden Anklage wertschätzend, aber mit sachlichen Argumenten zu begegnen? De Gregorio wirft der Gesellschaft vor, dass psychisch Erkrankte aus unterschiedlichsten Gründen - weil man sie schonen möchte oder sie eben gar nicht erst für voll nimmt - eine Sonder- oder Andersbehandlung erfahren. Wäre das nicht Grund genug für mich, dem von ihr beklagten Ableismus entgegenzutreten und ihr Buch genau so zu behandeln, wie ich Bücher aller anderen Autoren behandeln würde, die sich zu einem Thema äußern, das mir am Herzen liegt, nämlich kritisch, aber mit dem gebotenen Respekt?
Die Antwort auf all diese Fragen ist ein klares und entschiedenes Nein. Die Schwierigkeiten beginnen schon damit, dass ich einer von diesen "alten weißen Männern" bin. Ich gehöre also zu der Gruppe, die in unserer Gesellschaft immer noch einen Großteil der Fäden in der Hand hält, während Lea De Gregorio eine deutlich jüngere Frau ist, die eher noch am Anfang ihrer Karriere als Journalistin steht. Wirklich brisant wird die Sache aber erst dadurch, dass ich Psychiater bin. Ich stehe am oberen Ende des von De Gregorio beschriebenen Machtgefälles und bin Teil des von ihr kritisierten Systems. Obendrein bin ich Neurowissenschaftler und beschäftige mich mit den biologischen Grundlagen psychischer Erkrankungen. Damit bin ich auch ein Vertreter der sogenannten "biologischen Psychiatrie", die De Gregorio in einer Linie mit einer Geisteshaltung sieht, die den Boden für Euthanasie, Zwangssterilisationen und andere Gräueltaten bereitet hat, die in der Zeit des Nationalsozialismus an Menschen mit psychischen Erkrankungen verübt wurden.
Was als "schizophren" gelten kann
Aber auch damit noch nicht genug: Die Klinik "mitten in Berlin", in der die Autorin vor ein paar Jahren stationär behandelt wurde, ist aufgrund der detaillierten Beschreibungen im Text unschwer als die Klinik zu identifizieren, in der ich lange in leitender Funktion tätig war. Auch wenn ich Lea De Gregorio nicht selbst kennengelernt habe, nie ihr behandelnder Arzt war und auch ihre Krankenakte nicht kenne, wäre allein diese Konstellation Grund genug, spätestens hier einen Punkt zu machen und meinen Laptop zuzuklappen. Warum tue ich es trotzdem nicht? Der Grund ist, dass ich mich in einem Dilemma sehe, einem Dilemma, dem das genannte Machtgefälle zugrunde liegt und das - wenn es sich schon nicht auflösen lässt - mir wert erscheint, doch wenigstens zur Kenntnis genommen zu werden.
Die eine Seite des Dilemmas besteht darin, dass das Thema der Stigmatisierung und Diskriminierung psychisch erkrankter Menschen auch mir unter den Nägeln brennt. Ich weiß, dass es vielen anderen Psychiaterinnen und Therapeuten genauso geht. Selbst wenn die meisten von ihnen sich nicht explizit als Psychiatriekritiker bezeichnen würden, so ist es ihnen doch ein Anliegen, die Psychiatrie zu einem besseren Ort für ihre Patienten zu machen und deren sozialer Ausgrenzung entgegenzuwirken. Wir leben in einer Gesellschaft, in der der russische Angriffskrieg auf die Ukraine als "schizophren" bezeichnet werden darf, ohne dass sich irgendjemand darüber aufregt. Das ist nur ein Beispiel, das mir vor Kurzem in einer Tageszeitung begegnet ist, aber diskriminierende Analogien dieser Art begegnen einem auf Schritt und Tritt. Wie muss es sich für Menschen anfühlen, bei denen die Diagnose Schizophrenie gestellt wurde, wenn die Brutalität eines verbrecherischen Angriffskriegs mit ihrer Diagnose in Verbindung gebracht wird? Wie muss es sich für sie anfühlen, wenn nach einem Amoklauf bekannt gegeben wird, dass der Täter wohl "psychisch krank" gewesen sei, und so getan wird, als sei damit alles erklärt? Wie muss es sich anfühlen, wenn Politiker Gesetzentwürfe vorlegen, durch die Menschen mit psychiatrischen Diagnosen kriminalisiert werden, indem ihre persönlichen Daten über Jahre gespeichert werden sollen?
Lea De Gregorio weiß, wie es sich anfühlt, sie beschreibt es und verleiht ihrer Wut darüber Ausdruck. Ich hingegen weiß es nicht, denn ich habe es nicht am eigenen Leib erfahren. Ich mag Experte für Psychiatrie sein, aber ich bin es nicht für dieses Thema. Trotzdem empfinde auch ich Wut. Die schwerwiegenden Folgen, die das Stigma einer psychiatrischen Diagnose für die Betroffenen oft hat, habe ich oft genug miterlebt. Nicht ohne Grund wird dieses Stigma oft als "zweite Krankheit" bezeichnet. Ich möchte als Psychiater zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen beitragen. Meine Forschung verfolgt unter anderem das Ziel, mit dem Vorurteil aufzuräumen, dass Befunde zu biologischen Grundlagen psychischer Erkrankungen automatisch als Ausdruck einer naturgegebenen und kategorischen Andersartigkeit der Betroffenen gesehen werden, ein Vorurteil, das auch De Gregorio zu schaffen macht.
Der Psychiatrie gibt De Gregorio mindestens eine Mitschuld an der Diskriminierung psychisch Erkrankter in unserer Gesellschaft. Sie berichtet zwar auch von positiven Erfahrungen mit "Professionellen", zeichnet aber insgesamt ein düsteres Bild der Psychiatrie und geht so weit, diese als totalitäres System zu bezeichnen. Diese Ansicht muss man nicht teilen, aber das ändert nichts daran, dass es tatsächlich einiges zu kritisieren gibt an der Psychiatrie. De Gregorios Schilderungen machen in beklemmender Weise deutlich, wie erniedrigend wohlgemeinte Ratschläge von Therapeuten sein können, die ungefragt Empfehlungen zur Lebensplanung und anderen persönlichen Entscheidungen abgeben, ohne dabei die Bedürfnisse ihrer Patientinnen und die möglichen Konsequenzen solcher Empfehlungen im Blick zu haben. Viele der Medikamente, die in der Psychiatrie eingesetzt werden, sind zwar nachweislich wirksam, sie werden aber oft von oben herab "verordnet", ohne diejenigen, die sie dann täglich einnehmen sollen, ausreichend in die Entscheidungsfindung einzubeziehen. Zudem werden solche Psychopharmaka in vielen Fällen zu hoch und ohne ausreichende Beachtung von Nebenwirkungen dosiert, sie werden häufig in Mehrfachkombinationen verabreicht, die jeder wissenschaftlicher Evidenz entbehren und zu unüberschaubaren Wechselwirkungen führen.
Die neutrale Perspektive gibt es nicht
Und da ist das Thema Zwang. Es hat sich unzweifelhaft einiges getan in den letzten Jahren, was die Reduktion von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen und zwangsweiser Verabreichung von Medikamenten betrifft. Immer mehr Kliniken setzen Konzepte einer offenen Psychiatrie um, vielerorts gibt es Bemühungen, die Türen ehemals geschlossener Akutstationen zu öffnen und Zwangsmaßnahmen zu minimieren. Auch die gesetzlichen Regelungen für die Anwendung von Zwangsmaßnahmen sind strenger geworden. Das ist in der Tendenz gut, aber es ist noch lange nicht genug. Könnten Zwangsmaßnahmen vielleicht sogar ganz abgeschafft werden, wie De Gregorio fordert? Oder gibt es doch Situationen, in denen sie unumgänglich sind? Müssten die Kriterien für eine solche Unumgänglichkeit nicht immer wieder auf den Prüfstand gestellt werden? Und was muss, wenn Zwangsmaßnahmen als unumgänglich erachtet werden, getan werden, um eine Traumatisierung der Betroffenen durch diese Maßnahmen zu verhindern? Es gibt keine einfachen Antworten auf diese und viele andere Fragen, die sich darum drehen, wie eine bessere Psychiatrie aussehen könnte, eine Psychiatrie, die möglichst vielen Menschen hilft und möglichst wenige abschreckt. Ein vollständiger Konsens zwischen allen Beteiligten wird schwer zu finden sein. Um uns aber möglichen Antworten anzunähern, brauchen wir einen Diskurs, der alle Beteiligten miteinbezieht. "Unter Verrückten sagt man du" könnte diesen Diskurs befeuern, und natürlich würde ich gerne einen Beitrag dazu leisten, indem ich meine Perspektive darlege. Das ist die eine Seite des Dilemmas.
Die andere Seite aber ist die: Ich bin Teil des Problems. Sosehr ich selbst das Gefühl habe, De Gregorios Anliegen grundsätzlich zu teilen, sosehr ich mich als einer fühle, der es doch wirklich gut meint und auch mit einer kritischen Auseinandersetzung mit ihren Vorwürfen nur das Beste bezwecken will, so eindeutig stehe ich eben doch auf der anderen Seite. Es gefällt mir nicht, aber ich bin ein Vertreter des Systems, das De Gregorio anklagt. Es geht nicht nur um einen Interessenkonflikt, das Problem liegt tiefer. Ich stehe in dem von ihr benannten Machtgefälle auf der Seite der Mächtigen. Wenn ich mich hinstelle und als vermeintlicher Experte Stellung beziehe zu ihrer Kritik, erst recht, wenn ich mich über sie stelle und über das, was sie schreibt, urteile, dann tue ich genau das, was sie anprangert. Ich kann mich noch so sehr um eine neutrale Perspektive bemühen, ich komme aus meiner Position am oberen Ende des Machtgefälles nicht heraus. Im Gegenteil, wenn ich behaupten würde, ich würde da "drüberstehen", also aus der Rolle des Angeklagten heraus- und in die eines unabhängigen Sachverständigen hineinschlüpfen können, dann würde ich die Sache nur noch schlimmer machen, denn ich würde damit sagen: "Die Kritik, die du aus deiner Froschperspektive übst, ist schön und gut, aber ich bin hier der überlegene Experte, der die Sache aus der Vogelperspektive betrachten und das von dir gezeichnete Bild der Psychiatrie von einer übergeordneten Warte aus kommentieren kann."
Das Dilemma besteht also darin, einerseits eine Stimme in mir sagen zu hören, dass ich doch eigentlich auf De Gregorios Seite stehe, dass ich andererseits aber gleichzeitig ihre Stimme höre, die laut und vernehmlich das Gegenteil sagt. Damit verbietet sich jede wertende Stellungnahme zu ihrer Kritik, denn sie würde das bestehende Machtgefälle, das ihr Buch aufzeigt, nicht auflösen, sondern nur zementieren. Dieses Machtgefälle ist, ob uns das passt oder nicht, inhärenter Bestandteil des Verhältnisses zwischen Therapeut und Patient. Es ist nicht in Stein gemeißelt, aber lässt sich sicher nicht einfach dadurch beseitigen, dass ich meinen Patienten das Du anbiete oder mich selbst zum schärfsten aller Psychiatriekritiker erkläre. Dennoch ist es keineswegs nutzlos, sich dieses Machtgefälle bewusst zu machen einschließlich der kommunikativen Dilemmata, die sich daraus ergeben. Denn es ist dringend angezeigt, sich mit aller Kraft um die Entstigmatisierung psychisch Erkrankter in unserer Gesellschaft und um eine menschlichere Psychiatrie zu bemühen. Damit das gelingt, müssen wir miteinander reden. Bücher wie das von De Gregorio können einen Anstoß dazu geben. Aber die Voraussetzung dafür, dass ein solcher Diskurs konstruktiv verlaufen und Früchte tragen kann, ist das Bewusstsein davon, dass dieser Diskurs nicht von vorneherein auf Augenhöhe stattfindet, sondern von den bestehenden Machtverhältnissen in unserer Gesellschaft durchdrungen ist. Das ist ein Thema, das uns alle angeht und das daher unbedingt die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit verdient. Deswegen habe ich meinen Laptop nicht gleich wieder zugeklappt.
Der Autor ist Chefarzt und Professor für Translationale Psychiatrie an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. Zuletzt erschien von ihm im Ullstein Verlag "Die Illusion der Vernunft".
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Von Philipp Sterzer
Lea De Gregorio hat ein wütendes Buch geschrieben ("Unter Verrückten sagt man du - Eine dringend notwendige Psychiatrie- und Gesellschaftskritik", Suhrkamp Verlag). Sie ist wütend auf eine Gesellschaft, in der psychisch Erkrankte stigmatisiert und ausgegrenzt werden, in der Menschen aufgrund einer psychiatrischen Diagnose nicht für voll genommen und in allem, was sie tun, halb mitleidig, halb misstrauisch beäugt werden. Sie ist wütend auf die Psychiatrie, weil sie Menschen mit psychischen Erkrankungen bevormundet, ihnen Diagnosen gibt, die wie ein Stempel ein Leben lang an ihnen haften bleiben, und Betroffene manchmal sogar einsperrt oder ihnen gegen ihren Willen Medikamente verabreicht. De Gregorio weiß, wovon sie spricht, denn sie ist einer von diesen Menschen.
"Unter Verrückten sagt man du". Mit dem Titel ihres Buches zitiert die Autorin eine Kämpferin für eine menschlichere Psychiatrie, Dorothea Buck, die wegen der Diagnose Schizophrenie in der NS-Zeit zwangssterilisiert wurde. De Gregorio bezieht sich mit diesem Zitat auf eine Situation, die sie aus eigenen Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken kennt: Alle Patienten duzen sich wie selbstverständlich, während man mit den Therapeutinnen ebenso selbstverständlich per Sie ist. Man kann das als Vorwurf gegenüber den Therapeuten lesen, als eine Kritik an deren Haltung. Zunächst einmal handelt es sich aber nur um eine Beobachtung. Eine Beobachtung allerdings, die ein Machtgefälle illustriert. Dieses Gefälle ist für diejenigen, die an seinem unterem Ende stehen, jederzeit und manchmal schmerzhaft spürbar. Allen anderen aber, vor allem denjenigen, die oben stehen, muss das Machtgefälle vor Augen geführt werden, und das ist es, was der Titel von De Gregorios Buch auf den Punkt bringt.
Ich selbst bin Psychiater und Neurowissenschaftler, ein sogenannter Experte, und sollte zu dem, was De Gregorio schreibt, etwas zu sagen haben. Wäre es nicht legitim, als jemand, der über langjährige berufliche Erfahrung in der Psychiatrie verfügt, zu ihren Ausführungen Stellung zu nehmen, ihrer Perspektive als Betroffene meine professionelle Perspektive gegenüberzustellen? Sollte ich nicht versuchen, ihrer wütenden Anklage wertschätzend, aber mit sachlichen Argumenten zu begegnen? De Gregorio wirft der Gesellschaft vor, dass psychisch Erkrankte aus unterschiedlichsten Gründen - weil man sie schonen möchte oder sie eben gar nicht erst für voll nimmt - eine Sonder- oder Andersbehandlung erfahren. Wäre das nicht Grund genug für mich, dem von ihr beklagten Ableismus entgegenzutreten und ihr Buch genau so zu behandeln, wie ich Bücher aller anderen Autoren behandeln würde, die sich zu einem Thema äußern, das mir am Herzen liegt, nämlich kritisch, aber mit dem gebotenen Respekt?
Die Antwort auf all diese Fragen ist ein klares und entschiedenes Nein. Die Schwierigkeiten beginnen schon damit, dass ich einer von diesen "alten weißen Männern" bin. Ich gehöre also zu der Gruppe, die in unserer Gesellschaft immer noch einen Großteil der Fäden in der Hand hält, während Lea De Gregorio eine deutlich jüngere Frau ist, die eher noch am Anfang ihrer Karriere als Journalistin steht. Wirklich brisant wird die Sache aber erst dadurch, dass ich Psychiater bin. Ich stehe am oberen Ende des von De Gregorio beschriebenen Machtgefälles und bin Teil des von ihr kritisierten Systems. Obendrein bin ich Neurowissenschaftler und beschäftige mich mit den biologischen Grundlagen psychischer Erkrankungen. Damit bin ich auch ein Vertreter der sogenannten "biologischen Psychiatrie", die De Gregorio in einer Linie mit einer Geisteshaltung sieht, die den Boden für Euthanasie, Zwangssterilisationen und andere Gräueltaten bereitet hat, die in der Zeit des Nationalsozialismus an Menschen mit psychischen Erkrankungen verübt wurden.
Was als "schizophren" gelten kann
Aber auch damit noch nicht genug: Die Klinik "mitten in Berlin", in der die Autorin vor ein paar Jahren stationär behandelt wurde, ist aufgrund der detaillierten Beschreibungen im Text unschwer als die Klinik zu identifizieren, in der ich lange in leitender Funktion tätig war. Auch wenn ich Lea De Gregorio nicht selbst kennengelernt habe, nie ihr behandelnder Arzt war und auch ihre Krankenakte nicht kenne, wäre allein diese Konstellation Grund genug, spätestens hier einen Punkt zu machen und meinen Laptop zuzuklappen. Warum tue ich es trotzdem nicht? Der Grund ist, dass ich mich in einem Dilemma sehe, einem Dilemma, dem das genannte Machtgefälle zugrunde liegt und das - wenn es sich schon nicht auflösen lässt - mir wert erscheint, doch wenigstens zur Kenntnis genommen zu werden.
Die eine Seite des Dilemmas besteht darin, dass das Thema der Stigmatisierung und Diskriminierung psychisch erkrankter Menschen auch mir unter den Nägeln brennt. Ich weiß, dass es vielen anderen Psychiaterinnen und Therapeuten genauso geht. Selbst wenn die meisten von ihnen sich nicht explizit als Psychiatriekritiker bezeichnen würden, so ist es ihnen doch ein Anliegen, die Psychiatrie zu einem besseren Ort für ihre Patienten zu machen und deren sozialer Ausgrenzung entgegenzuwirken. Wir leben in einer Gesellschaft, in der der russische Angriffskrieg auf die Ukraine als "schizophren" bezeichnet werden darf, ohne dass sich irgendjemand darüber aufregt. Das ist nur ein Beispiel, das mir vor Kurzem in einer Tageszeitung begegnet ist, aber diskriminierende Analogien dieser Art begegnen einem auf Schritt und Tritt. Wie muss es sich für Menschen anfühlen, bei denen die Diagnose Schizophrenie gestellt wurde, wenn die Brutalität eines verbrecherischen Angriffskriegs mit ihrer Diagnose in Verbindung gebracht wird? Wie muss es sich für sie anfühlen, wenn nach einem Amoklauf bekannt gegeben wird, dass der Täter wohl "psychisch krank" gewesen sei, und so getan wird, als sei damit alles erklärt? Wie muss es sich anfühlen, wenn Politiker Gesetzentwürfe vorlegen, durch die Menschen mit psychiatrischen Diagnosen kriminalisiert werden, indem ihre persönlichen Daten über Jahre gespeichert werden sollen?
Lea De Gregorio weiß, wie es sich anfühlt, sie beschreibt es und verleiht ihrer Wut darüber Ausdruck. Ich hingegen weiß es nicht, denn ich habe es nicht am eigenen Leib erfahren. Ich mag Experte für Psychiatrie sein, aber ich bin es nicht für dieses Thema. Trotzdem empfinde auch ich Wut. Die schwerwiegenden Folgen, die das Stigma einer psychiatrischen Diagnose für die Betroffenen oft hat, habe ich oft genug miterlebt. Nicht ohne Grund wird dieses Stigma oft als "zweite Krankheit" bezeichnet. Ich möchte als Psychiater zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen beitragen. Meine Forschung verfolgt unter anderem das Ziel, mit dem Vorurteil aufzuräumen, dass Befunde zu biologischen Grundlagen psychischer Erkrankungen automatisch als Ausdruck einer naturgegebenen und kategorischen Andersartigkeit der Betroffenen gesehen werden, ein Vorurteil, das auch De Gregorio zu schaffen macht.
Der Psychiatrie gibt De Gregorio mindestens eine Mitschuld an der Diskriminierung psychisch Erkrankter in unserer Gesellschaft. Sie berichtet zwar auch von positiven Erfahrungen mit "Professionellen", zeichnet aber insgesamt ein düsteres Bild der Psychiatrie und geht so weit, diese als totalitäres System zu bezeichnen. Diese Ansicht muss man nicht teilen, aber das ändert nichts daran, dass es tatsächlich einiges zu kritisieren gibt an der Psychiatrie. De Gregorios Schilderungen machen in beklemmender Weise deutlich, wie erniedrigend wohlgemeinte Ratschläge von Therapeuten sein können, die ungefragt Empfehlungen zur Lebensplanung und anderen persönlichen Entscheidungen abgeben, ohne dabei die Bedürfnisse ihrer Patientinnen und die möglichen Konsequenzen solcher Empfehlungen im Blick zu haben. Viele der Medikamente, die in der Psychiatrie eingesetzt werden, sind zwar nachweislich wirksam, sie werden aber oft von oben herab "verordnet", ohne diejenigen, die sie dann täglich einnehmen sollen, ausreichend in die Entscheidungsfindung einzubeziehen. Zudem werden solche Psychopharmaka in vielen Fällen zu hoch und ohne ausreichende Beachtung von Nebenwirkungen dosiert, sie werden häufig in Mehrfachkombinationen verabreicht, die jeder wissenschaftlicher Evidenz entbehren und zu unüberschaubaren Wechselwirkungen führen.
Die neutrale Perspektive gibt es nicht
Und da ist das Thema Zwang. Es hat sich unzweifelhaft einiges getan in den letzten Jahren, was die Reduktion von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen und zwangsweiser Verabreichung von Medikamenten betrifft. Immer mehr Kliniken setzen Konzepte einer offenen Psychiatrie um, vielerorts gibt es Bemühungen, die Türen ehemals geschlossener Akutstationen zu öffnen und Zwangsmaßnahmen zu minimieren. Auch die gesetzlichen Regelungen für die Anwendung von Zwangsmaßnahmen sind strenger geworden. Das ist in der Tendenz gut, aber es ist noch lange nicht genug. Könnten Zwangsmaßnahmen vielleicht sogar ganz abgeschafft werden, wie De Gregorio fordert? Oder gibt es doch Situationen, in denen sie unumgänglich sind? Müssten die Kriterien für eine solche Unumgänglichkeit nicht immer wieder auf den Prüfstand gestellt werden? Und was muss, wenn Zwangsmaßnahmen als unumgänglich erachtet werden, getan werden, um eine Traumatisierung der Betroffenen durch diese Maßnahmen zu verhindern? Es gibt keine einfachen Antworten auf diese und viele andere Fragen, die sich darum drehen, wie eine bessere Psychiatrie aussehen könnte, eine Psychiatrie, die möglichst vielen Menschen hilft und möglichst wenige abschreckt. Ein vollständiger Konsens zwischen allen Beteiligten wird schwer zu finden sein. Um uns aber möglichen Antworten anzunähern, brauchen wir einen Diskurs, der alle Beteiligten miteinbezieht. "Unter Verrückten sagt man du" könnte diesen Diskurs befeuern, und natürlich würde ich gerne einen Beitrag dazu leisten, indem ich meine Perspektive darlege. Das ist die eine Seite des Dilemmas.
Die andere Seite aber ist die: Ich bin Teil des Problems. Sosehr ich selbst das Gefühl habe, De Gregorios Anliegen grundsätzlich zu teilen, sosehr ich mich als einer fühle, der es doch wirklich gut meint und auch mit einer kritischen Auseinandersetzung mit ihren Vorwürfen nur das Beste bezwecken will, so eindeutig stehe ich eben doch auf der anderen Seite. Es gefällt mir nicht, aber ich bin ein Vertreter des Systems, das De Gregorio anklagt. Es geht nicht nur um einen Interessenkonflikt, das Problem liegt tiefer. Ich stehe in dem von ihr benannten Machtgefälle auf der Seite der Mächtigen. Wenn ich mich hinstelle und als vermeintlicher Experte Stellung beziehe zu ihrer Kritik, erst recht, wenn ich mich über sie stelle und über das, was sie schreibt, urteile, dann tue ich genau das, was sie anprangert. Ich kann mich noch so sehr um eine neutrale Perspektive bemühen, ich komme aus meiner Position am oberen Ende des Machtgefälles nicht heraus. Im Gegenteil, wenn ich behaupten würde, ich würde da "drüberstehen", also aus der Rolle des Angeklagten heraus- und in die eines unabhängigen Sachverständigen hineinschlüpfen können, dann würde ich die Sache nur noch schlimmer machen, denn ich würde damit sagen: "Die Kritik, die du aus deiner Froschperspektive übst, ist schön und gut, aber ich bin hier der überlegene Experte, der die Sache aus der Vogelperspektive betrachten und das von dir gezeichnete Bild der Psychiatrie von einer übergeordneten Warte aus kommentieren kann."
Das Dilemma besteht also darin, einerseits eine Stimme in mir sagen zu hören, dass ich doch eigentlich auf De Gregorios Seite stehe, dass ich andererseits aber gleichzeitig ihre Stimme höre, die laut und vernehmlich das Gegenteil sagt. Damit verbietet sich jede wertende Stellungnahme zu ihrer Kritik, denn sie würde das bestehende Machtgefälle, das ihr Buch aufzeigt, nicht auflösen, sondern nur zementieren. Dieses Machtgefälle ist, ob uns das passt oder nicht, inhärenter Bestandteil des Verhältnisses zwischen Therapeut und Patient. Es ist nicht in Stein gemeißelt, aber lässt sich sicher nicht einfach dadurch beseitigen, dass ich meinen Patienten das Du anbiete oder mich selbst zum schärfsten aller Psychiatriekritiker erkläre. Dennoch ist es keineswegs nutzlos, sich dieses Machtgefälle bewusst zu machen einschließlich der kommunikativen Dilemmata, die sich daraus ergeben. Denn es ist dringend angezeigt, sich mit aller Kraft um die Entstigmatisierung psychisch Erkrankter in unserer Gesellschaft und um eine menschlichere Psychiatrie zu bemühen. Damit das gelingt, müssen wir miteinander reden. Bücher wie das von De Gregorio können einen Anstoß dazu geben. Aber die Voraussetzung dafür, dass ein solcher Diskurs konstruktiv verlaufen und Früchte tragen kann, ist das Bewusstsein davon, dass dieser Diskurs nicht von vorneherein auf Augenhöhe stattfindet, sondern von den bestehenden Machtverhältnissen in unserer Gesellschaft durchdrungen ist. Das ist ein Thema, das uns alle angeht und das daher unbedingt die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit verdient. Deswegen habe ich meinen Laptop nicht gleich wieder zugeklappt.
Der Autor ist Chefarzt und Professor für Translationale Psychiatrie an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. Zuletzt erschien von ihm im Ullstein Verlag "Die Illusion der Vernunft".
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
»[Es] ist dringend angezeigt, sich mit aller Kraft um die Entstigmatisierung psychisch Erkrankter in unserer Gesellschaft und um eine menschlichere Psychiatrie zu bemühen. ... Bücher wie das von De Gregorio können einen Anstoß dazu geben.« Philipp Sterzer Frankfurter Allgemeine Zeitung 20240704