Vom Erwachsenwerden in einer geteilten Stadt
Der vierzehnjährige Daniel kommt 1958 aus seiner ostdeutschen Heimatstadt, wo ihm als Pfarrerssohn das Abitur verwehrt wird, nach Berlin. Er zieht in ein Schülerheim in Grunewald, wo er auch das Gymnasium besucht, und lebt sich in der neuen Umgebung rasch ein. Mit seinen Zimmergenossen - die alle, wie er, aus der DDR stammen - drückt er nicht nur die Schulbank, sondern sie erkunden gemeinsam die Stadt: Als Zeitungsverkäufer ziehen sie allabendlich durch die Kneipen, und wenn das Essen im Schülerheim allzu fade schmeckt, geht es auf eine Erbsensuppe in Aschingers »Stehbierhalle«. Sie erleben den Erweckungsprediger Billy Graham, der die Massen im Tiergarten in Verzückung versetzt, und Bill Haley, der den Sportpalast zum Kochen bringt.
Der vierzehnjährige Daniel kommt 1958 aus seiner ostdeutschen Heimatstadt, wo ihm als Pfarrerssohn das Abitur verwehrt wird, nach Berlin. Er zieht in ein Schülerheim in Grunewald, wo er auch das Gymnasium besucht, und lebt sich in der neuen Umgebung rasch ein. Mit seinen Zimmergenossen - die alle, wie er, aus der DDR stammen - drückt er nicht nur die Schulbank, sondern sie erkunden gemeinsam die Stadt: Als Zeitungsverkäufer ziehen sie allabendlich durch die Kneipen, und wenn das Essen im Schülerheim allzu fade schmeckt, geht es auf eine Erbsensuppe in Aschingers »Stehbierhalle«. Sie erleben den Erweckungsprediger Billy Graham, der die Massen im Tiergarten in Verzückung versetzt, und Bill Haley, der den Sportpalast zum Kochen bringt.
»Das Buch [ist auch ein] Berlin- und Zeitroman, und da ist vieles, gerade in seiner erzählerischen Redlichkeit, wirklich interessant.« Dirk Knipphals wochentaz 20230723
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
An seiner eigenen Biografie entlang erzählt Christoph Hein vom Leben in der Zeit des kalten Krieges, erfahren wir von Rezensent Dirk Knipphals. Der Kritiker findet es wohltuend altmodisch, wie Hein von seiner eigenen Jugend zwischen West- und Ostberlin erzählt. Schulzeit und erste Jobs als Jugendlicher in Westberlin schildert Hein in vielen Details und lässt in Alltagsschilderungen das "Zeitkolorit" jener Ära aufblitzen, so Knipphals. Auch Zeithistorisches baut der Autor ein, lesen wir, ein Konzert von Bill Haley, einen Auftritt des "Erweckungspredigers" Billy Graham. Lediglich ein bisschen mehr psychologische Tiefe bei der Figurenzeichnung hätte sich der Kritiker gewünscht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.06.2023Die Zeitgeschichte ist ein übermächtiger Gegner
Mauerbau von Fulbrichts Gnaden: Christoph Hein erzählt in "Unterm Staub der Zeit" von seinen Schuljahren in Westberlin
Als der Vater seinen vierzehnjährigen Sohn im Jahr 1958 aus dem sächsischen Guldenberg nach Westberlin ins Internat begleitet, geraten die beiden in der S-Bahn in eine Kontrolle und werden gefilzt. Der pockennarbige DDR-Polizist schüttelt den Kopf über die unnützen Latein- und Griechischbücher in Daniels Tasche: Pfaffenkram. Anerkennend äußert er sich dagegen über das sowjetische Wörterbuch. Da kann es der Vater nicht lassen, dem "kleinen Idioten" eine ausführliche und womöglich riskante Belehrung zu erteilen: Es gebe nur russische, keine sowjetischen Wörterbücher!
Seit je sind die Helden Heins Gekränkte und Trotzende. Sie haben unvergessene Demütigungen im Gepäck. Auch die Familie, von der Christoph Hein in seinem neuen Roman erzählt, lebt in der Defensive. Es sind Kriegsflüchtlinge aus Oberschlesien, wovon man in der DDR lieber kein Aufhebens machte, zudem ist der Vater Pfarrer. Deshalb ist seinen Söhnen der Besuch der Oberschule versagt; der proletarische Nachwuchs soll zum Zug kommen. Aber noch macht es der Viermächte-Status möglich, ein Gymnasium in Westberlin zu besuchen. So wird für Daniel ein grunewaldnahes Internat zur neuen Heimat. Die Lage der Schule deutet hin auf das Evangelische Gymnasium zum Grauen Kloster.
Christoph Hein hat seit der Jahrtausendwende ein imponierendes Spätwerk vorgelegt, darunter eine bittere Gelehrtensatire ("Weiskerns Nachlass") und der große historische Roman "Trutz", der eindringlich von Menschen erzählt, die in die Mühlen der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts geraten. Zwischendrin verfasste er immer wieder autobiographische Werke, wozu auch dieser Internatsroman gehört, reizvoll angesiedelt im spannungsgeladenen Berlin kurz vor dem Mauerbau. Von allzu viel Spannung kann bei der Lektüre zunächst aber nicht die Rede sein. Detailverliebt schildert Heins Icherzähler seinen neuen Schulalltag, stellt uns seine Mitschüler und die Lehrer vor, unter denen es einige Charakterköpfe gibt, etwa die lettische Russischlehrerin, bei der der Sprachunterricht nicht vorankommt, weil sie sich ständig über die "Verbrecher im Kreml" ereifert. Auch von Daniels Nebenjobs erzählt Hein in fragwürdiger Ausführlichkeit. Mit etwas gutem Willen lässt sich das Zeitungsaustragen und Weinflaschenabfüllen als Einblick in westlich-kapitalistisches Geschäftsgebaren verstehen.
Die Gefahr, dass hier Anekdoten ausgebreitet werden, die im Familienkreis oder bei einem Klassentreffen besser aufgehoben wären, ist nach einer Weile auch Hein aufgefallen. Er bemüht sich um mehr Bedeutsamkeit, indem er historische Miniaturen einfügt: Da gibt es den Auftritt des legendären Erweckungspredigers Billy Graham, der damals weltweit Fußballstadien füllte. In Berlin predigt er aber nicht im Olympiastadion, sondern in der Nähe des Brandenburger Tors, um auch die Atheisten im Osten zu beschallen. Vom Charisma des "Maschinengewehrs Gottes" wird aus der kritisch-belustigten Perspektive allerdings wenig spürbar. Danach spielt ein Erweckungsprediger des Rock 'n' Roll auf: Daniel besucht das berüchtigte Krawall-Konzert von Bill Haley im Sportpalast, nur werden die Schüler von ihrem erwachsenen Begleiter sicherheitshalber schon hinausbugsiert, als das wütende Publikum das Orchester Kurt Edelhagen - die Vorband - von der Bühne gebrüllt hat. "Beim Frühstück am nächsten Morgen hörten wir, dass es zu wilden Ausschreitungen gekommen war." Das klingt ehrlich, macht literarisch aber nicht viel her.
So kann es nicht weitergehen. Und plötzlich reißt der brave Pubertist seine Verpuppung auf und entfaltet sich als recht interessanter junger Mann. Da Daniel bereits an eigenen Dramen laboriert, treibt er sich in Theaterkreisen herum, gastiert hartnäckig bei Proben der kleinen Vagantenbühne, bis er vom Regisseur um Kommentare gebeten und von der jungen Hauptdarstellerin verführt wird. Als sein Vater nach Ostberlin versetzt wird, zieht Daniel zurück zu den Eltern und bekommt es schließlich mit einem übermächtigen Gegner zu tun: der Zeitgeschichte. Mitten auf seinem Schulweg wird eine Mauer gebaut. Die S-Bahn fährt plötzlich nur noch bis zur Friedrichstraße. Mit dem West-Abitur wird es nichts mehr.
Die leidigen deutschen Ost-West-Querelen, all die gegenseitigen Vorurteile und Ressentiments, die aktuell wieder durch die Bestseller von Katja Hoyer und Dirk Oschmann befeuert werden, wurzeln in der Zeit, als die deutschen Teilstaaten an vorderster Front des Kalten Kriegs standen, wodurch eine starke ideologische Abgrenzung stattfand. Heins Roman ist da nah an den Anfängen. In den Köpfen steht die Mauer bereits vor 1961. "Was stinkt hier so nach Russenzone?", wird einem Schüler hinterhergeraunt; den Westjungs werden im Gegenzug natürlich Väter mit "dicken Brieftaschen" und dergleichen mehr nachgesagt. Mit besseren Noten und sportlichen Erfolgen versuchen die Ost-Schüler den Mangel an Geld und Respekt zu kompensieren. "Wir galten als Hungerleider, die aus der Staatskasse finanziert wurden und überdies in ihrer Kindheit von einem kommunistischen Staat indoktriniert worden waren."
Wie kaum ein anderer Autor ist Christoph Hein mit seinem ganzen Werk in den Ost-West-Gegensatz verwoben. Diese Involviertheit hat sich deutlich gezeigt bei seinem Hadern mit dem Film "Das Leben der Anderen", in dem er eine Verfälschung seiner eigenen Biographie und die Aneignung der Ost-Geschichte durch einen West-Filmemacher gesehen hat. Ungeachtet seiner Ost-Identität als Schriftsteller hat sich Hein jedoch immer um komplexe Sichtweisen bemüht, die auch diesen Roman bestimmen.
Daniel bekommt am Ende die Chance auf einen West-Pass. Er entscheidet sich dafür, in der DDR bei den Eltern zu bleiben. Dass dies kein politisches Einverständnis ist, wird überaus deutlich: Daniel verweigert die Mitgliedschaft in der FDJ und wird wegen "republikfeindlicher" Einstellungen von einer Ostberliner Abendschule geworfen, deren SED-Direktor er als "Riesenarschloch" bezeichnet. Schließlich beteiligt er sich mit seinem Bruder sogar an einer Gruppe, die Menschen zur Flucht nach Westberlin verhilft: "Diese Aktionen bescherten uns ein Gefühl von Zufriedenheit, wir hatten uns wieder einmal gegen den Staat durchgesetzt, hatten uns gewehrt." Auf der anderen Seite kann sich Hein einen Tritt Richtung Westen nicht versagen. "Fulbricht riegelt ab" nennt er das zentrale Kapitel über den Mauerbau.
"Fulbricht" war im damaligen Westberliner Senat der Spottname auf den US-Senator James Fulbright, der zwei Wochen vor dem Mauerbau verlautbarte: "Ich verstehe nicht, weshalb die Ostdeutschen ihre Grenze nicht schon längst geschlossen haben; ich glaube, sie haben jedes Recht dazu." Dies wurde damals als entscheidendes Signal der Kennedy-Regierung verstanden, dass sie die Mauer als Lösung der Krise mit täglich Tausenden DDR-Flüchtlingen akzeptieren würde. Hein nutzt die Wortschöpfung, um den Mauerbau als Gemeinschaftsleistung von Ost und West zu deuten. Das mögen einige westliche Leser schief finden - in der östlichen Leserschaft wird mancher womöglich einmal mehr Christoph Heins Kunst der historischen Balance bewundern. WOLFGANG SCHNEIDER
Christoph Hein: "Unterm Staub der Zeit". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 223 S., geb.,
24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mauerbau von Fulbrichts Gnaden: Christoph Hein erzählt in "Unterm Staub der Zeit" von seinen Schuljahren in Westberlin
Als der Vater seinen vierzehnjährigen Sohn im Jahr 1958 aus dem sächsischen Guldenberg nach Westberlin ins Internat begleitet, geraten die beiden in der S-Bahn in eine Kontrolle und werden gefilzt. Der pockennarbige DDR-Polizist schüttelt den Kopf über die unnützen Latein- und Griechischbücher in Daniels Tasche: Pfaffenkram. Anerkennend äußert er sich dagegen über das sowjetische Wörterbuch. Da kann es der Vater nicht lassen, dem "kleinen Idioten" eine ausführliche und womöglich riskante Belehrung zu erteilen: Es gebe nur russische, keine sowjetischen Wörterbücher!
Seit je sind die Helden Heins Gekränkte und Trotzende. Sie haben unvergessene Demütigungen im Gepäck. Auch die Familie, von der Christoph Hein in seinem neuen Roman erzählt, lebt in der Defensive. Es sind Kriegsflüchtlinge aus Oberschlesien, wovon man in der DDR lieber kein Aufhebens machte, zudem ist der Vater Pfarrer. Deshalb ist seinen Söhnen der Besuch der Oberschule versagt; der proletarische Nachwuchs soll zum Zug kommen. Aber noch macht es der Viermächte-Status möglich, ein Gymnasium in Westberlin zu besuchen. So wird für Daniel ein grunewaldnahes Internat zur neuen Heimat. Die Lage der Schule deutet hin auf das Evangelische Gymnasium zum Grauen Kloster.
Christoph Hein hat seit der Jahrtausendwende ein imponierendes Spätwerk vorgelegt, darunter eine bittere Gelehrtensatire ("Weiskerns Nachlass") und der große historische Roman "Trutz", der eindringlich von Menschen erzählt, die in die Mühlen der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts geraten. Zwischendrin verfasste er immer wieder autobiographische Werke, wozu auch dieser Internatsroman gehört, reizvoll angesiedelt im spannungsgeladenen Berlin kurz vor dem Mauerbau. Von allzu viel Spannung kann bei der Lektüre zunächst aber nicht die Rede sein. Detailverliebt schildert Heins Icherzähler seinen neuen Schulalltag, stellt uns seine Mitschüler und die Lehrer vor, unter denen es einige Charakterköpfe gibt, etwa die lettische Russischlehrerin, bei der der Sprachunterricht nicht vorankommt, weil sie sich ständig über die "Verbrecher im Kreml" ereifert. Auch von Daniels Nebenjobs erzählt Hein in fragwürdiger Ausführlichkeit. Mit etwas gutem Willen lässt sich das Zeitungsaustragen und Weinflaschenabfüllen als Einblick in westlich-kapitalistisches Geschäftsgebaren verstehen.
Die Gefahr, dass hier Anekdoten ausgebreitet werden, die im Familienkreis oder bei einem Klassentreffen besser aufgehoben wären, ist nach einer Weile auch Hein aufgefallen. Er bemüht sich um mehr Bedeutsamkeit, indem er historische Miniaturen einfügt: Da gibt es den Auftritt des legendären Erweckungspredigers Billy Graham, der damals weltweit Fußballstadien füllte. In Berlin predigt er aber nicht im Olympiastadion, sondern in der Nähe des Brandenburger Tors, um auch die Atheisten im Osten zu beschallen. Vom Charisma des "Maschinengewehrs Gottes" wird aus der kritisch-belustigten Perspektive allerdings wenig spürbar. Danach spielt ein Erweckungsprediger des Rock 'n' Roll auf: Daniel besucht das berüchtigte Krawall-Konzert von Bill Haley im Sportpalast, nur werden die Schüler von ihrem erwachsenen Begleiter sicherheitshalber schon hinausbugsiert, als das wütende Publikum das Orchester Kurt Edelhagen - die Vorband - von der Bühne gebrüllt hat. "Beim Frühstück am nächsten Morgen hörten wir, dass es zu wilden Ausschreitungen gekommen war." Das klingt ehrlich, macht literarisch aber nicht viel her.
So kann es nicht weitergehen. Und plötzlich reißt der brave Pubertist seine Verpuppung auf und entfaltet sich als recht interessanter junger Mann. Da Daniel bereits an eigenen Dramen laboriert, treibt er sich in Theaterkreisen herum, gastiert hartnäckig bei Proben der kleinen Vagantenbühne, bis er vom Regisseur um Kommentare gebeten und von der jungen Hauptdarstellerin verführt wird. Als sein Vater nach Ostberlin versetzt wird, zieht Daniel zurück zu den Eltern und bekommt es schließlich mit einem übermächtigen Gegner zu tun: der Zeitgeschichte. Mitten auf seinem Schulweg wird eine Mauer gebaut. Die S-Bahn fährt plötzlich nur noch bis zur Friedrichstraße. Mit dem West-Abitur wird es nichts mehr.
Die leidigen deutschen Ost-West-Querelen, all die gegenseitigen Vorurteile und Ressentiments, die aktuell wieder durch die Bestseller von Katja Hoyer und Dirk Oschmann befeuert werden, wurzeln in der Zeit, als die deutschen Teilstaaten an vorderster Front des Kalten Kriegs standen, wodurch eine starke ideologische Abgrenzung stattfand. Heins Roman ist da nah an den Anfängen. In den Köpfen steht die Mauer bereits vor 1961. "Was stinkt hier so nach Russenzone?", wird einem Schüler hinterhergeraunt; den Westjungs werden im Gegenzug natürlich Väter mit "dicken Brieftaschen" und dergleichen mehr nachgesagt. Mit besseren Noten und sportlichen Erfolgen versuchen die Ost-Schüler den Mangel an Geld und Respekt zu kompensieren. "Wir galten als Hungerleider, die aus der Staatskasse finanziert wurden und überdies in ihrer Kindheit von einem kommunistischen Staat indoktriniert worden waren."
Wie kaum ein anderer Autor ist Christoph Hein mit seinem ganzen Werk in den Ost-West-Gegensatz verwoben. Diese Involviertheit hat sich deutlich gezeigt bei seinem Hadern mit dem Film "Das Leben der Anderen", in dem er eine Verfälschung seiner eigenen Biographie und die Aneignung der Ost-Geschichte durch einen West-Filmemacher gesehen hat. Ungeachtet seiner Ost-Identität als Schriftsteller hat sich Hein jedoch immer um komplexe Sichtweisen bemüht, die auch diesen Roman bestimmen.
Daniel bekommt am Ende die Chance auf einen West-Pass. Er entscheidet sich dafür, in der DDR bei den Eltern zu bleiben. Dass dies kein politisches Einverständnis ist, wird überaus deutlich: Daniel verweigert die Mitgliedschaft in der FDJ und wird wegen "republikfeindlicher" Einstellungen von einer Ostberliner Abendschule geworfen, deren SED-Direktor er als "Riesenarschloch" bezeichnet. Schließlich beteiligt er sich mit seinem Bruder sogar an einer Gruppe, die Menschen zur Flucht nach Westberlin verhilft: "Diese Aktionen bescherten uns ein Gefühl von Zufriedenheit, wir hatten uns wieder einmal gegen den Staat durchgesetzt, hatten uns gewehrt." Auf der anderen Seite kann sich Hein einen Tritt Richtung Westen nicht versagen. "Fulbricht riegelt ab" nennt er das zentrale Kapitel über den Mauerbau.
"Fulbricht" war im damaligen Westberliner Senat der Spottname auf den US-Senator James Fulbright, der zwei Wochen vor dem Mauerbau verlautbarte: "Ich verstehe nicht, weshalb die Ostdeutschen ihre Grenze nicht schon längst geschlossen haben; ich glaube, sie haben jedes Recht dazu." Dies wurde damals als entscheidendes Signal der Kennedy-Regierung verstanden, dass sie die Mauer als Lösung der Krise mit täglich Tausenden DDR-Flüchtlingen akzeptieren würde. Hein nutzt die Wortschöpfung, um den Mauerbau als Gemeinschaftsleistung von Ost und West zu deuten. Das mögen einige westliche Leser schief finden - in der östlichen Leserschaft wird mancher womöglich einmal mehr Christoph Heins Kunst der historischen Balance bewundern. WOLFGANG SCHNEIDER
Christoph Hein: "Unterm Staub der Zeit". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 223 S., geb.,
24,- Euro.
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