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Jahrzehntelang veröffentlichte die Sowjetunion über ihre Kriegsplanungen 1940/41 keinerlei Dokumente, sondern versuchte, die damaligen Vorgänge zu verschleiern. Walter Post hat mit viel Spürsinn und objektiver wissenschaftlicher Recherche Schlüsseldokumente der Weltpolitik ans Licht gebracht, die zu neuen Erkenntnissen führen: Stalin und der sowjetische Generalstab dachten niemals daran, in der strategischen Defensive zu verharren. Beginnend mit der Kriegstheorie Lenins, analysiert der Autor die politischen, militärischen und diplomatischen Vorgänge unseres Jahrhunderts - stellt die…mehr

Produktbeschreibung
Jahrzehntelang veröffentlichte die Sowjetunion über ihre Kriegsplanungen 1940/41 keinerlei Dokumente, sondern versuchte, die damaligen Vorgänge zu verschleiern. Walter Post hat mit viel Spürsinn und objektiver wissenschaftlicher Recherche Schlüsseldokumente der Weltpolitik ans Licht gebracht, die zu neuen Erkenntnissen führen: Stalin und der sowjetische Generalstab dachten niemals daran, in der strategischen Defensive zu verharren. Beginnend mit der Kriegstheorie Lenins, analysiert der Autor die politischen, militärischen und diplomatischen Vorgänge unseres Jahrhunderts - stellt die Vorgeschichte des deutsch-sowjetischen Krieges in einen weltgeschichtlichen Zusammenhang.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.03.1996

Das Unglück des Jahrhunderts
Eine seltsam ungerührte Studie über die Ursprünge des Rußlandkrieges 1941

Walter Post: Unternehmen Barbarossa. Deutsche und sowjetische Angriffspläne 1940/41. Verlag E. S. Mittler & Sohn, Hamburg 1995. 450 Seiten, 18 Dokumente, 58,- Mark.

Zu der Reihe von Veröffentlichungen, in denen seit den achtziger Jahren die wissenschaftliche Auseinandersetzung über die Ursprünge des Rußlandkrieges von 1941 geführt wird, ist eine weitere getreten. Zum bisherigen Stand der Forschung trägt sie kaum Neues bei. Sie befriedigt auch aus anderen Gründen nur wenig.

Einer betrifft die Form. Auf den ersten hundert Seiten behandelt das Buch die Kriegstheorien, die Rüstung und andere Vorbereitungen beider Seiten für den Krieg, auf sowjetischer auch die "Säuberungen" in der Roten Armee und die militärischen Erfahrungen in den Grenzkonflikten in der Mongolei und im finnischen Winterkrieg, ohne dieses Material bündig mit dem Thema im Titel des Buches zu verknüpfen. Um ein einziges Beispiel zu nennen: aus dem einen Kapitel über technische Vorbereitungen der russischen Eisenbahn seit den späten zwanziger Jahren für die Umstellung von Lokomotiven und Waggons auf die westeuropäische Normalspur ist nichts Bestimmtes über Angriffsabsichten Stalins im Jahre 1941 zu gewinnen. Oder welche Gewißheit ist bei einem keiner Logik verpflichteten Kopf wie Hitler aus den krausen außenpolitischen Ideen in "Mein Kampf" von 1926 für dessen weitere Kriegsplanung im Herbst 1940 zu erlangen? Posts Darstellung fehlt es an formaler Komposition, an Konzentration und Linie.

Daß Stalin 1939 Hitler zum Krieg ermunterte und auf einen langen Abnützungskrieg zwischen Deutschland und den Westmächten spekulierte, in den er für eigene Eroberungspläne eingreifen und entscheiden wollte, sobald die andern sich gegenseitig völlig ermattet hätten, ist gut belegt. Autoren wie Ernst Topitsch, Joachim Hoffmann, Viktor Suvorow, neuerdings unterstützt von einigen russischen Forschern mit neuen Erkenntnissen aus sowjetischen Akten, vertreten die Ansicht, daß Stalin vermutlich im Spätsommer 1941 angegriffen hätte, wenn Hitler ihn nicht selbst angegriffen hätte. Den Vorgang als einen "Präventivangriff" Hitlers zu charakterisieren, stiftet Verwirrung. Denn neben dem genauen Wortsinn schwingt unüberhörbar eine zweite Bedeutung mit: Rechtfertigung. Indessen könnte sie nur einer solchen Kriegspartei zugebilligt werden, deren Politik grundsätzlich auf Kriegsverhütung oder Defensive gerichtet gewesen wäre. Weder Hitler noch Stalin entsprachen dieser Bedingung. Sie hatten sich vielmehr selbst seit 1939 mit je eigenen Eroberungsabsichten in die Lage gebracht, sich von 1940 an voreinander fürchten zu müssen.

Zu den rätselhaften Ereignissen der Entstehungsgeschichte des deutsch-sowjetischen Krieges gehört der Besuch des sowjetischen Außenministers Molotow im November 1940, nachdem Hitler im Oktober den Plan einer Landung in England vertagt hatte. Molotow trat in Berlin mit scharfen Forderungen auf, die darauf hinausliefen, Skandinavien und den Balkan unter sowjetischen Einfluß zu bringen und damit nicht nur Ausgänge in die Nordsee und das Mittelmeer zu gewinnen, sondern auch die für Hitler wichtige Versorgung mit rumänischem Erdöl in die Hand zu bekommen. Warum konfrontierte Stalin in diesem Augenblick Hitler mit so ausgreifenden Forderungen?

Darüber gibt es mehrere Vermutungen. Post stellt eine weitere an: Stalin habe gefürchtet, daß London den Krieg abbrechen und sich mit Hitler verständigen oder gar mit ihm gegen die Sowjetunion verbünden könne. Indem Stalin Hitler Forderungen stellte, die dieser unmöglich habe erfüllen können, habe er Hitler Grund gegeben, sich künftig vor der Sowjetunion in acht zu nehmen. Praktisch gesprochen: sich auf die Möglichkeit eines Zweifrontenkrieges einzurichten, Teile seiner Truppen zu verlegen, England zu entlasten und London zu ermutigen, den Krieg fortzusetzen.

Tatsächlich trug der Molotow-Besuch entscheidend dazu bei, daß Hitler, schwankend, ob er zuerst Großbritannien oder den "Bolschewismus" schlagen müsse, jetzt Planungen für einen Feldzug gegen die Sowjetunion in Auftrag gab, dem im März/April 1941 der definitive Entschluß "Unternehmen Barbarossa" folgte. Was Post über den entsprechenden, ebenfalls schon im Herbst 1940 und dann verstärkt seit Januar 1941 laufenden sowjetischen Aufmarsch in Angriffs-Ordnung mitteilt, wiederholt, was andere schon vorgetragen haben. Post fügt diesen objektiven und eindeutigen militärischen Indizien der Vorbereitung angriffsweise zu führender Operationen ein politisches Argument hinzu: Wenn Stalin seinen Aufmarsch defensiv gemeint hätte und Hitler hätte abschrecken wollen, hätte er den Aufmarsch nicht so angestrengt tarnen dürfen, wie er es bis zum Schluß tat. Denn "zur Abschreckung bedarf es eines Mindestmaßes an Offenheit".

Soweit kann man dem Autor folgen. Aber irgendwann beschleicht den Leser das Gefühl, daß dem Buch etwas fehlt. Auf die Schwächen der Komposition ist schon hingewiesen worden. Schließlich entdeckt man den Grund. Der Autor ist nicht bei der Sache. Er nimmt merkwürdigerweise nicht Anteil. Das ist kein Plädoyer für parteiische Geschichtsschreibung. Natürlich verlangt man zu Recht, daß der Historiker die eigene Person, die eigenen Vorlieben und Abneigungen zu beherrschen weiß. Aber wen nichts zu bewegen scheint, der bewegt auch nicht. Strenge Sachlichkeit und methodische Sorgfalt brauchen nicht der Passion des Historikers im Wege zu stehen, den handelnden Personen des Dramas auf die Spur zu kommen und ihre Absichten und Entschlüsse zu ergründen.

Auf den letzten Seiten des Buches bemerkt man den Grund der Teilnahmslosigkeit. Der Autor meint, der deutsch-sowjetische Krieg sei "am treffendsten" als "Machtkonflikt zwischen zwei imperialistischen Großmächten" zu charakterisieren. Den Rußlandfeldzug Hitlers als "rassenideologischen Vernichtungskrieg" zu interpretieren, meint er, sei eine Sichtweise der Nachkriegszeit, "die die ideologischen Aspekte stark überbewertet und die realpolitischen Motive der deutschen Führung vernachlässigt". Den überlieferten Äußerungen Hitlers über "Lebensraum im Osten", über "Weltanschaunungskrieg" mißt Post wenig Bedeutung bei. Er spricht von "realitätsfernen Plänen" in den Tischgesprächen eines "überarbeiteten Diktators".

Bei der Erörterung der Ursachen des Zweiten Weltkrieges sagt Post, Deutschland "mußte" aufrüsten und damit gegen den Versailler Vertrag verstoßen, um dessen "wirtschaftliche Knebelung" abschütteln zu können. Aber war in den dreißiger Jahren Aufrüstung wirklich die Vorbedingung zur Revision der drückendsten Bestimmungen des Versailler Vertrages?

Offenbar unberührt von Zweifeln fährt Post fort, im Jahr 1938 habe Hitler begonnen, die deutsche Vormachtstellung in Europa "zu restaurieren", wobei er "die Gebiete der ehemaligen k. u. k. Monarchie als deutsche Interessensphäre ansah". Über die Reaktion der Westmächte auf die Besetzung der "Rest-Tschechei" durch Deutschland im März 1939 schreibt er: "Die britische Einkreisungspolitik fiel mit einer dramatischen Verschlechterung der deutsch-polnischen Beziehungen zusammen", die seit 1934 relativ gut gewesen seien.

Wie bitte? Eine unglückliche Koinzidenz zusammenhangloser Ereignisse? Im Wechsel zwischen scheinbar wertfreier Beschreibung und Verwendung politisch hochgradig besetzter Begriffe wie "Einkreisung" erscheint der Zweite Weltkrieg schließlich wie der Erste als Krieg imperialistischer Mächte. Die Unempfindlichkeit des Autors für seinen Stoff, ja für das Unglück des Jahrhunderts gibt diesem Buch seine fatale "realpolitische" Schlagseite. GÜNTHER GILLESSEN

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