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Das »Phänomen Bourdieu« in neuem Licht. In seiner langjährigen und engen Zusammenarbeit mit Pierre Bourdieu hat Franz Schultheis Einblicke in dessen Leben und Arbeiten gewinnen können, die eine weitgehend unbekannte Perspektive eröffnen. Anders als in den geläufigen Porträts von Bourdieu als herausragendem Sozialwissenschaftler tritt hier der »Patron« einer soziologischen Forschungswerkstatt auf den Plan. Die Beschreibung unterschiedlicher Aspekte der Alltagspraxis seines Centre de Sociologie Européenne nimmt dabei den Charakter einer »Ethnographie« des Arbeitens mit Bourdieu an. Im Zentrum,…mehr

Produktbeschreibung
Das »Phänomen Bourdieu« in neuem Licht. In seiner langjährigen und engen Zusammenarbeit mit Pierre Bourdieu hat Franz Schultheis Einblicke in dessen Leben und Arbeiten gewinnen können, die eine weitgehend unbekannte Perspektive eröffnen. Anders als in den geläufigen Porträts von Bourdieu als herausragendem Sozialwissenschaftler tritt hier der »Patron« einer soziologischen Forschungswerkstatt auf den Plan. Die Beschreibung unterschiedlicher Aspekte der Alltagspraxis seines Centre de Sociologie Européenne nimmt dabei den Charakter einer »Ethnographie« des Arbeitens mit Bourdieu an. Im Zentrum, jedoch seiner eigenen Berühmtheit diametral gegenüber, steht die für ihn so wichtige Utopie des »kollektiven Intellektuellen« - und der Versuch ihrer Verwirklichung in Forschung und politischem Engagement.
Autorenporträt
Franz Schultheis (Prof. Dr.), geb. 1953, ist Seniorprofessor an der Zeppelin Universität Friedrichshafen und arbeitete lange mit Pierre Bourdieu zusammen. Er ist Präsident der »Fondation Pierre Bourdieu« sowie Redaktionsmitglied von »Actes de la Recherche en Sciences Sociales«.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.07.2019

Ein großer Kleinunternehmer

Kollektiv soll die Forschung sein, um politisch etwas zu bewegen: Franz Schultheis untersucht, wie Pierre Bourdieu Soziologie betrieb.

Pierre Bourdieu ist einer der wenigen Soziologen der letzten Jahrzehnte, dem international unumstritten der Status eines "Klassikers" zugeschrieben wird. Seine zahlreichen Bücher, die er von Anfang der siebziger Jahre bis zu seinem Tod im Jahr 2002 veröffentlichte, sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Mit Begriffen wie dem "Habitus", dem "sozialen Feld" und den "Kapitalsorten" ist er zum gesunkenen Kulturgut der zeitgenössischen Soziologie weltweit geworden, und Bücher wie "Die feinen Unterschiede" oder "Sozialer Sinn" werden - trotz ihrer berüchtigten stilistischen Sperrigkeit - weiterhin gelesen.

Wie bei jedem Klassiker der Geistes- und Sozialwissenschaften setzte auch hier schon früh die Industrie der Produktion von Sekundärliteratur ein. Wenn Franz Schultheis - Soziologieprofessor in Friedrichshafen und langjähriger Weggefährte Bourdieus - nun sein schmales Bändchen "Unternehmen Bourdieu. Ein Erfahrungsbericht" veröffentlicht, handelt es sich vordergründig um einen weiteren Beitrag zur Sekundärindustrie.

Aber Schultheis wählt einen besonderen Zugang, der den Band lesenswert macht. Sein Interesse ist nämlich ein wissenschaftssoziologisches. Ihn interessiert nicht der Inhalt von Bourdieus Theorie, sondern seine wissenschaftliche Praxis: Wie hat Bourdieu Soziologie betrieben? Wenn man Bourdieus Arbeit verstehen will, muss man sehen, wie diese in ein kompliziertes Feld wissenschaftlicher Praktiken eingebettet ist, so Schultheis' Ausgangspunkt. Dabei geht es ihm nicht um Bourdieus empirische Vorgehensweise oder seine Praxis des Bücherschreibens, sondern um seine Versuche, soziologische Forschung als eine kollektive Tätigkeit neu zu initiieren.

Bourdieu als wissenschaftlicher "Patron" einerseits, als Vertreter des Modells des "kollektiven Intellektuellen" andererseits - das sind die Leitmotive von Schultheis' skizzenhafter Rekonstruktion von Bourdieus Wirken. Im Detail erfährt man einiges über Bourdieus kollektive Projekte: seine Redaktion der ungewöhnlichen Zeitschrift "Actes de la recherche en sciences sociales", seine Forschungsseminare, in denen er sich in der Rolle des "Trainers" gegenüber den Nachwuchsforschern sah, seine Herausgebertätigkeit beim Verlag Éditions de Minuit, seinen Versuch, die internationale Zeitschrift "Liber - Europäische Buchrevue" zu initiieren (in Kooperation mit dieser Zeitung), seine Schriftenreihe "Raisons d'agir", sein Versuch, in diesem Zusammenhang politisch engagierte Autoren zu versammeln, die der Protest gegen den Neoliberalismus eint, schließlich das kurz vor seinem Tod begonnene Projekt "Für einen Raum der Europäischen Sozialwissenschaften".

Der Autor liefert keine abschließende Interpretation, sondern eher Mosaikstücke der Intellektuellenbiographie Bourdieus, die er selbst miterlebt hat. Dabei wird deutlich, dass Bourdieu drei Anliegen verfolgte. Vor allem am Anfang geht es ganz offenbar darum, der eigenen Forschungsperspektive über Zeitschriften- und Verlagsprojekte Geltung zu verschaffen. In den späteren Jahren wird der politische Impetus zentral, seine Rolle als Stichwortgeber der "Gauche de la gauche". Drittens bestand sein bleibendes Interesse darin, eine europäische Vernetzung von Intellektuellen und Wissenschaftlern (und übrigens auch Künstlern) zu initiieren. Klar wird, dass gerade das letztere Anliegen, das Bourdieu offenbar mit großem Energieaufwand betrieben hat, scheiterte. Zumindest einen Grund für die Schwierigkeiten mit den kollektiven Projekten deutet Schultheis an: das Spannungsfeld zwischen dem "Kleinunternehmer" Bourdieu und der ambitionierten Idee des "kollektiven Intellektuellen". Einerseits war Bourdieu ein umtriebiger Unternehmer seiner selbst mit einem auf ihn zugeschnittenen Kreis. Andererseits war es sein Ziel, mit dem Modell des "kollektiven Intellektuellen" wissenschaftliche Arbeit neu zu denken: Gesellschaftspolitische Themen sind meist zu komplex, als dass ein Einzelner - das Modell des Intellektuellen alter Schule - es seriös bewältigen könnte; es bedarf daher eines Netzwerks gleichberechtigter Soziologen, Ökonomen, Historiker, um diese Themen zu bearbeiten, so die ebenso einfache wie schlagende Grundidee. Im Gebälk des Zusammenhangs von Selbstunternehmer und Netzwerk schien es jedoch regelmäßig zu knirschen - dieser Zusammenhang würde noch eine genauere wissenschaftssoziologische Analyse verdienen.

Wer als Geistes- oder Sozialwissenschaftler an einer deutschen Universität arbeitet und Schultheis' Bändchen liest, kommt ins Grübeln. Denn die deutschen Universitäten erleben seit fünfzehn Jahren selbst wiederholt organisatorische Reformen, welche durch massive Anreize zur kollektiven Forschung anhalten. Das Stichwort lautet Exzellenzinitiative. Was Bourdieu mit hohem persönlichen Energieeinsatz "von unten" versuchte, wird den Forschern mittlerweile "von oben" nahegelegt: die gemeinsame Forschung an übergreifenden Themen. Es könnte einem der verwegene Gedanke kommen: Ist Bourdieus Vision des "kollektiven Intellektuellen" in diesen Formaten realisiert? Man hört mittlerweile viel Kritik an Exzellenzclustern und Sonderforschungsbereichen, aber bei Bourdieu wird deutlich, dass Kooperation sich zunächst als ein dringendes inhaltliches Anliegen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung selbst stellen kann.

Tatsächlich hat die deutsche Exzellenzinitiative in günstigen Konstellationen die Kräfte für eine solche inhaltlich fruchtbare Kooperation freigesetzt. Allein: Der Unterschied besteht offenbar darin, dass bei Bourdieu und seinen Kooperationspartnern das gemeinsame inhaltliche Anliegen das Primat hatte und sich die Frage nach dem passenden Format anschloss, während in der Exzellenzinitiative staatliche Gelder und lokale Mitspieler auf der Suche nach passenden Themen sind, zudem die kollektive Forschung in die Struktur eines Wettbewerbs um MIttel und Prestige gebracht wird.

Dass die Suche nach gemeinsamen Arbeitsformaten im Falle Bourdieus dagegen eine Frage der inhaltlichen und politischen Notwendigkeit war, verdeutlicht Schultheis in erhellender Weise. Fast wehmütig stimmt einen dabei, von Bourdieus fortgesetzten und scheiternden Bemühungen zu lesen, eine europäische Zusammenarbeit der Intellektuellen auf den Weg zu bringen. In dieser Hinsicht scheint man zwanzig Jahre später nicht unbedingt weitergekommen zu sein.

ANDREAS RECKWITZ

Franz Schultheis:

"Unternehmen Bourdieu" . Ein Erfahrungsbericht.

Transcript Verlag, Bielefeld 2019. 106 S., br., 14,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Schultheis wählt einen besonderen Zugang, der den Band lesenswert macht. Sein Interesse ist nämlich ein wissenschaftssoziologisches.«

Andreas Reckwitz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.07.2019 20190712