Wenngleich Unterrichtsstörungen in der pädagogischen Fachliteratur zunehmend Beachtung finden, mangelt es neben einer einheitlichen Begriffsbestimmung insbesondere an ganzheitlich ausgerichteten Untersuchungen zum Thema. Ferner werden empirisch belegbare Formen des Machtmissbrauchs durch Lehrkräfte noch allzu oft tabuisiert, obwohl nachweislich ein knappes Viertel aller pädagogischen Interaktionen in allen Schulstufen mit einer Missachtung von SchülerInnen einhergeht (vgl. Projektnetzwerk INTAKT: PRENGEL 2013; ONLINE-FALLARCHIV SCHULPÄDAGOGIK DER UNIVERSITÄT KASSEL o. J.). Kernziel dieser Arbeit ist es daher, aus einer grundschulspezifischen Sicht zu ergründen, inwiefern Lehrkräfte einem ethisch fundierten Umgang mit SchülerInnen speziell in Situationen gestörten Unterrichts gerecht werden. Auf Basis der theoretischen Aufbereitung und Verschränkung beider relevanten Theoriestränge wurde eine hypothesentestende Untersuchung durchgeführt. Methodisch wurden dazu über 1.500 bundesweit erhobene und nach Graden der Anerkennung codierte pädagogische Interaktionen aus 120 Unterrichtsstunden in Grundschulen aus dem INTAKT-Datensatz randomisiert ausgewählt. Diese wurden auf das Vorliegen sowie die genaue Form der Unterrichtsstörung hin untersucht und anschließend in deskriptiven Statistiken aufbereitet. Ergänzend wurden leitfadengestützte Interviews mit neun hessischen Grundschullehrerinnen zu deren Konzeption und Umgang mit Unterrichtsstörungen durchgeführt und inhaltsanalytisch ausgewertet. Ein Drittel aller gesichteten Interaktionen stellt eine Unterrichtsstörung nach erarbeiteter Definition dar. Diese äußern sich überwiegend in aktiven statt passiven Verhaltensweisen der SchülerInnen. Akustische Störungen liegen in etwa der Hälfte aller Fälle vor und dominieren somit als Störungstyp klar. Zentrales und alarmierendes Ergebnis der Arbeit ist, dass GrundschullehrerInnen in Situationen gestörten Unterrichts deutlich häufiger und stärker verletzend handeln als in ungestörten Unterrichtsphasen. Im gestörten Unterricht verdreifacht sich so der Anteil sehr verletzender Interaktionen, gleichzeitig findet sehr anerkennendes Verhalten dreimal seltener statt. Entgegen der aufgestellten Hypothese lässt sich diese Zunahme missachtender Praktiken der Lehrkräfte im gestörten Unterricht jedoch nicht dadurch erklären, dass sie die Verantwortung für die Störung den SchülerInnen zuschreiben und eigene Handlungsmöglichkeiten außer Acht lassen. Die Befragten zeigen sich sensibel für eigene Möglichkeiten der Störungsprävention, schließen die Störung des Unterrichts durch sie selbst nicht aus und bewerten Fallbeispiele überwiegend ethisch fundiert. Unethische Formen der Ausgrenzung, des Anbrüllens und Umgangs mit Eigentum von SchülerInnen werden hingegen nur in wenigen Einzelfällen gebilligt und unkritisch bewertet. Die Auswertung der relativ wenigen Interviews zeichnet somit ein deutlich weniger düsteres Bild zum Umgang mit Unterrichtsstörungen als jene der zahlreichen Interaktionsbeschreibungen. Eine Klärung dieser Diskrepanz durch Methoden der Kindheitsforschung, der Videographie oder gezielten Beobachtung, welche Störungssituationen unmittelbar und zusätzlich aus der kindlichen Perspektive wiedergeben, ist deshalb wünschenswert.
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