Zum hundertsten Geburtstag von Albert Drach am 17. Dezember 2002 erscheint der erste Band einer auf zehn Bände angelegten Werkausgabe. Das Kriminalprotokoll "Untersuchung an Mädeln" ist eines seiner bedeutendsten und erfolgreichsten Bücher. Drach, von Hause aus Jurist, hat mit diesem Werk den Protokollstil in der Literatur berühmt gemacht, der für ihn zu einer Art Markenzeichen geworden ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.12.2002Regennaß und ohne Geld
Eine Biographie und eine Werkausgabe erinnern an Albert Drach
Ehrfurcht und Verehrung sind keine guten Voraussetzungen für historische Betrachtung. Allzu leicht kann die Begeisterung den Blick verstellen. Der Biograph, hat Erich Kästner einmal erklärt, sollte sich hüten, gar zu intim mit der Figur seiner Darstellung zu werden; und lieben, sagte der Aufklärer, "lieben" sollte er sie "schon gar nicht". Sonst nämlich kann er mit dem Abstand leicht auch den Überblick verlieren, bis sein Werk am Ende ein Buch wird, wie es Eva Schobel jetzt über Albert Drach vorgelegt hat. Auf 500 Seiten erfährt der Leser dort vor allem, wie der Schriftsteller selbst über sein Leben dachte, was er der Biographin 150 Stunden lang ins Mikrophon sprach. Und leicht kann man sich nach der Lektüre vorstellen, wie spannend das gewesen sein mag, wie gern sich die Biographin von einem Autor faszinieren ließ, von dem sie sagt, daß er die Zuneigung immer aufs neue bestätigt haben wollte.
Was man sich dagegen weniger gut vorstellen kann, ist das Leben des österreichischen Schriftstellers Albert Drach. Eher indiskret als erhellend wirkt seine mitfühlende Darstellung bisweilen, so wenn die Autorin etwa die Flucht des Juden ins Exil nachzuempfinden versucht. "Ohne Zweifel", schreibt sie im Vollbesitz ihrer Deutungshoheit, "sieht er in dem erzwungenen Ortswechsel auch eine Befreiung . . . Die Aussicht, nun endlich, wenn auch unter Umständen, deren Traurigkeit er vorläufig nicht realisieren will, von mütterlicher Obhut befreit leben, lieben und vor allem schreiben zu können, erscheint ihm durchaus attraktiv."
So eindeutig derartiges Fabulieren literarische Bedeutung erstrebt, zu einer Figur biographischen Erzählens will der Held in dieser Beschreibung nicht reifen, auch wenn es gelegentlich heißt, daß er "von den Damen . . . noch fleischlich wahrgenommen" wurde, bevor er dann "seinem im Alter gutmütig gewordenen Vater nachzugeraten" schien. Aus der Nähe, die sie allenthalben sucht, kann die Autorin ihre Figur nur mehr berührt erfassen, nicht losgelöst von den eigenen Gefühlen, nicht im ganzen und fast nie im Großraum der Geschichte. Immer wieder versinkt sie statt dessen in den Details, in den Geschichten eines Erzählers, gegen dessen Charme man sich stärker hätte wappnen müssen, als es die Biographin konnte oder wollte.
Denn bei allem Respekt, den der Historiker seinem Gegenstand unter Umständen schulden darf, die kritische Distanz bleibt allemal unabdingbar. Wer die Figur als solche fassen will, braucht noch eine andere als deren eigene Perspektive. Ohne Zweifel und ohne Mißtrauen bisweilen ist der Biograph so verloren wie jeder Erzähler. Allein mit "Sympathie" und "ironischer Distanz" kommt er über die heimliche Liebeserklärung nicht hinaus, bleibt er gefangen in der fremden Vorstellung, im Vorgegebenen, mit dem sich der Intellektuelle Albert Drach doch selbst nie abzufinden vermochte - nicht als Anwalt in Mödling bei Wien und nicht als Schriftsteller von Weltgeltung. "Ich habe", sagt er 1975 in einem der damals noch seltenen Interviews, "niemals mit bestehenden Verhältnissen paktiert, sondern mir ist immer daran gelegen, etwas anderes aus den Dingen zu machen, als mir geboten wurde." Immer aufs neue mußte sich Drach mit dem Zweifel zur Wehr setzen, gegen den Vater, gegen die Nazis und das Vergessen danach. Nie wollte er als Schriftsteller den Anwalt verleugnen. Nichts war ihm so suspekt wie das Festgefügte, diese Welt der Vorurteile, das Gegebene, in dem der einzelne schuldig wird durch die bloße Vermutung der anderen über sein Wesen.
Ein ganzes Buch, sein bedeutendstes vielleicht, hat er dem Thema gewidmet. Und es ist sicherlich der bemerkenswertere Beitrag zum heutigen hundertsten Geburtstag des Schriftstellers, daß der Zsolnay Verlag seine zehnbändige Werkausgabe eben jetzt, sieben Jahre nach Drachs Tod, mit diesem "Kriminalprotokoll", dem Roman "Untersuchung an Mädeln", begonnen hat. Es sei dies, hatte es in dem vermutlich vom Autor verfaßten Klappentext der Erstausgabe 1971 geheißen, die Geschichte von "zwei Mädchen" aus einfachen Verhältnissen. Beide "stehen regendurchnäßt ohne Geld auf der Landstraße und wollen per Anhalter die Rückkehr zum Wohnort der Verwaisten antreten. Der Autofahrer, der sie schließlich mitnimmt, veranlaßt zunächst die in derlei Dingen Erfahrenere zu entsprechender Gegenleistung, während die sexuell weniger Erfahrene dazu angeblich gezwungen wird. Als er wegen einer Panne den Wagenheber benutzen will, wird ihm dieser von der willig Gewesenen entwendet, und die angeblich Unwillige mißbraucht das Instrument zur Bearbeitung seines Schädels. Als die Mädchen . . . stellig gemacht werden, beginnt die Untersuchung an ihnen, wiewohl die Leiche des offenbar Getöteten nicht aufzufinden ist." Die Verdächtigen haben keine Chance. Mehr als der fehlende Schuldbeweis zählt die Annahme. Das Gericht verlangt seine Opfer; es entlarvt sich selbst durch die böse Unausweichlichkeit des nüchternen Protokollstils.
So beklemmend wie seinerzeit wirkt die Geschichte noch heute. Wer sie liest, hat keine Mühe, den Schriftsteller zu erkennen, das Profil eines zornigen Aufklärers, der lange vergessen war und nur kurz ins Rampenlicht rückte, als er 1988 den Georg-Büchner-Preis erhielt. Daß man von ihm nach wie vor zu wenig weiß, steht außer Frage. Gern erführen wir endlich mehr über das umgetriebene Leben dieser Jahrhundertfigur, Aufschlußreicheres vor allem als das, was Eva Schobel aus der Nähe zu sehen vermochte. Aber ursprünglich war ja, wie wir gleich im ersten Kapitel erfahren, auch nur ein "Artikel" geplant, ein "bescheidenes Vorhaben".
THOMAS RIETZSCHEL
Eva Schobel: "Albert Drach". Ein wütender Weiser. Residenz Verlag, Salzburg 2002. 559 S., zahlr. Abb., geb., 28,90 [Euro].
Albert Drach: "Untersuchung an Mädeln". Kriminalprotokoll. Werke in zehn Bänden, Bd. 1. Herausgegeben von Ingrid Cella. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2002. 446 S., geb., 24,90 [Euro].
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Eine Biographie und eine Werkausgabe erinnern an Albert Drach
Ehrfurcht und Verehrung sind keine guten Voraussetzungen für historische Betrachtung. Allzu leicht kann die Begeisterung den Blick verstellen. Der Biograph, hat Erich Kästner einmal erklärt, sollte sich hüten, gar zu intim mit der Figur seiner Darstellung zu werden; und lieben, sagte der Aufklärer, "lieben" sollte er sie "schon gar nicht". Sonst nämlich kann er mit dem Abstand leicht auch den Überblick verlieren, bis sein Werk am Ende ein Buch wird, wie es Eva Schobel jetzt über Albert Drach vorgelegt hat. Auf 500 Seiten erfährt der Leser dort vor allem, wie der Schriftsteller selbst über sein Leben dachte, was er der Biographin 150 Stunden lang ins Mikrophon sprach. Und leicht kann man sich nach der Lektüre vorstellen, wie spannend das gewesen sein mag, wie gern sich die Biographin von einem Autor faszinieren ließ, von dem sie sagt, daß er die Zuneigung immer aufs neue bestätigt haben wollte.
Was man sich dagegen weniger gut vorstellen kann, ist das Leben des österreichischen Schriftstellers Albert Drach. Eher indiskret als erhellend wirkt seine mitfühlende Darstellung bisweilen, so wenn die Autorin etwa die Flucht des Juden ins Exil nachzuempfinden versucht. "Ohne Zweifel", schreibt sie im Vollbesitz ihrer Deutungshoheit, "sieht er in dem erzwungenen Ortswechsel auch eine Befreiung . . . Die Aussicht, nun endlich, wenn auch unter Umständen, deren Traurigkeit er vorläufig nicht realisieren will, von mütterlicher Obhut befreit leben, lieben und vor allem schreiben zu können, erscheint ihm durchaus attraktiv."
So eindeutig derartiges Fabulieren literarische Bedeutung erstrebt, zu einer Figur biographischen Erzählens will der Held in dieser Beschreibung nicht reifen, auch wenn es gelegentlich heißt, daß er "von den Damen . . . noch fleischlich wahrgenommen" wurde, bevor er dann "seinem im Alter gutmütig gewordenen Vater nachzugeraten" schien. Aus der Nähe, die sie allenthalben sucht, kann die Autorin ihre Figur nur mehr berührt erfassen, nicht losgelöst von den eigenen Gefühlen, nicht im ganzen und fast nie im Großraum der Geschichte. Immer wieder versinkt sie statt dessen in den Details, in den Geschichten eines Erzählers, gegen dessen Charme man sich stärker hätte wappnen müssen, als es die Biographin konnte oder wollte.
Denn bei allem Respekt, den der Historiker seinem Gegenstand unter Umständen schulden darf, die kritische Distanz bleibt allemal unabdingbar. Wer die Figur als solche fassen will, braucht noch eine andere als deren eigene Perspektive. Ohne Zweifel und ohne Mißtrauen bisweilen ist der Biograph so verloren wie jeder Erzähler. Allein mit "Sympathie" und "ironischer Distanz" kommt er über die heimliche Liebeserklärung nicht hinaus, bleibt er gefangen in der fremden Vorstellung, im Vorgegebenen, mit dem sich der Intellektuelle Albert Drach doch selbst nie abzufinden vermochte - nicht als Anwalt in Mödling bei Wien und nicht als Schriftsteller von Weltgeltung. "Ich habe", sagt er 1975 in einem der damals noch seltenen Interviews, "niemals mit bestehenden Verhältnissen paktiert, sondern mir ist immer daran gelegen, etwas anderes aus den Dingen zu machen, als mir geboten wurde." Immer aufs neue mußte sich Drach mit dem Zweifel zur Wehr setzen, gegen den Vater, gegen die Nazis und das Vergessen danach. Nie wollte er als Schriftsteller den Anwalt verleugnen. Nichts war ihm so suspekt wie das Festgefügte, diese Welt der Vorurteile, das Gegebene, in dem der einzelne schuldig wird durch die bloße Vermutung der anderen über sein Wesen.
Ein ganzes Buch, sein bedeutendstes vielleicht, hat er dem Thema gewidmet. Und es ist sicherlich der bemerkenswertere Beitrag zum heutigen hundertsten Geburtstag des Schriftstellers, daß der Zsolnay Verlag seine zehnbändige Werkausgabe eben jetzt, sieben Jahre nach Drachs Tod, mit diesem "Kriminalprotokoll", dem Roman "Untersuchung an Mädeln", begonnen hat. Es sei dies, hatte es in dem vermutlich vom Autor verfaßten Klappentext der Erstausgabe 1971 geheißen, die Geschichte von "zwei Mädchen" aus einfachen Verhältnissen. Beide "stehen regendurchnäßt ohne Geld auf der Landstraße und wollen per Anhalter die Rückkehr zum Wohnort der Verwaisten antreten. Der Autofahrer, der sie schließlich mitnimmt, veranlaßt zunächst die in derlei Dingen Erfahrenere zu entsprechender Gegenleistung, während die sexuell weniger Erfahrene dazu angeblich gezwungen wird. Als er wegen einer Panne den Wagenheber benutzen will, wird ihm dieser von der willig Gewesenen entwendet, und die angeblich Unwillige mißbraucht das Instrument zur Bearbeitung seines Schädels. Als die Mädchen . . . stellig gemacht werden, beginnt die Untersuchung an ihnen, wiewohl die Leiche des offenbar Getöteten nicht aufzufinden ist." Die Verdächtigen haben keine Chance. Mehr als der fehlende Schuldbeweis zählt die Annahme. Das Gericht verlangt seine Opfer; es entlarvt sich selbst durch die böse Unausweichlichkeit des nüchternen Protokollstils.
So beklemmend wie seinerzeit wirkt die Geschichte noch heute. Wer sie liest, hat keine Mühe, den Schriftsteller zu erkennen, das Profil eines zornigen Aufklärers, der lange vergessen war und nur kurz ins Rampenlicht rückte, als er 1988 den Georg-Büchner-Preis erhielt. Daß man von ihm nach wie vor zu wenig weiß, steht außer Frage. Gern erführen wir endlich mehr über das umgetriebene Leben dieser Jahrhundertfigur, Aufschlußreicheres vor allem als das, was Eva Schobel aus der Nähe zu sehen vermochte. Aber ursprünglich war ja, wie wir gleich im ersten Kapitel erfahren, auch nur ein "Artikel" geplant, ein "bescheidenes Vorhaben".
THOMAS RIETZSCHEL
Eva Schobel: "Albert Drach". Ein wütender Weiser. Residenz Verlag, Salzburg 2002. 559 S., zahlr. Abb., geb., 28,90 [Euro].
Albert Drach: "Untersuchung an Mädeln". Kriminalprotokoll. Werke in zehn Bänden, Bd. 1. Herausgegeben von Ingrid Cella. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2002. 446 S., geb., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Bei einem Autor und Büchner-Preisträger wie Albert Drach lohne es sich, ist Burkhard Spinnen überzeugt, die Rezeptionsgeschichte seiner Werke näher zu beleuchten, denn kaum ein anderer Schriftsteller wurde so oft mit Werkkassetten geehrt, um dann wieder in der Versenkung zu verschwinden. Nun gibt es also, berichtet der Rezensent, sieben Jahre nach Drachs Tod eine dritte Werkausgabe, die der Zsolnay Verlag mit einem ersten Band, dem 1971 zuerst erschienenen Kriminalroman "Untersuchung an Mädeln" eröffnet. Das Buch, in dem zwei Anhalterinnen ihren Vergewaltiger erschlagen und hinterher dafür angeklagt werden, sei, meint Spinnen, "eine Zumutung". Aber eine lesbare, nur eben eine schwierig zu lesende. Beim Leser stelle sich rasch, staunt der Rezensent, so etwas wie eine "negative Faszination" über den sperrigen Schreibstil des Autors ein, der man sich einfach nicht entziehen könne. Die Erzählhaltung des Autors widerspreche jeglichem gewohnten Schreibstil, vermutlich, nimmt Spinnen an, habe sich Drach vorsätzlich stilistisch "zwischen alle Stühle" gesetzt, aber gerade das sei schließlich auch reizvoll.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Albert Drach ist gemeinsam mit Elias Canetti der originellste Schriftsteller deutscher Sprache."
Times Literary Supplement
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