Die Pickelhaube, vor der Zivilisten ehrfurchtsvoll erstarren, der schnarrende adlige Leutnant mit Monokel, hurrapatriotische Reservisten auf der Sedan-Feier - wenn es um die Rolle von Militär und Militarismus im deutschen Kaiserreich geht, können solche Stereotypen den Zugang zur geschichtlichen Wirklichkeit eher verstellen als fördern.
Die kommentierten Dokumente dieses Bandes zeigen die zahlreichen Auswirkungen, die das Militär tatsächlich auf Lebenswelten und Politik hatte, und tragen dazu bei, ein anschauliches wie differenziertes Bild jener Epoche zu gewinnen.
Die kommentierten Dokumente dieses Bandes zeigen die zahlreichen Auswirkungen, die das Militär tatsächlich auf Lebenswelten und Politik hatte, und tragen dazu bei, ein anschauliches wie differenziertes Bild jener Epoche zu gewinnen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.08.2001Haben Se jedient?
Militär und Militarismus im kaiserlichen Deutschland
Bernd Ulrich/Jakob Vogel/Benjamin Ziemann (Herausgeber): Untertan in Uniform. Militär und Militarismus im Kaiserreich 1871-1914. Quellen und Dokumente. Fischer TB-Verlag, Frankfurt am Main 2001. 236 Seiten, 27,90 Mark.
Als der Schuster Wilhelm Voigt 1906 in der Uniform eines Hauptmanns das Rathaus von Köpenick besetzte, brachte er nicht nur seine Zeitgenossen zum Lachen. Er lieferte zugleich einen schlagenden Beweis für die unheilvollen Auswirkungen des preußischen Militarismus auf Staat und Gesellschaft im wilhelminischen Deutschland. Bei ihrer Suche nach Erklärungen machten viele Historiker diesen spezifisch preußisch-deutschen Militarismus und den damit verknüpften Untertanengeist verständlicherweise in hohem Maße für die "deutsche Katastrophe" des Jahre 1945 mitverantwortlich.
Jüngere Historiker wollten Friedrich Meinecke und Gerhard Ritter, die noch unter dem Eindruck zweier Weltkriege und ihrer Folgen standen, nicht mehr uneingeschränkt folgen. Zugleich befragten sie durch detaillierte Analysen jene Deutungen auf ihren Realitätsgehalt, die unter Hinweis auf die gesellschaftliche Stellung des zackig auftretenden Leutnants, die Bedeutung der Flotten- und Wehrvereine oder die vielen öffentlichen Paraden das Kaiserreich als eine vormoderne, deformierte Untertanengesellschaft beschrieben. In der Auseinandersetzung mit Hans-Ulrich Wehlers "Kaiserreich" hatte bereits Thomas Nipperdey auf die Reformbewegungen, die Modernisierungsbereitschaft stadtbürgerlicher Eliten und auf Demokratisierungstendenzen hingewiesen und davor gewarnt, zweifellos vorhandene Verhaltensmuster und Herrschaftsdenken zu generalisieren oder überzubewerten.
An diese Mahnung Nipperdeys knüpfen die Herausgeber der Quellensammlung an. Um es vorweg zu sagen: Es geht ihnen nicht darum, einem undifferenzierten Revisionismus das Wort zu reden. Gestützt auf 148 Dokumente, versuchen sie vielmehr, die vielen Facetten des Militärischen aufzuzeigen, um vorhandene Zerrbilder zu korrigieren. Rüstungs- und Marinepolitik, Organisations- und Technikgeschichte sind aus Platzgründen ausgeklammert. Dennoch: Das innere soziale Gefüge der Armee, Ideologie und Praxis der allgemeinen Wehrpflicht sowie die Strukturen und Mentalitäten des militärischen Soziallebens bei Offizieren, Reserve- und Unteroffizieren werden durch viele sprechende und häufig nur schwer zugängliche Quellen dokumentiert.
Dabei treten einerseits die Schattenseiten des Militarismus deutlich hervor: Soldatenmißhandlungen, Befehle für den Kampf im Innern, Kriegsverherrlichung. Andererseits werden viele Klischeevorstellungen - beispielsweise über das Verhältnis von Liberalen oder Arbeitern zu Militär und Militarismus oder über die Kriegslüsternheit der preußischen Junker - relativiert oder auch vollständig korrigiert: So plädierte bereits 1860 der linke Paulskirchenabgeordnete Heinrich Simon für eine in der Schule beginnende militärische Ausbildung, damit Preußen "seine gezwungene Stellung als Großmacht und die Hoffnungen, die Deutschland auf Preußen setzt, mit voller Sicherheit aufrechterhalten und verwirklichen" könne.
Die Kriegervereine, 1913 mit 2,9 Millionen Mitgliedern stärker als die "freien" Gewerkschaften, lassen sich ebenfalls nicht mehr einfach als Instrumente des Obrigkeitsstaates bei der Verteidigung einer überkommenen Ordnung interpretieren. In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als die Fundamentalpolitisierung die ländlichen Regionen zu erfassen begann, sahen viele Angehörige der Unterschichten im Wehrdienst und dem anschließenden Eintritt in den örtlichen Kriegerverein ein Vehikel der Partizipation am politischen und gesellschaftlichen Leben. "Wir sind Soldaten und Sozialdemokraten, beides mit Leib und Seele", war auch die Meinung vieler Arbeiter, wie der evangelische Pfarrer Paul Göhre 1891 nach Gesprächen in Fabriken erstaunt berichtete. Bürgerliche Militaristen wie Heinrich Claß, der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes, überholten schließlich 1911/12 sogar die preußischen Junker. "Ohne Völkerkampf kein nationales Leben", so Claß. Er forderte, "die Vorbereitungen so zu treffen, daß wir die Wahrscheinlichkeit des Sieges für uns haben".
Vor dem Hintergrund dieser Zeugnisse erscheint die Realität des Kaiserreichs differenzierter und weniger eindimensional als vielfach angenommen. Zugleich macht die Dokumentation deutlich, daß Prozesse der Militarisierung im 19. Jahrhundert ein vielschichtiger und komplexer Bestandteil der sozialen und kulturellen Nationsbildung in allen europäischen Staaten und keineswegs ein "deutsches Schicksal" waren. Angesichts der wichtigen und weiterführenden Befunde kann man nur hoffen, daß die "moderne Militärgeschichte" durch neue komparative Detailforschungen auch dazu beitragen wird, weitere Erklärungen für die "deutsche Katastrophe" zu finden.
MICHAEL EPKENHANS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Militär und Militarismus im kaiserlichen Deutschland
Bernd Ulrich/Jakob Vogel/Benjamin Ziemann (Herausgeber): Untertan in Uniform. Militär und Militarismus im Kaiserreich 1871-1914. Quellen und Dokumente. Fischer TB-Verlag, Frankfurt am Main 2001. 236 Seiten, 27,90 Mark.
Als der Schuster Wilhelm Voigt 1906 in der Uniform eines Hauptmanns das Rathaus von Köpenick besetzte, brachte er nicht nur seine Zeitgenossen zum Lachen. Er lieferte zugleich einen schlagenden Beweis für die unheilvollen Auswirkungen des preußischen Militarismus auf Staat und Gesellschaft im wilhelminischen Deutschland. Bei ihrer Suche nach Erklärungen machten viele Historiker diesen spezifisch preußisch-deutschen Militarismus und den damit verknüpften Untertanengeist verständlicherweise in hohem Maße für die "deutsche Katastrophe" des Jahre 1945 mitverantwortlich.
Jüngere Historiker wollten Friedrich Meinecke und Gerhard Ritter, die noch unter dem Eindruck zweier Weltkriege und ihrer Folgen standen, nicht mehr uneingeschränkt folgen. Zugleich befragten sie durch detaillierte Analysen jene Deutungen auf ihren Realitätsgehalt, die unter Hinweis auf die gesellschaftliche Stellung des zackig auftretenden Leutnants, die Bedeutung der Flotten- und Wehrvereine oder die vielen öffentlichen Paraden das Kaiserreich als eine vormoderne, deformierte Untertanengesellschaft beschrieben. In der Auseinandersetzung mit Hans-Ulrich Wehlers "Kaiserreich" hatte bereits Thomas Nipperdey auf die Reformbewegungen, die Modernisierungsbereitschaft stadtbürgerlicher Eliten und auf Demokratisierungstendenzen hingewiesen und davor gewarnt, zweifellos vorhandene Verhaltensmuster und Herrschaftsdenken zu generalisieren oder überzubewerten.
An diese Mahnung Nipperdeys knüpfen die Herausgeber der Quellensammlung an. Um es vorweg zu sagen: Es geht ihnen nicht darum, einem undifferenzierten Revisionismus das Wort zu reden. Gestützt auf 148 Dokumente, versuchen sie vielmehr, die vielen Facetten des Militärischen aufzuzeigen, um vorhandene Zerrbilder zu korrigieren. Rüstungs- und Marinepolitik, Organisations- und Technikgeschichte sind aus Platzgründen ausgeklammert. Dennoch: Das innere soziale Gefüge der Armee, Ideologie und Praxis der allgemeinen Wehrpflicht sowie die Strukturen und Mentalitäten des militärischen Soziallebens bei Offizieren, Reserve- und Unteroffizieren werden durch viele sprechende und häufig nur schwer zugängliche Quellen dokumentiert.
Dabei treten einerseits die Schattenseiten des Militarismus deutlich hervor: Soldatenmißhandlungen, Befehle für den Kampf im Innern, Kriegsverherrlichung. Andererseits werden viele Klischeevorstellungen - beispielsweise über das Verhältnis von Liberalen oder Arbeitern zu Militär und Militarismus oder über die Kriegslüsternheit der preußischen Junker - relativiert oder auch vollständig korrigiert: So plädierte bereits 1860 der linke Paulskirchenabgeordnete Heinrich Simon für eine in der Schule beginnende militärische Ausbildung, damit Preußen "seine gezwungene Stellung als Großmacht und die Hoffnungen, die Deutschland auf Preußen setzt, mit voller Sicherheit aufrechterhalten und verwirklichen" könne.
Die Kriegervereine, 1913 mit 2,9 Millionen Mitgliedern stärker als die "freien" Gewerkschaften, lassen sich ebenfalls nicht mehr einfach als Instrumente des Obrigkeitsstaates bei der Verteidigung einer überkommenen Ordnung interpretieren. In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als die Fundamentalpolitisierung die ländlichen Regionen zu erfassen begann, sahen viele Angehörige der Unterschichten im Wehrdienst und dem anschließenden Eintritt in den örtlichen Kriegerverein ein Vehikel der Partizipation am politischen und gesellschaftlichen Leben. "Wir sind Soldaten und Sozialdemokraten, beides mit Leib und Seele", war auch die Meinung vieler Arbeiter, wie der evangelische Pfarrer Paul Göhre 1891 nach Gesprächen in Fabriken erstaunt berichtete. Bürgerliche Militaristen wie Heinrich Claß, der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes, überholten schließlich 1911/12 sogar die preußischen Junker. "Ohne Völkerkampf kein nationales Leben", so Claß. Er forderte, "die Vorbereitungen so zu treffen, daß wir die Wahrscheinlichkeit des Sieges für uns haben".
Vor dem Hintergrund dieser Zeugnisse erscheint die Realität des Kaiserreichs differenzierter und weniger eindimensional als vielfach angenommen. Zugleich macht die Dokumentation deutlich, daß Prozesse der Militarisierung im 19. Jahrhundert ein vielschichtiger und komplexer Bestandteil der sozialen und kulturellen Nationsbildung in allen europäischen Staaten und keineswegs ein "deutsches Schicksal" waren. Angesichts der wichtigen und weiterführenden Befunde kann man nur hoffen, daß die "moderne Militärgeschichte" durch neue komparative Detailforschungen auch dazu beitragen wird, weitere Erklärungen für die "deutsche Katastrophe" zu finden.
MICHAEL EPKENHANS
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Diese Quellen- und Dokumentensammlung zur Verbindung von Militarismus und Alltag im Kaiserreich macht für Rezensent Norbert Seitz "eindrucksvoll deutlich, wie sich ein deutsches Land nach dem anderen in eine 'ungeheure Kaserne' verwandelte". Die Herausgeber zeigen seiner Meinung nach, dass die gängigen Vorstellungen - "Pickelhaube, Monokel, schnarrender Befehlston" - die sich mit dieser Zeit verbinden, nur Klischeevorstellungen sind, die die Militarisierung der Gesellschaft "verniedlichen". Wie durch die Quellenauswahl die Rolle der Kriegervereine klar wird und auch an Gegner des Militarismus erinnert wird, das schätzt Seitz sehr, aber er fürchtet, dass in den aktuellen "restaurativen Zeiten", in denen "die Wiederentdeckung des positiven Preußentums" gefeiert wird, dieses Buch als "lästige Aufklärung" unwillkommen ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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