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Auf den Spuren von Proust gegen das Vergessen
Bei einem seiner Streifzüge durch das Paris der Sechzigerjahre lernt Jean die undurchsichtige Camille kennen, die den Spitznamen »Totenkopf« trägt. Als sie ihn eines Tages in ein verschlafenes Dorf mitnimmt, dämmert ihm, dass nichts an dem Ausflug zufällig ist. Denn Jean kennt diesen Ort aus früheren Zeiten. Und er weiß, dass er ein wertvolles Geheimnis birgt. In flirrend leichter Sprache schreibt Modiano sein großes Werk über die schwebende Unzuverlässigkeit der Erinnerung weiter.

Produktbeschreibung
Auf den Spuren von Proust gegen das Vergessen

Bei einem seiner Streifzüge durch das Paris der Sechzigerjahre lernt Jean die undurchsichtige Camille kennen, die den Spitznamen »Totenkopf« trägt. Als sie ihn eines Tages in ein verschlafenes Dorf mitnimmt, dämmert ihm, dass nichts an dem Ausflug zufällig ist. Denn Jean kennt diesen Ort aus früheren Zeiten. Und er weiß, dass er ein wertvolles Geheimnis birgt. In flirrend leichter Sprache schreibt Modiano sein großes Werk über die schwebende Unzuverlässigkeit der Erinnerung weiter.
Autorenporträt
Patrick Modiano, 1945 geboren, ist einer der bedeutendsten französischen Schriftsteller der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Auszeichungen, darunter den großen Romanpreis der Académie française und den Prix Goncourt. 2012 wurde ihm der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur verliehen und 2014 der Nobelpreis für Literatur.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Rezensent Roman Bucheli vergleicht den von Elisabeth Edl übersetzten neuen Roman von Patrick Modiano mit Georges Perecs Versuchen, der Vergangenheit habhaft zu werden. Modianos Spurensuche, die seinen Erzähler ins Jahr 1969 und zu "kuriosen sinistren" Begegnungen und Ereignissen und weiter in die Kindheit zurückführt, initiieren laut Bucheli bei aller Kürze einen "Erinnerungstaumel" und einen Sog, dem sich der Leser nicht entziehen kann. Dass Erinnerung "Stückwerk" ist und mit Skepsis zu betrachten, führt diese Lektüre dem Rezensenten eindringlich vor Augen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.07.2022

Vorsicht
Die Spur führt ins Grüne: Patrick Modiano
verlässt die Erinnerungslandschaft Paris. Und sein
poetisches Verfahren wird transparent wie nie
Für das Unheimliche, das aus dem Erinnerungslabyrinth von Patrick Modianos Romanen strahlt, klingt dieser Name Chevreuse fast etwas zu sanft. Eher hätte er zu der bei Marcel Proust heraufdämmernden Sehnsucht nach Kinderglück gepasst. Tatsächlich enthält sein jüngstes Buch „Unterwegs nach Chevreuse“ Anklänge an Proust wie kaum ein anderes zuvor. Hinter dem Haus, das im Roman eine wichtige Rolle spielt, liegt ein terrassenartig ansteigender Garten mit einer Eisentür in der Umfassungsmauer, die auf eine Waldlichtung führt. Ähnlich wie auf den Spazierwegen bei Proust eröffnet sich da in der Landschaft eine neue Welt: ein Herrschaftsgebiet aus Wäldern, Teichen und Parkanlagen namens „Chevreuse“.
Die Spurensuche durch Modianos memoarchäologisches Stadtgelände Paris führt diesmal also hinaus ins Grüne, ins liebliche Vallée de Chevreuse der südlichen Vorstadt. Das Bemühen Jean Bosmans’, der Hauptfigur des Romans, seine wie verklumpte Algen ins Bewusstsein geschwemmten Erinnerungsfetzen in einen Zusammenhang zu bringen, ist deshalb aber nicht weniger anstrengend. Denn für die Glücksmomente der Proust’schen Spontanerinnerung aus der Teetasse ist bei Modiano kein Platz.
Über die grammatikalische Steiltreppe der Vorvergangenheitsform stolpern wir schon im ersten Satz mit der Hauptfigur hinab in weit zurückliegende Ereignisse. Der Schriftsteller Bosmans notiert Namen, Liedpassagen und tausend weitere Einzelheiten, aus denen er sich Aufschluss erhofft über die seltsamen Begegnungen, Gespräche und Autofahrten, die fünfzig Jahre zuvor zwischen einer Stadtwohnung im Pariser Viertel Auteuil und dem Haus draußen in Chevreuse stattfanden. Als Kind war er in jenem Haus Zeuge gewisser Vorgänge gewesen, die er nicht verstand, und als Zwanzigjähriger sah er sich dann in die Machenschaften eines undurchschaubaren Kreises von Leuten hineingezogen, die offenbar etwas Unbestimmtes von ihm wollten. „Sei vorsichtig!“, warnen ihn manche Freundinnen.
Vor allem in der Wohnung von Auteuil, die tagsüber in der Frühlingssonne strahlt, nachts aber Treffpunkt obskurer Gestalten ist, stoßen zwei unvereinbare Parallelwelten aufeinander. Wenn Bosmans die seit Jahrzehnten nicht mehr gültige Telefonnummer dieser Wohnung wählt, AUTEUIL 15.28, sind im Knistern der Leitung Stimmen zu hören wie aus dem Jenseits, die miteinander Verabredungen treffen. Stellt er hingegen die gängige Nummer 288.15.28 ein, klingt alles normal. Zwielichtig geistern durch die Episoden der Erinnerungsarbeit bei Modiano Momente von Thriller und Krimi.
„Guy ist wieder raus aus dem Gefängnis“, hatte Bosmans als Kind ihm Haus von Chevreuse einmal die Besitzerin am Telefon sagen gehört. Mit jenem Guy Vincent hängt offenbar zusammen, dass später drei Männer dem Zwanzigjährigen nachstellten, weil er ein Geheimnis jenes Hauses kennt. Die Nachstellungen verfolgen den jungen Mann, sie lassen in der Erinnerung längst vergessene Figuren erwachen. Das beste Mittel, sie unschädlich zu machen, sei es, sie in Romanfiguren zu verwandeln, sagt er sich.
Nun ist Patrick Modiano alles andere als ein Autor für Schriftstellerromane und das Ringen um künstlerische Ausdrucksformen am Schreibtisch. Vielmehr lässt er seinen Helden unermüdlich die Orte seines Lebens nach den Spuren seiner Kindheit ablaufen. Schließlich steigt der junge Mann in den Zug nach Saint-Raphaël an der Côte d’Azur. In der Mittelmeersonne will er seinen Roman zu Papier und die Gestalten zum Verschwinden bringen, die ihn im schummrigen Paris gepeinigt hatten. Und tatsächlich: „Seite um Seite zerrann beim Schreiben ein Abschnitt seines Lebens oder wurde vielmehr aufgesaugt wie von einem Blatt Löschpapier.“
Indirekt enthält dieser Roman also ein Bekenntnis zur erlösenden Wirkung des Schreibens. Das macht diesen in der langen Reihe von Modianos Romanen zu einer Besonderheit. Und als vorzügliche Kennerin des Autors hat Elisabeth Edl als Übersetzerin diesen Aspekt mit allen Nuancen in ihren Text einzufügen gewusst.
Außer in seiner Nobelpreisrede 2014 hat Modiano sich bisher nie so deutlich poetologisch geäußert. Literatur ist für ihn, so kann man schließen, nicht nur ein Mittel, Personen aus der Vergessenheit auftauchen und dorthin wieder zurücksinken zu lassen. Sie ist Vermittlerin zwischen unterschiedlichen Standpunkten auf der Grenzlinie von Fantasie und Wirklichkeit.
Jean Bosmans brauchte die obskuren Gestalten, die ihm nachstellten, um auf die Spur einer verlorenen Kindheitserinnerung zu kommen. Und jene Gestalten wiederum brauchen ihn. Im Schreiben wird diese Gegenseitigkeit eingelöst und zugleich in ihrer Unvereinbarkeit bestätigt, denn „jene Personen, die dich als Zeugen brauchen, haben nicht die gleichen Gründe wie du für die Suche nach der verlorenen Zeit“. Wo Prousts Figur Marcel in seinen Glücks- und Schmerzempfindungen vereinsamte, stellt Jean Bosmans bei Modiano sich schreibend neben seine Figuren. Am Schluss sitzt er, zurück in Paris, in einem Café. Sein Roman ist fertig, und es ist ihm, als hätte er gerade ein Gefängnis verlassen. Da fällt ihm auch jener Satz wieder ein, der ihn seit der Kindheit verfolgte: „Guy ist wieder raus aus dem Gefängnis.“ Nach kurzem Zögern ruft er, in Gedanken noch bei jenem Mann, den Kellner: „Zwei Bier. Und alle beide ohne Blume, bitte.“ Solch großzügige Spendierfreude ist man bei den modernen Romanhelden nicht mehr gewohnt.
JOSEPH HANIMANN
Patrick Modiano:
Unterwegs nach
Chevreuse. Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser, München, 2022.
157 Seiten, 22 Euro.
Der Mnemotechniker Patrick Modiano. Foto: F. Mantovani/Gallimard
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"Modiano zeigt uns, dass es die Erinnerung ist, die unser Leben überhaupt erst in einen Zusammenhang mit der Welt bringt." Alexander Solloch, NDR Kultur, 28.07.22

"Bedrohlich, extrem spannungsgeladen, fast unheimlich ist der Ton, der die Texte des Nobelpreisträgers zu echten Kriminalgeschichten macht." Dirk Fuhrig, Deutschlandfunk Kultur, 23.07.22