Der Bestseller "weiter leben", Ruth Klügers autobiographisches Überlebensbuch, war ein beklemmendes Augenzeugnis der Konzentrationslager von Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau, Christianstadt. Doch was kam nach dem Krieg? Aus dem dreizehnjährigen Mädchen, dem die Gaskammer nur durch einen glücklichen Zufall erspart geblieben war, wurde eine angesehene Literaturwissenschaftlerin, eine selbstbewusste Feministin und eine international ausgezeichnete Schriftstellerin. Der American Way of Life in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die komplexe Beziehung zu ihren zwei Söhnen, die unglückliche Ehe und die als Befreiung empfundene Scheidung sind Themen dieser Autobiographie. Hier erzählt eine Frau, die sich ihre Muttersprache ebenso zurückerobert wie ihre Geburtsstadt Wien, die sich mit den Verlusten, die das Altern bringt, auseinandersetzt und sich den Schatten und Visionen der Vergangenheit, aber auch denen der Gegenwart stellt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.07.2008Unterwegs verloren
Ins eigene Fleisch: Ruth Klügers Lebenserinnerungen als Vorabdruck in der F.A.Z.
Als 1992 Ruth Klügers Erinnerungen unter dem Titel "weiter leben. Eine Jugend" erschienen, war das ein Ereignis. Eine Jüdin und amerikanische Germanistin, geboren 1931, erzählte von einer Kindheit im antisemitisch geprägten Wien der dreißiger Jahre, vom Verlust des Vaters und des Bruders, die deportiert und ermordet wurden, und vom eigenen Heranwachsen in drei deutschen Konzentrationslagern. Mit der unmittelbaren Nachkriegszeit, die für sie und ihre Mutter aus einer zweijährigen Wartezeit bestand, bevor sie nach Amerika auswandern konnten, mit der Ankunft in New York und den ersten Erfahrungen in der neuen Heimat endete "weiter leben". Ruth Klüger hatte es ihren Göttinger Freunden gewidmet und gab ihm die Bezeichnung "ein deutsches Buch".
Jetzt erscheint der zweite Teil dieses ungewöhnlichen autobiographischen Projekts, mit dessen Vorabdruck wir heute beginnen. "unterwegs verloren" setzt mit einer beklemmenden Szene ein: In einer kalifornischen Schönheitsklinik lässt sich Ruth Klüger von einer Hautärztin in einer langwierigen Prozedur die Nummer entfernen, die der Zwölfjährigen in Auschwitz auf den Unterarm tätowiert wurde. Ein halbes Jahrhundert habe sie "dieses Stück ,Mahnmal'" mit sich herumgetragen.
Die Gespenster der Vergangenheit, die kommen und gehen, wie es ihnen gefällt, ewig gleich und doch in immer neuen Verkleidungen, das ist das Thema dieses Buches. Die antisemitischen Attacken, die sie als Professorin in Virginia von Kollegen, aber auch von Studenten ertragen muss, weil sie im Sommer ihre Unterarme nicht verhüllt und ihre eintätowierte Nummer sehen lässt, die Herabsetzungen, denen Schwarze ausgesetzt waren, rühren an denselben Nerv: "Jede Diskriminierung schnitt mir ins eigene Fleisch." So erzählt dieses Buch vom lebenslangen Kampf gegen Diskriminierung.
Der Verletzungen sind viele. Die gescheiterte Ehe, das schwierige Verhältnis zur Mutter, die nie ganz zu überbrückende Distanz zu den eigenen Kindern, scheiternde Freundschaften, etwa jene mit Martin Walser - Ruth Klüger erzählt, analysiert, rechtet und hadert, mit sich selbst und mit den anderen. Hier legt sie ihren "Erinnerungshaushalt" offen. Das Bewahren und Verdrängen des Erlebten, das Erinnern und Bewältigen, die komplizierten Mechanismen der individuellen Erinnerung ebenso wie des kollektiven Umgangs mit den Schrecken der Vergangenheit und ihren Opfern, Tätern und Zeugen: das ist ein weiteres zentrales Thema dieser Autobiographie. Aber zugleich erzählt Ruth Klüger uns auch den erstaunlichen Bildungsroman eines Mädchens, das große Teile seiner Schulzeit im Konzentrationslager und auf der Flucht verbracht hat, mit fünfzehn Jahren ein Behelfsabitur in Bayern absolvierte, in Amerika deutsche Literatur studierte, Professorin wurde und zu den angesehensten Germanistinnen der Welt zählt. "unterwegs verloren" beschreibt diese ungewöhnliche Karriere indes nicht als Erfolgsgeschichte, sondern als zähen Kampf um Anerkennung in einer bornierten Männerwelt. Erzählt wird also vor allem die Geschichte einer doppelten Emanzipation: als Jüdin und als Frau.
Rechenschaftsbericht und Anklage gehen nahtlos ineinander über. Und was in einem Augenblick als zwar verständliche, aber doch übergroße Empfindlichkeit gegenüber der kleinsten Zurücksetzung erscheinen mag, erstrahlt im nächsten Augenblick als Beharren auf Gerechtigkeit. Dann entpuppt sich die lakonische und manchmal unterkühlt wirkende Beobachterin als realistische Idealistin. Von den Verlusten dieses Lebens kündet bereits der Titel des Buches. Was sie unterwegs nicht verloren hat, ist die Überzeugung, dass nichts selbstverständlicher sei, als für seine Rechte einzutreten. Darin liegt Ruth Klügers Triumph.
HUBERT SPIEGEL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ins eigene Fleisch: Ruth Klügers Lebenserinnerungen als Vorabdruck in der F.A.Z.
Als 1992 Ruth Klügers Erinnerungen unter dem Titel "weiter leben. Eine Jugend" erschienen, war das ein Ereignis. Eine Jüdin und amerikanische Germanistin, geboren 1931, erzählte von einer Kindheit im antisemitisch geprägten Wien der dreißiger Jahre, vom Verlust des Vaters und des Bruders, die deportiert und ermordet wurden, und vom eigenen Heranwachsen in drei deutschen Konzentrationslagern. Mit der unmittelbaren Nachkriegszeit, die für sie und ihre Mutter aus einer zweijährigen Wartezeit bestand, bevor sie nach Amerika auswandern konnten, mit der Ankunft in New York und den ersten Erfahrungen in der neuen Heimat endete "weiter leben". Ruth Klüger hatte es ihren Göttinger Freunden gewidmet und gab ihm die Bezeichnung "ein deutsches Buch".
Jetzt erscheint der zweite Teil dieses ungewöhnlichen autobiographischen Projekts, mit dessen Vorabdruck wir heute beginnen. "unterwegs verloren" setzt mit einer beklemmenden Szene ein: In einer kalifornischen Schönheitsklinik lässt sich Ruth Klüger von einer Hautärztin in einer langwierigen Prozedur die Nummer entfernen, die der Zwölfjährigen in Auschwitz auf den Unterarm tätowiert wurde. Ein halbes Jahrhundert habe sie "dieses Stück ,Mahnmal'" mit sich herumgetragen.
Die Gespenster der Vergangenheit, die kommen und gehen, wie es ihnen gefällt, ewig gleich und doch in immer neuen Verkleidungen, das ist das Thema dieses Buches. Die antisemitischen Attacken, die sie als Professorin in Virginia von Kollegen, aber auch von Studenten ertragen muss, weil sie im Sommer ihre Unterarme nicht verhüllt und ihre eintätowierte Nummer sehen lässt, die Herabsetzungen, denen Schwarze ausgesetzt waren, rühren an denselben Nerv: "Jede Diskriminierung schnitt mir ins eigene Fleisch." So erzählt dieses Buch vom lebenslangen Kampf gegen Diskriminierung.
Der Verletzungen sind viele. Die gescheiterte Ehe, das schwierige Verhältnis zur Mutter, die nie ganz zu überbrückende Distanz zu den eigenen Kindern, scheiternde Freundschaften, etwa jene mit Martin Walser - Ruth Klüger erzählt, analysiert, rechtet und hadert, mit sich selbst und mit den anderen. Hier legt sie ihren "Erinnerungshaushalt" offen. Das Bewahren und Verdrängen des Erlebten, das Erinnern und Bewältigen, die komplizierten Mechanismen der individuellen Erinnerung ebenso wie des kollektiven Umgangs mit den Schrecken der Vergangenheit und ihren Opfern, Tätern und Zeugen: das ist ein weiteres zentrales Thema dieser Autobiographie. Aber zugleich erzählt Ruth Klüger uns auch den erstaunlichen Bildungsroman eines Mädchens, das große Teile seiner Schulzeit im Konzentrationslager und auf der Flucht verbracht hat, mit fünfzehn Jahren ein Behelfsabitur in Bayern absolvierte, in Amerika deutsche Literatur studierte, Professorin wurde und zu den angesehensten Germanistinnen der Welt zählt. "unterwegs verloren" beschreibt diese ungewöhnliche Karriere indes nicht als Erfolgsgeschichte, sondern als zähen Kampf um Anerkennung in einer bornierten Männerwelt. Erzählt wird also vor allem die Geschichte einer doppelten Emanzipation: als Jüdin und als Frau.
Rechenschaftsbericht und Anklage gehen nahtlos ineinander über. Und was in einem Augenblick als zwar verständliche, aber doch übergroße Empfindlichkeit gegenüber der kleinsten Zurücksetzung erscheinen mag, erstrahlt im nächsten Augenblick als Beharren auf Gerechtigkeit. Dann entpuppt sich die lakonische und manchmal unterkühlt wirkende Beobachterin als realistische Idealistin. Von den Verlusten dieses Lebens kündet bereits der Titel des Buches. Was sie unterwegs nicht verloren hat, ist die Überzeugung, dass nichts selbstverständlicher sei, als für seine Rechte einzutreten. Darin liegt Ruth Klügers Triumph.
HUBERT SPIEGEL
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.08.2008Auch Gespenster altern
Ruth Klügers Erinnerungsbuch „unterwegs verloren”
Können Gespenster sterben? Nein. Aber sie können zurückweichen. Oder verscheucht werden. Etwas zwischen dem Zurückweichen und Verscheuchtwerden eines Gespenstes steht am Beginn des Erinnerungsbuches „unterwegs verloren” der amerikanischen Germanistin Ruth Klüger, die 1931 in Wien geboren wurde. Das Gespenst ist ihr älterer Bruder Schorsch, der mit 17 Jahren von den Nationalsozialisten erschossen wurde. Ihm erklärt die Schwester, die als Kind die Lager Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und Christianstadt überlebt hat, warum sie nun, Jahrzehnte später, die ihr auf den linken Arm eintätowierte KZ-Nummer in einer Laserklinik an ihrem heutigen Wohnsitz in Kalifornien in dreimaliger, kostspieliger Behandlung hat wegbrennen lassen.
Ruth Klüger führt zwei Gründe an. Der erste ist, dass die Ermordeten zwar „in der Zeitlosigkeit ihres frühen Todes verharren müssen”, dass aber auch Gespenster altern: „jetzt, sag ich dem Schorschi, dem Bruder, sind deine dir von der Bibel zugestandenen 70 oder 75 Jahre abgelaufen, und jetzt könntest auch du, wenn wir wie zwei normale Menschen miteinander spazieren gingen, nicht mehr voraus, sondern nur noch zurückschauen auf dein Leben.” Die Jahre, die er nicht habe leben dürfen, habe er ihr zu recht übelnehmen dürfen, nun aber, da ihm keine Zukunft mehr bleibe, sei damit Schluss: „Und so kam es, daß ich dir, dir und deinesgleichen, die KZ-Nummer nicht mehr schuldig zu sein meinte.”
Der zweite Grund ist, dass alles, woran die Nummer erinnerte, in einem Buch aufbewahrt ist: „Ich hatte ein Buch über alles das geschrieben, das war Vorbedingung für das Ablegen der Nummer, für den wieder unversehrten Arm.” Durch dieses Buch, „weiter leben”, das 1992 im Göttinger Wallstein Verlag erschien und zu einem Bestseller wurde, ist Ruth Klüger berühmt geworden. Wer es gelesen hat, der kennt nicht nur die Geschichte ihrer Kindheit in den Lagern, er kennt auch die Geschichte des Bruders und die abgründige Mutter-Tochter-Geschichte, die in Wien beginnt und mit der Übersiedlung nach Amerika 1947 nicht zur Ruhe kommt. Vielmehr entfaltet sie in der neuen Welt erst recht jenes gespenstische Potential, das die erzählende Tochter mit dem aus der alten Welt, aus Wien mitgenommenen Begriff „Neurose” allenfalls zu benennen, nicht aber zu bannen vermag.
Als Ruth Klüger in den frühen neunziger Jahren ihr erstes Erinnerungsbuch schrieb, lebte die Mutter noch. Nun folgt auf den Abschied vom Gespenst des Bruders der Bericht über ihr Begräbnis in Los Angeles, ein Rückblick auf ihre panische Furcht vor neuerlicher Deportation und ein versöhnliches Schlussmedaillon, in dem, wenn schon nicht Mutter und Tochter, so doch Urgroßmutter und Urenkelin unbeschwert zueinander finden. Und noch ein drittes Epitaph steht am Anfang dieses Buches. Es gilt dem zum Katholizismus übergetretenen Cousin Heinz, der den Holocaust unter falschem Namen in Ungarn entging und 83-jährig bei Chicago beim Teekochen seinen eigenen Pyjama in Brand setzte.
Nach den Abschieden von den Toten, die diesem Buch seinen beeindruckenden Auftakt geben und es mit „weiter leben” verknüpfen, folgen vor allem – Abrechnungen. Einige davon sind Wiederholungen, so die Aufkündigung der Freundschaft mit Martin Walser, der in „weiter leben” als „Christoph” 1946/47 aufgetaucht und über Jahrzehnte ein schwieriger Freund geblieben war. Er erhält nun, in Zweitzustellung gewissermaßen, noch einmal den Offenen Brief, in dem ihn Ruth Klüger 2002, nachdem der Roman „Tod eines Kritikers” erschienen war, des Antisemitismus bezichtigte.
Der Verleger Siegfried Unseld hat 1991 die Publikation von „weiter leben” bei Suhrkamp abgelehnt – „was Sie da schreiben, ist erschütternd, weil‚s Ihnen unter den Nazis so schlecht gegangen ist, aber es ist nicht literarisch genug für unsere Ansprüche. So stand‚s im Absagebrief”. Unseld wird hier als extrem unhöflicher Deutscher porträtiert, der sich für den Erfolg des Buches an der Autorin rächt. Da er relativ spät auftaucht, wird das keinen Leser verwundern. Denn von Beginn ihrer akademischen Ausbildung und beruflichen Karriere an ist Ruth Klüger in dieser Autobiographie nahezu ausschließlich von missgünstigen, frauenverachtenden und latent oder manifest antisemitischen Männern umgeben. Nur diese scheinen ihr der Erwähnung wert. Ihre akademische Karriere, die sie immerhin an die Spitze des German Department in Princeton führte, an dessen Personal sie freilich kein gutes Haar lässt, erscheint so nahezu ausschließlich als Hindernislauf. Über ihren Doktorvater, den Barockforscher Blake Spahr in Berkeley, berichtet Ruth Klüger so gut wie nichts. Umso ausführlicher rechnet sie mit einem Kollegen ab, dem sie in Princeton ein Glas Weißwein ins Gesicht schüttete, weil er behauptet hatte, „antisemitische Bemerkungen aus meinem Mund gehört zu haben”. Auf welche Äußerung sich „S., ein amerikanischer Jude, ein fauler, aber gescheiter Kafka-Forscher, dazu ein Gewohnheitslügner und Aufschneider” mit seiner „unerhörten Unverschämtheit” bezog, sagt Ruth Klüger nicht. Stattdessen gibt sie zwei Erklärungen für sein Verhalten: dass sie „eine Frau war, die nicht für seine sexuellen Eskapaden geeignet war”, und dass die KZ-Überlebenden „allen frei gebliebenen Menschen ein Dorn im Auge” seien. Wer die wissenschaftlichen Arbeiten der Germanistin Ruth Klüger kennt, der weiß, wie präzise und detailreich sie zu argumentieren versteht. Und er kennt die Wahrheitsansprüche, die sie, etwa in dem vor einem Historikertag gehaltenen Vortrag „Fakten und Fiktionen” (2000) an die Form der Autobiographie stellt: diese sei von der Sphäre des Romans zu trennen, sie gehöre dem Feld der Geschichtsschreibung an. Umso befremdlicher wirkt die Nonchalance, mit der sie in dem Teil dieses Buches, der vor allem Campus-Gossip zum besten gibt, leichthändig schwere Vorwürfe an halb-anonyme, im Vagen verbleibende Kollegen austeilt. Einer, der Deutsche Reinhard Lettau, ist als „Reinhold Lettau” immerhin wiedererkennbar.
In einem Roman können die nicht erzählten Geschichten, auf deren Kosten sich eine erzählte entfaltet, zum ästhetischen Problem werden. In einer Autobiographie zum moralischen. Wenn nicht für den Autor, so für den Leser. In dieser Autobiographie ist das Kapitel „Eheunglück” weniger der Bericht über das Scheitern einer Ehe vor einem halben Jahrhundert als der Verriss des ehemaligen Ehepartners, des Historikers Tom Angress, der als Werner Angress 1920 in einer jüdischen Familie in Berlin geboren wurde, als Mitglied der amerikanischen Luftwaffe 1944 an der Landung in der Normandie teilnahm und inzwischen wieder in Berlin lebt. Unter dem Namen Ruth Angress hat Ruth Klüger jahrelang publiziert. Nun ist sie stolz auf die Verve ihrer späten öffentlichen Abrechnung und gibt in Interviews zu Protokoll: „Er lebt noch, er ist 88. Er wird sich ärgern, wenn er das liest.” LOTHAR MÜLLER
RUTH KLÜGER: unterwegs verloren. Erinnerungen. Zsolnay Verlag, Wien 2008. 240 Seiten, 20,50 Euro.
Männern gegenüber eher unversöhnlich: Ruth Klüger Foto: Isolde Ohlbaum
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Ruth Klügers Erinnerungsbuch „unterwegs verloren”
Können Gespenster sterben? Nein. Aber sie können zurückweichen. Oder verscheucht werden. Etwas zwischen dem Zurückweichen und Verscheuchtwerden eines Gespenstes steht am Beginn des Erinnerungsbuches „unterwegs verloren” der amerikanischen Germanistin Ruth Klüger, die 1931 in Wien geboren wurde. Das Gespenst ist ihr älterer Bruder Schorsch, der mit 17 Jahren von den Nationalsozialisten erschossen wurde. Ihm erklärt die Schwester, die als Kind die Lager Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und Christianstadt überlebt hat, warum sie nun, Jahrzehnte später, die ihr auf den linken Arm eintätowierte KZ-Nummer in einer Laserklinik an ihrem heutigen Wohnsitz in Kalifornien in dreimaliger, kostspieliger Behandlung hat wegbrennen lassen.
Ruth Klüger führt zwei Gründe an. Der erste ist, dass die Ermordeten zwar „in der Zeitlosigkeit ihres frühen Todes verharren müssen”, dass aber auch Gespenster altern: „jetzt, sag ich dem Schorschi, dem Bruder, sind deine dir von der Bibel zugestandenen 70 oder 75 Jahre abgelaufen, und jetzt könntest auch du, wenn wir wie zwei normale Menschen miteinander spazieren gingen, nicht mehr voraus, sondern nur noch zurückschauen auf dein Leben.” Die Jahre, die er nicht habe leben dürfen, habe er ihr zu recht übelnehmen dürfen, nun aber, da ihm keine Zukunft mehr bleibe, sei damit Schluss: „Und so kam es, daß ich dir, dir und deinesgleichen, die KZ-Nummer nicht mehr schuldig zu sein meinte.”
Der zweite Grund ist, dass alles, woran die Nummer erinnerte, in einem Buch aufbewahrt ist: „Ich hatte ein Buch über alles das geschrieben, das war Vorbedingung für das Ablegen der Nummer, für den wieder unversehrten Arm.” Durch dieses Buch, „weiter leben”, das 1992 im Göttinger Wallstein Verlag erschien und zu einem Bestseller wurde, ist Ruth Klüger berühmt geworden. Wer es gelesen hat, der kennt nicht nur die Geschichte ihrer Kindheit in den Lagern, er kennt auch die Geschichte des Bruders und die abgründige Mutter-Tochter-Geschichte, die in Wien beginnt und mit der Übersiedlung nach Amerika 1947 nicht zur Ruhe kommt. Vielmehr entfaltet sie in der neuen Welt erst recht jenes gespenstische Potential, das die erzählende Tochter mit dem aus der alten Welt, aus Wien mitgenommenen Begriff „Neurose” allenfalls zu benennen, nicht aber zu bannen vermag.
Als Ruth Klüger in den frühen neunziger Jahren ihr erstes Erinnerungsbuch schrieb, lebte die Mutter noch. Nun folgt auf den Abschied vom Gespenst des Bruders der Bericht über ihr Begräbnis in Los Angeles, ein Rückblick auf ihre panische Furcht vor neuerlicher Deportation und ein versöhnliches Schlussmedaillon, in dem, wenn schon nicht Mutter und Tochter, so doch Urgroßmutter und Urenkelin unbeschwert zueinander finden. Und noch ein drittes Epitaph steht am Anfang dieses Buches. Es gilt dem zum Katholizismus übergetretenen Cousin Heinz, der den Holocaust unter falschem Namen in Ungarn entging und 83-jährig bei Chicago beim Teekochen seinen eigenen Pyjama in Brand setzte.
Nach den Abschieden von den Toten, die diesem Buch seinen beeindruckenden Auftakt geben und es mit „weiter leben” verknüpfen, folgen vor allem – Abrechnungen. Einige davon sind Wiederholungen, so die Aufkündigung der Freundschaft mit Martin Walser, der in „weiter leben” als „Christoph” 1946/47 aufgetaucht und über Jahrzehnte ein schwieriger Freund geblieben war. Er erhält nun, in Zweitzustellung gewissermaßen, noch einmal den Offenen Brief, in dem ihn Ruth Klüger 2002, nachdem der Roman „Tod eines Kritikers” erschienen war, des Antisemitismus bezichtigte.
Der Verleger Siegfried Unseld hat 1991 die Publikation von „weiter leben” bei Suhrkamp abgelehnt – „was Sie da schreiben, ist erschütternd, weil‚s Ihnen unter den Nazis so schlecht gegangen ist, aber es ist nicht literarisch genug für unsere Ansprüche. So stand‚s im Absagebrief”. Unseld wird hier als extrem unhöflicher Deutscher porträtiert, der sich für den Erfolg des Buches an der Autorin rächt. Da er relativ spät auftaucht, wird das keinen Leser verwundern. Denn von Beginn ihrer akademischen Ausbildung und beruflichen Karriere an ist Ruth Klüger in dieser Autobiographie nahezu ausschließlich von missgünstigen, frauenverachtenden und latent oder manifest antisemitischen Männern umgeben. Nur diese scheinen ihr der Erwähnung wert. Ihre akademische Karriere, die sie immerhin an die Spitze des German Department in Princeton führte, an dessen Personal sie freilich kein gutes Haar lässt, erscheint so nahezu ausschließlich als Hindernislauf. Über ihren Doktorvater, den Barockforscher Blake Spahr in Berkeley, berichtet Ruth Klüger so gut wie nichts. Umso ausführlicher rechnet sie mit einem Kollegen ab, dem sie in Princeton ein Glas Weißwein ins Gesicht schüttete, weil er behauptet hatte, „antisemitische Bemerkungen aus meinem Mund gehört zu haben”. Auf welche Äußerung sich „S., ein amerikanischer Jude, ein fauler, aber gescheiter Kafka-Forscher, dazu ein Gewohnheitslügner und Aufschneider” mit seiner „unerhörten Unverschämtheit” bezog, sagt Ruth Klüger nicht. Stattdessen gibt sie zwei Erklärungen für sein Verhalten: dass sie „eine Frau war, die nicht für seine sexuellen Eskapaden geeignet war”, und dass die KZ-Überlebenden „allen frei gebliebenen Menschen ein Dorn im Auge” seien. Wer die wissenschaftlichen Arbeiten der Germanistin Ruth Klüger kennt, der weiß, wie präzise und detailreich sie zu argumentieren versteht. Und er kennt die Wahrheitsansprüche, die sie, etwa in dem vor einem Historikertag gehaltenen Vortrag „Fakten und Fiktionen” (2000) an die Form der Autobiographie stellt: diese sei von der Sphäre des Romans zu trennen, sie gehöre dem Feld der Geschichtsschreibung an. Umso befremdlicher wirkt die Nonchalance, mit der sie in dem Teil dieses Buches, der vor allem Campus-Gossip zum besten gibt, leichthändig schwere Vorwürfe an halb-anonyme, im Vagen verbleibende Kollegen austeilt. Einer, der Deutsche Reinhard Lettau, ist als „Reinhold Lettau” immerhin wiedererkennbar.
In einem Roman können die nicht erzählten Geschichten, auf deren Kosten sich eine erzählte entfaltet, zum ästhetischen Problem werden. In einer Autobiographie zum moralischen. Wenn nicht für den Autor, so für den Leser. In dieser Autobiographie ist das Kapitel „Eheunglück” weniger der Bericht über das Scheitern einer Ehe vor einem halben Jahrhundert als der Verriss des ehemaligen Ehepartners, des Historikers Tom Angress, der als Werner Angress 1920 in einer jüdischen Familie in Berlin geboren wurde, als Mitglied der amerikanischen Luftwaffe 1944 an der Landung in der Normandie teilnahm und inzwischen wieder in Berlin lebt. Unter dem Namen Ruth Angress hat Ruth Klüger jahrelang publiziert. Nun ist sie stolz auf die Verve ihrer späten öffentlichen Abrechnung und gibt in Interviews zu Protokoll: „Er lebt noch, er ist 88. Er wird sich ärgern, wenn er das liest.” LOTHAR MÜLLER
RUTH KLÜGER: unterwegs verloren. Erinnerungen. Zsolnay Verlag, Wien 2008. 240 Seiten, 20,50 Euro.
Männern gegenüber eher unversöhnlich: Ruth Klüger Foto: Isolde Ohlbaum
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Diese Memoiren der KZ-Überlebenden Ruth Klüger knüpfen dort an, wo ihr Erinnerungsbuch "weiterleben" von 1992 aufhörte, und beleuchten ihren Werdegang als Literaturwissenschaftlerin in den USA nach dem Krieg. Respekt zollt Rezensent Klaus Bittermann ihrer unversöhnlichen Position zum Antisemitismus, die andere Kritiker ihr oft als Bitterkeit oder veraltetes Denken ausgelegt haben. In Bittermann Augen ist Ruth Klüger aber eher jemand mit einer rar gewordenen Einstellung, nämlich der, "intellektuell wach zu sein für gesellschaftliche Stimmungen, radikal zu sein".
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Da schreibt eine genuine, eine originelle Schriftstellerin und eine energische, buchstäblich tatkräftige und verbal schlagfertige Feministin. Beides erfrischt den Leser ungemein." Ulrich Weinzierl, Die Welt, 23.08.08
"Das Buch ist ein unverzichtbares Dokument zur Zeit- und Wissenschaftsgeschichte. Und es enthält wunderbare glasklare, harte und heitere Momente von scharf beobachteter Menschlichkeit." Angelika Overath, Neue Zürcher Zeitung, 31.08.08
"Ruth Klügers Bücher kann man nicht entbehren, man sollte sie lesen und wieder lesen." Stefan Gmünder, Der Standard, 06.10.08
"Ruth Klügers furioses Werk der Erinnerung". Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung, 13.11.08
"Das Buch ist ein unverzichtbares Dokument zur Zeit- und Wissenschaftsgeschichte. Und es enthält wunderbare glasklare, harte und heitere Momente von scharf beobachteter Menschlichkeit." Angelika Overath, Neue Zürcher Zeitung, 31.08.08
"Ruth Klügers Bücher kann man nicht entbehren, man sollte sie lesen und wieder lesen." Stefan Gmünder, Der Standard, 06.10.08
"Ruth Klügers furioses Werk der Erinnerung". Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung, 13.11.08