Der Bestseller "weiter leben", Ruth Klügers autobiographisches Überlebensbuch, war ein beklemmendes Augenzeugnis der Konzentrationslager von Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau, Christianstadt. Doch was kam nach dem Krieg? Aus dem dreizehnjährigen Mädchen, dem die Gaskammer nur durch einen glücklichen Zufall erspart geblieben war, wurde eine angesehene Literaturwissenschaftlerin, eine selbstbewusste Feministin und eine international ausgezeichnete Schriftstellerin. Der American Way of Life in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die komplexe Beziehung zu ihren zwei Söhnen, die unglückliche Ehe und die als Befreiung empfundene Scheidung sind Themen dieser Autobiographie. Hier erzählt eine Frau, die sich ihre Muttersprache ebenso zurückerobert wie ihre Geburtsstadt Wien, die sich mit den Verlusten, die das Altern bringt, auseinandersetzt und sich den Schatten und Visionen der Vergangenheit, aber auch denen der Gegenwart stellt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.07.2008Unterwegs verloren
Ins eigene Fleisch: Ruth Klügers Lebenserinnerungen als Vorabdruck in der F.A.Z.
Als 1992 Ruth Klügers Erinnerungen unter dem Titel "weiter leben. Eine Jugend" erschienen, war das ein Ereignis. Eine Jüdin und amerikanische Germanistin, geboren 1931, erzählte von einer Kindheit im antisemitisch geprägten Wien der dreißiger Jahre, vom Verlust des Vaters und des Bruders, die deportiert und ermordet wurden, und vom eigenen Heranwachsen in drei deutschen Konzentrationslagern. Mit der unmittelbaren Nachkriegszeit, die für sie und ihre Mutter aus einer zweijährigen Wartezeit bestand, bevor sie nach Amerika auswandern konnten, mit der Ankunft in New York und den ersten Erfahrungen in der neuen Heimat endete "weiter leben". Ruth Klüger hatte es ihren Göttinger Freunden gewidmet und gab ihm die Bezeichnung "ein deutsches Buch".
Jetzt erscheint der zweite Teil dieses ungewöhnlichen autobiographischen Projekts, mit dessen Vorabdruck wir heute beginnen. "unterwegs verloren" setzt mit einer beklemmenden Szene ein: In einer kalifornischen Schönheitsklinik lässt sich Ruth Klüger von einer Hautärztin in einer langwierigen Prozedur die Nummer entfernen, die der Zwölfjährigen in Auschwitz auf den Unterarm tätowiert wurde. Ein halbes Jahrhundert habe sie "dieses Stück ,Mahnmal'" mit sich herumgetragen.
Die Gespenster der Vergangenheit, die kommen und gehen, wie es ihnen gefällt, ewig gleich und doch in immer neuen Verkleidungen, das ist das Thema dieses Buches. Die antisemitischen Attacken, die sie als Professorin in Virginia von Kollegen, aber auch von Studenten ertragen muss, weil sie im Sommer ihre Unterarme nicht verhüllt und ihre eintätowierte Nummer sehen lässt, die Herabsetzungen, denen Schwarze ausgesetzt waren, rühren an denselben Nerv: "Jede Diskriminierung schnitt mir ins eigene Fleisch." So erzählt dieses Buch vom lebenslangen Kampf gegen Diskriminierung.
Der Verletzungen sind viele. Die gescheiterte Ehe, das schwierige Verhältnis zur Mutter, die nie ganz zu überbrückende Distanz zu den eigenen Kindern, scheiternde Freundschaften, etwa jene mit Martin Walser - Ruth Klüger erzählt, analysiert, rechtet und hadert, mit sich selbst und mit den anderen. Hier legt sie ihren "Erinnerungshaushalt" offen. Das Bewahren und Verdrängen des Erlebten, das Erinnern und Bewältigen, die komplizierten Mechanismen der individuellen Erinnerung ebenso wie des kollektiven Umgangs mit den Schrecken der Vergangenheit und ihren Opfern, Tätern und Zeugen: das ist ein weiteres zentrales Thema dieser Autobiographie. Aber zugleich erzählt Ruth Klüger uns auch den erstaunlichen Bildungsroman eines Mädchens, das große Teile seiner Schulzeit im Konzentrationslager und auf der Flucht verbracht hat, mit fünfzehn Jahren ein Behelfsabitur in Bayern absolvierte, in Amerika deutsche Literatur studierte, Professorin wurde und zu den angesehensten Germanistinnen der Welt zählt. "unterwegs verloren" beschreibt diese ungewöhnliche Karriere indes nicht als Erfolgsgeschichte, sondern als zähen Kampf um Anerkennung in einer bornierten Männerwelt. Erzählt wird also vor allem die Geschichte einer doppelten Emanzipation: als Jüdin und als Frau.
Rechenschaftsbericht und Anklage gehen nahtlos ineinander über. Und was in einem Augenblick als zwar verständliche, aber doch übergroße Empfindlichkeit gegenüber der kleinsten Zurücksetzung erscheinen mag, erstrahlt im nächsten Augenblick als Beharren auf Gerechtigkeit. Dann entpuppt sich die lakonische und manchmal unterkühlt wirkende Beobachterin als realistische Idealistin. Von den Verlusten dieses Lebens kündet bereits der Titel des Buches. Was sie unterwegs nicht verloren hat, ist die Überzeugung, dass nichts selbstverständlicher sei, als für seine Rechte einzutreten. Darin liegt Ruth Klügers Triumph.
HUBERT SPIEGEL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ins eigene Fleisch: Ruth Klügers Lebenserinnerungen als Vorabdruck in der F.A.Z.
Als 1992 Ruth Klügers Erinnerungen unter dem Titel "weiter leben. Eine Jugend" erschienen, war das ein Ereignis. Eine Jüdin und amerikanische Germanistin, geboren 1931, erzählte von einer Kindheit im antisemitisch geprägten Wien der dreißiger Jahre, vom Verlust des Vaters und des Bruders, die deportiert und ermordet wurden, und vom eigenen Heranwachsen in drei deutschen Konzentrationslagern. Mit der unmittelbaren Nachkriegszeit, die für sie und ihre Mutter aus einer zweijährigen Wartezeit bestand, bevor sie nach Amerika auswandern konnten, mit der Ankunft in New York und den ersten Erfahrungen in der neuen Heimat endete "weiter leben". Ruth Klüger hatte es ihren Göttinger Freunden gewidmet und gab ihm die Bezeichnung "ein deutsches Buch".
Jetzt erscheint der zweite Teil dieses ungewöhnlichen autobiographischen Projekts, mit dessen Vorabdruck wir heute beginnen. "unterwegs verloren" setzt mit einer beklemmenden Szene ein: In einer kalifornischen Schönheitsklinik lässt sich Ruth Klüger von einer Hautärztin in einer langwierigen Prozedur die Nummer entfernen, die der Zwölfjährigen in Auschwitz auf den Unterarm tätowiert wurde. Ein halbes Jahrhundert habe sie "dieses Stück ,Mahnmal'" mit sich herumgetragen.
Die Gespenster der Vergangenheit, die kommen und gehen, wie es ihnen gefällt, ewig gleich und doch in immer neuen Verkleidungen, das ist das Thema dieses Buches. Die antisemitischen Attacken, die sie als Professorin in Virginia von Kollegen, aber auch von Studenten ertragen muss, weil sie im Sommer ihre Unterarme nicht verhüllt und ihre eintätowierte Nummer sehen lässt, die Herabsetzungen, denen Schwarze ausgesetzt waren, rühren an denselben Nerv: "Jede Diskriminierung schnitt mir ins eigene Fleisch." So erzählt dieses Buch vom lebenslangen Kampf gegen Diskriminierung.
Der Verletzungen sind viele. Die gescheiterte Ehe, das schwierige Verhältnis zur Mutter, die nie ganz zu überbrückende Distanz zu den eigenen Kindern, scheiternde Freundschaften, etwa jene mit Martin Walser - Ruth Klüger erzählt, analysiert, rechtet und hadert, mit sich selbst und mit den anderen. Hier legt sie ihren "Erinnerungshaushalt" offen. Das Bewahren und Verdrängen des Erlebten, das Erinnern und Bewältigen, die komplizierten Mechanismen der individuellen Erinnerung ebenso wie des kollektiven Umgangs mit den Schrecken der Vergangenheit und ihren Opfern, Tätern und Zeugen: das ist ein weiteres zentrales Thema dieser Autobiographie. Aber zugleich erzählt Ruth Klüger uns auch den erstaunlichen Bildungsroman eines Mädchens, das große Teile seiner Schulzeit im Konzentrationslager und auf der Flucht verbracht hat, mit fünfzehn Jahren ein Behelfsabitur in Bayern absolvierte, in Amerika deutsche Literatur studierte, Professorin wurde und zu den angesehensten Germanistinnen der Welt zählt. "unterwegs verloren" beschreibt diese ungewöhnliche Karriere indes nicht als Erfolgsgeschichte, sondern als zähen Kampf um Anerkennung in einer bornierten Männerwelt. Erzählt wird also vor allem die Geschichte einer doppelten Emanzipation: als Jüdin und als Frau.
Rechenschaftsbericht und Anklage gehen nahtlos ineinander über. Und was in einem Augenblick als zwar verständliche, aber doch übergroße Empfindlichkeit gegenüber der kleinsten Zurücksetzung erscheinen mag, erstrahlt im nächsten Augenblick als Beharren auf Gerechtigkeit. Dann entpuppt sich die lakonische und manchmal unterkühlt wirkende Beobachterin als realistische Idealistin. Von den Verlusten dieses Lebens kündet bereits der Titel des Buches. Was sie unterwegs nicht verloren hat, ist die Überzeugung, dass nichts selbstverständlicher sei, als für seine Rechte einzutreten. Darin liegt Ruth Klügers Triumph.
HUBERT SPIEGEL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Diese Memoiren der KZ-Überlebenden Ruth Klüger knüpfen dort an, wo ihr Erinnerungsbuch "weiterleben" von 1992 aufhörte, und beleuchten ihren Werdegang als Literaturwissenschaftlerin in den USA nach dem Krieg. Respekt zollt Rezensent Klaus Bittermann ihrer unversöhnlichen Position zum Antisemitismus, die andere Kritiker ihr oft als Bitterkeit oder veraltetes Denken ausgelegt haben. In Bittermann Augen ist Ruth Klüger aber eher jemand mit einer rar gewordenen Einstellung, nämlich der, "intellektuell wach zu sein für gesellschaftliche Stimmungen, radikal zu sein".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Da schreibt eine genuine, eine originelle Schriftstellerin und eine energische, buchstäblich tatkräftige und verbal schlagfertige Feministin. Beides erfrischt den Leser ungemein." Ulrich Weinzierl, Die Welt, 23.08.08
"Das Buch ist ein unverzichtbares Dokument zur Zeit- und Wissenschaftsgeschichte. Und es enthält wunderbare glasklare, harte und heitere Momente von scharf beobachteter Menschlichkeit." Angelika Overath, Neue Zürcher Zeitung, 31.08.08
"Ruth Klügers Bücher kann man nicht entbehren, man sollte sie lesen und wieder lesen." Stefan Gmünder, Der Standard, 06.10.08
"Ruth Klügers furioses Werk der Erinnerung". Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung, 13.11.08
"Das Buch ist ein unverzichtbares Dokument zur Zeit- und Wissenschaftsgeschichte. Und es enthält wunderbare glasklare, harte und heitere Momente von scharf beobachteter Menschlichkeit." Angelika Overath, Neue Zürcher Zeitung, 31.08.08
"Ruth Klügers Bücher kann man nicht entbehren, man sollte sie lesen und wieder lesen." Stefan Gmünder, Der Standard, 06.10.08
"Ruth Klügers furioses Werk der Erinnerung". Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung, 13.11.08