Seine mit dem Jahr 1976 endende Autobiographie "Unvollendete Reise" setzt Yehudi Menuhin hier fort. Er hatte damals von einem etwas beschaulicheren Dasein geträumt, aber das vorliegende Buch zeigt, daß sein Leben unruhig geblieben ist. Menuhin erzählt von intensiver Konzerttätigkeit, von großen Künstlern und Orchestern, von Reisen, von pädagogischen und humanitären Aktivitäten; aber auch Privates kommt zur Sprache: Dinge, die die Familie betreffen, Fragen der Gesundheit oder des Alterns.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.05.1996Geiger auf fliegendem Teppich
Memoiren und ein Interview: Bücher von und mit Yehudi Menuhin
Der Pianist Glenn Gould hat Yehudi Menuhin einmal aufgefordert, die kanadische Arktis zu besuchen. Das Ergebnis dieser fiktiven Expedition hat er in "Musical America" geschildert: "Ich (habe) keinen Zweifel, daß er mit einem Koffer voller ethnographischer Aufzeichnungen, dem Entwurf für ein verbessertes System der Eskimo-Stenographie und dem Manuskript eines Vortrags über die Ernährungsdefizite des Barren-Ground-Karibus zurückkehren wird." Sein verblüffend treffsicheres Kurzporträt des charismatischen Künstlers, Humanisten und Weltverbesserers Menuhin beendet Gould mit der Vermutung, Menuhin gehöre zu den seltenen Leuten, "die einmal im Gefühl der Menschen jenen einzigartigen Platz einnehmen könnten, der seit dem Tod Albert Schweitzers verwaist ist".
Eigentlich ist Menuhin lebenslang auf Expedition. Nicht zufällig heißt seine auflagenstarke Autobiographie von 1976 "Unvollendete Reise", und nicht von ungefähr nennen sich seine Erinnerungen von 1976 bis 1995 "Unterwegs". In ihrer Rastlosigkeit und Sprunghaftigkeit nähren die neuen Memoiren den Verdacht, der Musiker und Menschheitsbeglücker brauche sein ganzes Leben, um die Isolation seiner jungen Jahre aufzuholen. Seine Initiativen, Pläne und Projekte zur "Linderung menschlichen Elends" und "Mehrung des Glücks" sind inzwischen so unüberschaubar, daß Menuhin in Brüssel die "International Yehudi Menuhin Foundation" gründen mußte. Und der Leser wird den Verdacht nicht los, der gutherzige Künstler lasse sich für mehr oder minder löbliche Zwecke mißbrauchen.
Erinnerungssplitter aus der Kindheit, Reisen, subjektive Porträts von Orchestern, die der Geiger dirigiert hat, musikalische und weltpolitische Ansichten, Skizzen seiner bekanntesten Projekte, dazu Einblicke in Familienangelegenheiten und die Erfahrungen des Gesundheitsapostels - in diesem assoziativen Mosaik findet sich grundsätzlich wenig, was Menuhin nicht schon früher von sich gegeben hätte. Mit dem Eigensinn des ewigen Glückskindes oder des naiven Utopisten, der nicht einsehen kann, daß die Weltprobleme sich nicht mit einfachen Rezepten lösen lassen, hält Menuhin an seiner Idee eines völkerversöhnenden kulturellen Weltparlaments oder einer Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts nach dem Vorbild der Schweizer Kanton-Konföderation fest.
Gegenüber der "Unvollendeten Reise" hat der neue Rechenschaftsbericht als Fortsetzung des vorangegangenen natürlich den Vorzug der Aktualität. Und deutlicher als früher ist sich Menuhin bewußt geworden, daß er als privilegierter Künstler die gewalttätige Seite des Lebens meist nur aus sicherer Distanz erfahren hat, eingehüllt "in nichts als Anregung und Ansporn". Trotzdem ist Menuhin im Grunde der Träumer geblieben, der einst als Kind im Schlaf selig entrückt meinte, Frieden kehre auf Erden ein, "wenn ich nur die Bach-Chaconne einigermaßen gut spielen könnte, und zwar in der Sixtinischen Kapelle".
In den Interviews, die der New Yorker Pianist und Musikjournalist David Dubal über mehrere Jahre hin privat und öffentlich mit Menuhin führte und die 1991 in englischer Sprache erschienen, weitet sich das Themenspektrum zu einer fast globalen Erörterung von Kunst und Politik, Religion und Umwelt vom Beginn der Menschheit bis zur Gegenwart, die Dubal als Menuhins geistreich stimulierender, ergänzender und korrigierender advocatus diaboli als wahres Höllen-Szenario aufrollt. Im Kapitel "Über Musik und Musiker" porträtiert Menuhin plastisch einige Musiker aus seinem Bekanntenkreis: Bartók, Gould, Britten, Enescu.
Weiter zurückliegende Epochen im Schnellgang durch die Musikgeschichte bleiben jedoch seltsam ungenau und klischeebehaftet: der keusche Purcell, der mystische Bach, der nordisch-neblige Brahms, Händels Epoche als eine "selige Zeit" in wunderbarer Londoner Geborgenheit, Schubert als gefühlsintensiver Jugendlicher in "frischer, zarter Zeit", in der man im Feudalismus angeblich völlig unangefochten im "Wien der Wälder und der sauberen Luft" gelebt habe. Menuhins harmonisierendes Lieblingswort "wundervoll" oder "wunderbar", mit dem er die Musikgeschichte überschüttet, verstummt bei Arnold Schönberg: Mit ihm kann Menuhin so wenig anfangen, daß er durch Dubal überrascht zum ersten Mal von Schönberg als Maler und von dem berühmten Aufsatz "Brahms, der Fortschrittliche" hört.
Geiger dagegen, selbst weniger geläufige Barock-Größen, charakterisiert er treffend und lebendig: Hier ist Menuhin deutlich in seinem Element. Das Kapitel "Die Musik und das Leben" enthält einige verblüffende Einsichten Menuhins in die Genese seiner treuherzigen Zukunftsvisionen, wenn er auch nur selten Schlüsse daraus zieht. So hat er sich die "idealisierenden Augen eines Kindes", mit denen er im vermeintlich paradiesischen San Francisco aufwuchs, bis ins achte Lebensjahrzehnt bewahrt, und immer dort, wo die Umwelt heute zu weit von diesem Garten Eden entfernt ist, möchte er ihn helfend, lehrend, moralisierend oder appellierend wiederherstellen helfen. Und sein Einsatz für die Musik als Mittel zu Kommunikation und Völkerverständigung kompensiert den Mangel an konkreten menschlichen Kontakten während Kindheit und Jugend, als er von Privatlehrern statt in öffentlichen Schulen unterrichtet wurde.
Erst spät erlernte er die "Technik oder Gabe, Menschen richtig einzuschätzen". Noch heute kann er sich das Scheitern auch einiger seiner eigenen humanitären Ziele im politischen Machtgeschiebe schlichtweg nicht vorstellen, ebensowenig den keineswegs zimperlichen Imperialismus seines geliebten Großbritannien in Indien. Menuhin deutet sich in solchen Passagen der Interviews die Weltgeschichte so harmonistisch zurecht, daß Dubal wie ein strenger Lehrer eingreifen muß: "Ihre Vorliebe für die Engländer gerät der Geschichte in die Quere. Wie kann es unschuldige Imperialisten geben? Die Welt zahlt nach wie vor für Englands einstige Glorie."
Im Kapitel "Die Conditio humana", einem bunten Rösselspringen zwischen weltweiter Todessehnsucht als möglicher Ursache der Selbstvernichtung der Menschen und der Zerstörung ihrer Umwelt, zwischen Religion und Terrorismus, Zen-Buddhismus und Lärm, Drogen und Manipulation durch Werbung und Propaganda, holt Dubal zu seinem verbalen Untergangs-Inferno aus, in dem er auch Fernsehen und Rockmusik verteufelt. Mittendrin läßt Dubal, fein dosiert, Hinweise auf die mögliche Zwiespältigkeit, ja Gefährlichkeit eines weltumspannenden Helfersyndroms fallen: "Alles, das zu weit getrieben wird, (kann) ins Unheil umschlagen . . . Ideale machen mir angst. Eine Vorstellungskraft, die zu sehr in großer Kunst . . . aufgeht . . ., kann autistisch werden. Der Schrei auf den Straßen scheint . . . weniger mächtig, weniger wichtig als der Schrei in dem Buch."
Hat Menuhin, der den Schrei auf der Straße nicht kennenlernte, in seinem Lebensschützer-Idealismus den Schrei im Buch im Gedächtnis? So persönlich wird Dubal, der für Menuhin das treffende Bild von der ungewöhnlich erfüllten Lebensreise auf einem fliegenden Teppich hoch über allem Leid der Erde, mit der Geige als Zauberstab, erfunden hat, in keinem Augenblick des ungemein tiefsinnigen Gesprächs. Aber Menuhin begreift mitunter, daß auch er gemeint sein könnte. Trotz aller hartnäckigen Hoffnung, die ihn auf seinem Weg vorantreibt, bekennt er sich zu einer gewissen Illusionslosigkeit, als blicke er durch einen Riß seines Wolkenkuckucksheims für einen Augenblick auf die düstere Erde unter ihm: "Meine Pläne sind nie in die Tat umgesetzt worden. Aber ich fühle mich einfach für fünf Minuten besser, wenn ich darüber spreche . . . Die Tatsache, daß wir unser Leben auf ein Ideal ausrichten, ist bereits eine Form von Verrücktheit, da wir es zulassen, daß unsere alltäglichen Entscheidungen von einem völlig unwahrscheinlichen, ungreifbaren Motto oder Prinzip . . . gelenkt werden."
Die Konfrontation des intellektuellen Aufklärers Dubal, der manchmal den Demagogen spielt, und des von zuweilen ungenauen Intuitionen gelenkten Künstlers gibt den Gesprächen Spannung. Zwar weicht Menuhin bis zum Schluß des Buchs Dubals harten Wahrheiten höflich aus. Aber dem verehrungsvollen Resümee mit der relativierenden Spitze am Ende wird er nicht widersprechen können: "Sie waren einer der Glücklichen unseres Jahrhunderts, und Sie haben uns großzügig und freigebig etwas von Ihrer Kunst und Liebe geschenkt, aber man müßte eine ganze Armee von Menuhins aufstellen, um den Wolf in uns zu bändigen." ELLEN KOHLHAAS
Yehudi Menuhin: "Unterwegs". Erinnerungen 1976 bis 1995. Aus dem Englischen übersetzt von Inge Leipold. Piper Verlag, München 1996. 160 Seiten, geb., 34,- DM.
Yehudi Menuhin: "Die Freude liegt im Unvorhersehbaren". Gespräche mit David Dubal. Aus dem Englischen übersetzt von Inge Leipold. Piper Verlag, München 1996. 187 S., br., 17,90 DM.
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Memoiren und ein Interview: Bücher von und mit Yehudi Menuhin
Der Pianist Glenn Gould hat Yehudi Menuhin einmal aufgefordert, die kanadische Arktis zu besuchen. Das Ergebnis dieser fiktiven Expedition hat er in "Musical America" geschildert: "Ich (habe) keinen Zweifel, daß er mit einem Koffer voller ethnographischer Aufzeichnungen, dem Entwurf für ein verbessertes System der Eskimo-Stenographie und dem Manuskript eines Vortrags über die Ernährungsdefizite des Barren-Ground-Karibus zurückkehren wird." Sein verblüffend treffsicheres Kurzporträt des charismatischen Künstlers, Humanisten und Weltverbesserers Menuhin beendet Gould mit der Vermutung, Menuhin gehöre zu den seltenen Leuten, "die einmal im Gefühl der Menschen jenen einzigartigen Platz einnehmen könnten, der seit dem Tod Albert Schweitzers verwaist ist".
Eigentlich ist Menuhin lebenslang auf Expedition. Nicht zufällig heißt seine auflagenstarke Autobiographie von 1976 "Unvollendete Reise", und nicht von ungefähr nennen sich seine Erinnerungen von 1976 bis 1995 "Unterwegs". In ihrer Rastlosigkeit und Sprunghaftigkeit nähren die neuen Memoiren den Verdacht, der Musiker und Menschheitsbeglücker brauche sein ganzes Leben, um die Isolation seiner jungen Jahre aufzuholen. Seine Initiativen, Pläne und Projekte zur "Linderung menschlichen Elends" und "Mehrung des Glücks" sind inzwischen so unüberschaubar, daß Menuhin in Brüssel die "International Yehudi Menuhin Foundation" gründen mußte. Und der Leser wird den Verdacht nicht los, der gutherzige Künstler lasse sich für mehr oder minder löbliche Zwecke mißbrauchen.
Erinnerungssplitter aus der Kindheit, Reisen, subjektive Porträts von Orchestern, die der Geiger dirigiert hat, musikalische und weltpolitische Ansichten, Skizzen seiner bekanntesten Projekte, dazu Einblicke in Familienangelegenheiten und die Erfahrungen des Gesundheitsapostels - in diesem assoziativen Mosaik findet sich grundsätzlich wenig, was Menuhin nicht schon früher von sich gegeben hätte. Mit dem Eigensinn des ewigen Glückskindes oder des naiven Utopisten, der nicht einsehen kann, daß die Weltprobleme sich nicht mit einfachen Rezepten lösen lassen, hält Menuhin an seiner Idee eines völkerversöhnenden kulturellen Weltparlaments oder einer Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts nach dem Vorbild der Schweizer Kanton-Konföderation fest.
Gegenüber der "Unvollendeten Reise" hat der neue Rechenschaftsbericht als Fortsetzung des vorangegangenen natürlich den Vorzug der Aktualität. Und deutlicher als früher ist sich Menuhin bewußt geworden, daß er als privilegierter Künstler die gewalttätige Seite des Lebens meist nur aus sicherer Distanz erfahren hat, eingehüllt "in nichts als Anregung und Ansporn". Trotzdem ist Menuhin im Grunde der Träumer geblieben, der einst als Kind im Schlaf selig entrückt meinte, Frieden kehre auf Erden ein, "wenn ich nur die Bach-Chaconne einigermaßen gut spielen könnte, und zwar in der Sixtinischen Kapelle".
In den Interviews, die der New Yorker Pianist und Musikjournalist David Dubal über mehrere Jahre hin privat und öffentlich mit Menuhin führte und die 1991 in englischer Sprache erschienen, weitet sich das Themenspektrum zu einer fast globalen Erörterung von Kunst und Politik, Religion und Umwelt vom Beginn der Menschheit bis zur Gegenwart, die Dubal als Menuhins geistreich stimulierender, ergänzender und korrigierender advocatus diaboli als wahres Höllen-Szenario aufrollt. Im Kapitel "Über Musik und Musiker" porträtiert Menuhin plastisch einige Musiker aus seinem Bekanntenkreis: Bartók, Gould, Britten, Enescu.
Weiter zurückliegende Epochen im Schnellgang durch die Musikgeschichte bleiben jedoch seltsam ungenau und klischeebehaftet: der keusche Purcell, der mystische Bach, der nordisch-neblige Brahms, Händels Epoche als eine "selige Zeit" in wunderbarer Londoner Geborgenheit, Schubert als gefühlsintensiver Jugendlicher in "frischer, zarter Zeit", in der man im Feudalismus angeblich völlig unangefochten im "Wien der Wälder und der sauberen Luft" gelebt habe. Menuhins harmonisierendes Lieblingswort "wundervoll" oder "wunderbar", mit dem er die Musikgeschichte überschüttet, verstummt bei Arnold Schönberg: Mit ihm kann Menuhin so wenig anfangen, daß er durch Dubal überrascht zum ersten Mal von Schönberg als Maler und von dem berühmten Aufsatz "Brahms, der Fortschrittliche" hört.
Geiger dagegen, selbst weniger geläufige Barock-Größen, charakterisiert er treffend und lebendig: Hier ist Menuhin deutlich in seinem Element. Das Kapitel "Die Musik und das Leben" enthält einige verblüffende Einsichten Menuhins in die Genese seiner treuherzigen Zukunftsvisionen, wenn er auch nur selten Schlüsse daraus zieht. So hat er sich die "idealisierenden Augen eines Kindes", mit denen er im vermeintlich paradiesischen San Francisco aufwuchs, bis ins achte Lebensjahrzehnt bewahrt, und immer dort, wo die Umwelt heute zu weit von diesem Garten Eden entfernt ist, möchte er ihn helfend, lehrend, moralisierend oder appellierend wiederherstellen helfen. Und sein Einsatz für die Musik als Mittel zu Kommunikation und Völkerverständigung kompensiert den Mangel an konkreten menschlichen Kontakten während Kindheit und Jugend, als er von Privatlehrern statt in öffentlichen Schulen unterrichtet wurde.
Erst spät erlernte er die "Technik oder Gabe, Menschen richtig einzuschätzen". Noch heute kann er sich das Scheitern auch einiger seiner eigenen humanitären Ziele im politischen Machtgeschiebe schlichtweg nicht vorstellen, ebensowenig den keineswegs zimperlichen Imperialismus seines geliebten Großbritannien in Indien. Menuhin deutet sich in solchen Passagen der Interviews die Weltgeschichte so harmonistisch zurecht, daß Dubal wie ein strenger Lehrer eingreifen muß: "Ihre Vorliebe für die Engländer gerät der Geschichte in die Quere. Wie kann es unschuldige Imperialisten geben? Die Welt zahlt nach wie vor für Englands einstige Glorie."
Im Kapitel "Die Conditio humana", einem bunten Rösselspringen zwischen weltweiter Todessehnsucht als möglicher Ursache der Selbstvernichtung der Menschen und der Zerstörung ihrer Umwelt, zwischen Religion und Terrorismus, Zen-Buddhismus und Lärm, Drogen und Manipulation durch Werbung und Propaganda, holt Dubal zu seinem verbalen Untergangs-Inferno aus, in dem er auch Fernsehen und Rockmusik verteufelt. Mittendrin läßt Dubal, fein dosiert, Hinweise auf die mögliche Zwiespältigkeit, ja Gefährlichkeit eines weltumspannenden Helfersyndroms fallen: "Alles, das zu weit getrieben wird, (kann) ins Unheil umschlagen . . . Ideale machen mir angst. Eine Vorstellungskraft, die zu sehr in großer Kunst . . . aufgeht . . ., kann autistisch werden. Der Schrei auf den Straßen scheint . . . weniger mächtig, weniger wichtig als der Schrei in dem Buch."
Hat Menuhin, der den Schrei auf der Straße nicht kennenlernte, in seinem Lebensschützer-Idealismus den Schrei im Buch im Gedächtnis? So persönlich wird Dubal, der für Menuhin das treffende Bild von der ungewöhnlich erfüllten Lebensreise auf einem fliegenden Teppich hoch über allem Leid der Erde, mit der Geige als Zauberstab, erfunden hat, in keinem Augenblick des ungemein tiefsinnigen Gesprächs. Aber Menuhin begreift mitunter, daß auch er gemeint sein könnte. Trotz aller hartnäckigen Hoffnung, die ihn auf seinem Weg vorantreibt, bekennt er sich zu einer gewissen Illusionslosigkeit, als blicke er durch einen Riß seines Wolkenkuckucksheims für einen Augenblick auf die düstere Erde unter ihm: "Meine Pläne sind nie in die Tat umgesetzt worden. Aber ich fühle mich einfach für fünf Minuten besser, wenn ich darüber spreche . . . Die Tatsache, daß wir unser Leben auf ein Ideal ausrichten, ist bereits eine Form von Verrücktheit, da wir es zulassen, daß unsere alltäglichen Entscheidungen von einem völlig unwahrscheinlichen, ungreifbaren Motto oder Prinzip . . . gelenkt werden."
Die Konfrontation des intellektuellen Aufklärers Dubal, der manchmal den Demagogen spielt, und des von zuweilen ungenauen Intuitionen gelenkten Künstlers gibt den Gesprächen Spannung. Zwar weicht Menuhin bis zum Schluß des Buchs Dubals harten Wahrheiten höflich aus. Aber dem verehrungsvollen Resümee mit der relativierenden Spitze am Ende wird er nicht widersprechen können: "Sie waren einer der Glücklichen unseres Jahrhunderts, und Sie haben uns großzügig und freigebig etwas von Ihrer Kunst und Liebe geschenkt, aber man müßte eine ganze Armee von Menuhins aufstellen, um den Wolf in uns zu bändigen." ELLEN KOHLHAAS
Yehudi Menuhin: "Unterwegs". Erinnerungen 1976 bis 1995. Aus dem Englischen übersetzt von Inge Leipold. Piper Verlag, München 1996. 160 Seiten, geb., 34,- DM.
Yehudi Menuhin: "Die Freude liegt im Unvorhersehbaren". Gespräche mit David Dubal. Aus dem Englischen übersetzt von Inge Leipold. Piper Verlag, München 1996. 187 S., br., 17,90 DM.
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