Die Handlung des Romans führt von den 50er Jahren in die heutige Zeit und zurück, führt von New York durch die Weiten Amerikas bis in die Wüste Arizonas. Hauptpersonen sind Nick Shay, Manager in einer Müllentsorgungsfirma, und Klara Sax, eine Konzeptkünstlerin. Ihre Lebensläufe, ihre Erinnerungen verbinden sich mit einer Vielzahl von unvergeßlichen Figuren, fiktiven und historischen, mit politischen, sportlichen und künstlerischen Ereignissen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.11.1998Die hängenden Gärten der Unterwelt
Ein Monument aus Müll und Mythen: Don DeLillos großartiges Panorama unserer Epoche · Von Hubert Spiegel
Es fängt nicht gut an. Der Prolog zu diesem fast tausendseitigen Roman mit dem Titel "Unterwelt" trägt die Überschrift "Triumph des Todes", und an seinem Ende, auf der letzten der ersten siebzig Seiten, lesen wir einen Satz von alttestamentarischer Wucht und Entschlossenheit: "Alles fällt unauslöschlich der Vergangenheit anheim." Aber dieser Satz ist kein Menetekel der Vergänglichkeit, sondern ein Versprechen der Literatur. Denn er besagt auch, daß nichts verlorengeht, daß jedes Ereignis, jede Gefühlsregung und jeder Wimpernschlag registriert werden, "unauslöschlich". Wenn alles mit allem verbunden ist, wie es in diesem Roman mehr als einmal heißt, bedarf es nur eines Gliedes, um die ganze Kette in die Hand zu bekommen, die ganze "Sandkörnchenunendlichkeit der Dinge, die keiner zählen kann".
Vielleicht bedarf es solcher Sätze der Ermutigung, wenn ein Schriftsteller den Versuch unternimmt, das Panorama eines halben Jahrhunderts aus Mythen, Müll, Partikeln der Alltagssprache und zahllosen anderen Sandkörnern zusammenzutragen. "Unterwelt", der elfte Roman des amerikanischen Schriftstellers Don DeLillo, ist eine amerikanische Bestandsaufnahme der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts, die im Jahr 1951 beginnt und bis in die neunziger Jahre reicht. Das Buch ist eine Chronik des Kalten Krieges und der ehrgeizige Versuch, die Epoche der Nachkriegszeit in jenem Licht zu sehen, das keinen Schatten kennt und dessen Glanz heller ist als tausend Sonnen. Ein Licht, in dessen Schein man bei geschlossenen Augen die Knochen des eigenen Körpers sehen kann und dessen Glühen in den Körper fährt "wie die Berührung Gottes". Der große, endgültige Triumph des Todes, von dem der Prolog mit dem Titel des Gemäldes von Pieter Bruegel spricht, hat nicht stattgefunden. Der Atomkrieg wurde nicht geführt, aber die Angst vor der völligen Vernichtung durch die Bombe hat die Menschen nicht verlassen.
Der 3. Oktober 1951 ist kein Tag wie jeder andere: "Der Unterschied kommt, wenn der Ball geschlagen wird. Dann ist nichts mehr wie zuvor. Die Männer geraten in Bewegung, springen aus der Hocke auf, und alles gehorcht dem Kieselhüpfen des Balls, den Drehungen und Backspins und Luftströmungen. Es gibt Koeffizienten des Luftwiderstandes. Es gibt Rücktrittwirbel. Es gibt lauter Dinge, die unwiederholbar Anwendung finden, die Erinnerung der Muskeln, das Pumpen des Blutes, Staubpartikelchen, die Erzählung, die in den Zwischenräumen der offiziellen Spielberichterstattung gedeiht." Dieser Tag ist der Tag der Entscheidung. New York ist eine geteilte Stadt, denn die Giants spielen gegen die Dodgers, zwei New Yorker Mannschaften machen die Meisterschaft unter sich aus. Im Publikum sitzen Frank Sinatra und J. Edgar Hoover, der Chef des FBI. Ein farbiger Junge, ein vierzehnjähriger Schulschwänzer, der über das Drehkreuz am Eingang gesprungen ist, weil er das Geld für die Eintrittskarte nicht hat, sitzt zwischen weißen Männern in Anzügen auf der Tribüne. Denn erstaunlicherweise gibt es zwanzigtausend freie Plätze, als ob die Menschen sich scheuen würden, an diesem Tag, an dem die Sowjetunion eine Atombombe zünden wird, ihre Häuser zu verlassen. In der Bronx sitzt ein Sechzehnjähriger auf dem Dach des Hauses, um das Spiel im Radio zu verfolgen. Dieses Spiel "ändert nichts daran, wie du schläfst, dir das Gesicht wäschst oder dein Essen kaust. Es ändert nichts, nur dein Leben."Im Stadion trifft der Schläger aus Eschenholz auf einen Ball, dessen Umfang exakt der Größe des Kerns einer Atombombe entspricht, und am Ende seiner Flugbahn wird dieser Ball bei Nick Shay angekommen sein, dem Sechzehnjährigen aus der Bronx, der dann längst kein Sechzehnjähriger mehr sein wird, sondern ein Fachmann für Abfallbeseitigung, ein "Kosmologe des Mülls" von etwa vierzig Jahren.
Mit diesem furiosen Prolog, einer wahnwitzigen Kamerafahrt durch das Stadion und die Stadt, mit einem Wirbel aus Totalen und Nahaufnahmen, souverän geschnitten, hier beschleunigend, dort retardierend, die Allgegenwart des Erzählers behauptend und zugleich, im fliegenden Wechsel der Perspektiven, dementierend, hebt "Unterwelt" an. Es ist ein erzählerischer Auftakt, der lange nachwirkt. Nicht nur, weil die Figuren und Motive, die hier angesprochen werden, im Verlauf des Buches immer wieder zurückkehren, sondern auch, weil man lange nachdenken müßte, um sich an einen Roman zu erinnern, der mit ähnlicher Grandezza seinen Anfang nimmt. DeLillos Erzählweise ist filmisch auf eine Weise, die den Film in seine Schranken weist.
Nick Shay, der Junge auf dem Dach, ist die einzige unter den Stimmen dieses Romans, die aus der Ich-Perspektive erzählt. DeLillo spricht mit der Stimme von Nicks kleinem Bruder, der mit der Kunst des Schachspiels auch die Kunst des Verlierens erlernt. Er spricht mit der Stimme von Mattys Schachlehrer, der mit Klara Sax verheiratet war, der Frau, mit der Nick als Siebzehnjähriger eine Affäre hatte und die er viele Jahre später, als Klara längst eine berühmte Künstlerin ist, in der Wüste besucht, wo sie 230 ausrangierte B-52-Bomber nicht verpackt, sondern anmalt. In einem dieser Flugzeuge hat Chuck gesessen, als er Bomben über dem Ho-Tschi-Minh-Pfad abwarf und dabei an den längst verschwundenen Baseball dachte, den sein Vater in seine Obhut gegeben hatte, als er ein Junge war. In einer anderen der ausrangierten Maschinen sitzt der Richtschütze Louis Bakey, als viele tausend Fuß über dem Testgelände in Nevada eine Atombombe abgeworfen wird, deren Druckwelle die gigantische "Flying Fortress" durch die Luft wirbelt wie "ein Blatt an einem windigen Abend". Auf jedem Flug denkt Louis seither an die Skelette der Offiziere, die er im Lichtblitz tanzen sah.
DeLillo spricht mit der hellen Jungenstimme des vierzehnjährigen Cotter aus Harlem, und er spricht mit dem leisen Knistern der Stimmbänder des Baseballfetischisten Marvin Lundy aus Jersey. Der Junge hat den Ball, den Bobby Thomson nach Brancas Wurf zum spielentscheidenden Home Run in die Tribüne jagte, nach einem harten Kampf schließlich erobert und mit nach Hause genommen. Der Pensionär hat zweiundzwanzig Jahre damit verbracht, dieser Trophäe nachzujagen, die Liste ihrer Besitzer zu rekonstruieren, von dem Augenblick, da der Ball, vom Schlagholz getroffen, ins Publikum flog, bis zu dem Moment, da er in seiner eigenen Hand lag. Es ist wie bei allen Sammlerstücken: Die Provenienz muß lückenlos sein. Aber sie ist es nicht. Das drückt den Preis, es fügt der Aura des Balls einen Kratzer zu: ein winziger Kratzer nur auf der Oberfläche einer Lederkugel von 23 Zentimeter Umfang. Aber durch diesen Kratzer kann alles entweichen, was ein Vierteljahrhundert der Legenden und Gerüchte, der Jagd und der Träume zu einem Kern komprimiert hat, der sich ohne diesen Kratzer nicht spalten ließe.
Es ist nicht leicht zu beschreiben, wie DeLillo diese Motive verknüpft und wie er die Vielzahl der Stimmen vereint, wie er jeder einzelnen die ihr gemäße Melodie verleiht und die Figuren durch die Jahrzehnte lenkt, ihnen eine Entwicklung gibt und sie ihren Schicksalen zuführt. Die Lektüre dieses Buches gleicht dem Gang durch einen Irrgarten. Man spürt bei jedem Schritt und hinter jeder Abzweigung die geheime Architektur der Hecken und Wege, aber ihre Ordnung ließe sich nur aus großer Höhe ganz erfassen. Man könnte diesen Roman am Reißbrett lesen und viele Papierbögen mit Flugbahnen und Diagrammen füllen. Vermutlich wäre das sogar eine lohnende Beschäftigung. Wollte man alle Zusammenhänge und Anspielungen in diesem Roman notieren, brauchte man viele Karteikästen. Aber es bedarf mehr, um herauszufinden, mit welchem Magneten es DeLillo gelungen ist, nur jene Eisenspäne anzuziehen, die sich zu diesem Porträt einer waffenstarrenden, an Leib und Seele gepanzerten Epoche fügen ließen.
Neben die Bombe und den Baseball hat DeLillo noch ein drittes Leitmotiv gestellt, das seinen Roman durchzieht: den Müll. Wie in seinem früheren Roman "Weißes Rauschen" (deutsch 1987) und in "Die Versteigerung von Nr. 49", einem frühen Buch Thomas Pynchons, ist der Abfall das Signum der modernen Industriegesellschaft. Er ist der Gradmesser ihres Wohlstandes und das Menetekel ihrer Hybris. Die krude Schönheit der 230 Bomberflugzeuge im Wüstensand entspricht auf gewisse Weise der Ästhetik der gewaltigen Müllkippe, die auf Staten Island errichtet wird. Eine zwölf Quadratmeter große Aufschüttung namens "Fresh Kills", Science-fiction und Prähistorie zugleich, erbaut von Müllmanagern, Mitgliedern eines geheimen esoterischen Ordens, Eingeweihten und Sehern, "die an der Zukunft bauten, all die Städteplaner, Müllmanager, Komposttechniker und Landschaftsgestalter, die hier einmal hängende Gärten bauen, eines Tages einen Park aus allen möglichen gebrauchten und verlorenen und abgenutzten Objekten der Begierde erschaffen würden".
Der Epilog des Romans zeigt Nick Shay in der Sowjetunion, wo auf einem ehemaligen Atomwaffentestgelände Sondermüll jeglicher Art durch unterirdische Atomexplosionen beseitigt wird. Der Westen zahlt, damit der Osten die Überreste jenes Fortschritts beseitigt, der ihn in die Knie gezwungen hat. Auf der Fahrt im Jeep durch das Gelände sieht Nick Ruinen, Testsiedlungen, die damals in die Luft gejagt wurden. In den Regalen der Häuser, die noch stehen, lagern "Old-Dutch-Putzmittel und Rinso-White-Spüli, all die halb verlorenen Ikonen des alten Lebens". Der KGB hatte seinen Stolz dareingesetzt, eine bis ins Detail originalgetreue Kulisse für die Bombentests aufzubauen.
Nur dieses eine Mal verläßt der Roman Amerika, denn um nach Europa zu fahren und die Alte Welt zu sehen, muß DeLillo nicht den Ort, sondern nur die Zeit wechseln. Die Schilderung von Nick Shays Kindheit in der Bronx der fünfziger Jahre wird zur Beschwörung einer verlorenen Welt, in der Einwanderer aus Italien und vielen anderen Ländern die Sitten und Gebräuche ihrer Heimat aufrechterhalten, für eine kurze Weile noch. Nie zuvor hat DeLillo, der 1936 als Sohn italienischer Einwanderer in der Bronx geboren wurde, so unverhüllt autobiographisch geschrieben, so sinnlich die Welt beschrieben, aus der er stammt.
Kann man einem Roman von tausend Seiten Umfang eine strenge Ökonomie bescheinigen, kann man ihn detailbesessen, sinnlich und schlank zugleich nennen? DeLillo ist ein nüchterner Beobachter, ein Dokumentarist des Alltagslebens, mit einem begnadeten Blick für die aussagekräftige Kleinigkeit, deren Nennung ein ganzes Milieu evoziert. Wie William Gaddis, mit dessen großen Romanen "JR" und "Letzte Instanz" sich "Unterwelt" nicht nur im Umfang messen kann, ist dieser Autor ein Meister der Stimmenimitation. In den Dialogen seiner Figuren zeigt sich ein sprachmimetisches Vermögen, das in wenigen Sätzen Zeit und Ort eines Gespräches zu definieren versteht. DeLillos ungemein wandelbare Sprache macht die Lektüre dieses Romans zu einem Erlebnis. In seinen früheren Büchern hat DeLillo den unerträglichen Lärm dieser Epoche beschrieben und das "weiße Rauschen" der Bildschirme, vor denen sich unsere Mediengesellschaft betäubt. Er ist dem amerikanischen Albtraum nachgegangen, der Ermordung Kennedys und der Vorliebe seiner Landsleute für Verschwörungstheorien ("Sieben Sekunden", deutsch 1988).
In der Abenddämmerung dieses Jahrhunderts hat er einen Blick zurückgeworfen auf die Epoche des Kalten Krieges, in der die Furcht auf den Lehrplänen stand. Neben William Gaddis und Thomas Pynchon ist Don DeLillo der dritte große amerikanische Schriftsteller am Ende dieses Jahrhunderts.
Don DeLillo: "Unterwelt". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Frank Heibert. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998. 973 S., geb., 54,-DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Monument aus Müll und Mythen: Don DeLillos großartiges Panorama unserer Epoche · Von Hubert Spiegel
Es fängt nicht gut an. Der Prolog zu diesem fast tausendseitigen Roman mit dem Titel "Unterwelt" trägt die Überschrift "Triumph des Todes", und an seinem Ende, auf der letzten der ersten siebzig Seiten, lesen wir einen Satz von alttestamentarischer Wucht und Entschlossenheit: "Alles fällt unauslöschlich der Vergangenheit anheim." Aber dieser Satz ist kein Menetekel der Vergänglichkeit, sondern ein Versprechen der Literatur. Denn er besagt auch, daß nichts verlorengeht, daß jedes Ereignis, jede Gefühlsregung und jeder Wimpernschlag registriert werden, "unauslöschlich". Wenn alles mit allem verbunden ist, wie es in diesem Roman mehr als einmal heißt, bedarf es nur eines Gliedes, um die ganze Kette in die Hand zu bekommen, die ganze "Sandkörnchenunendlichkeit der Dinge, die keiner zählen kann".
Vielleicht bedarf es solcher Sätze der Ermutigung, wenn ein Schriftsteller den Versuch unternimmt, das Panorama eines halben Jahrhunderts aus Mythen, Müll, Partikeln der Alltagssprache und zahllosen anderen Sandkörnern zusammenzutragen. "Unterwelt", der elfte Roman des amerikanischen Schriftstellers Don DeLillo, ist eine amerikanische Bestandsaufnahme der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts, die im Jahr 1951 beginnt und bis in die neunziger Jahre reicht. Das Buch ist eine Chronik des Kalten Krieges und der ehrgeizige Versuch, die Epoche der Nachkriegszeit in jenem Licht zu sehen, das keinen Schatten kennt und dessen Glanz heller ist als tausend Sonnen. Ein Licht, in dessen Schein man bei geschlossenen Augen die Knochen des eigenen Körpers sehen kann und dessen Glühen in den Körper fährt "wie die Berührung Gottes". Der große, endgültige Triumph des Todes, von dem der Prolog mit dem Titel des Gemäldes von Pieter Bruegel spricht, hat nicht stattgefunden. Der Atomkrieg wurde nicht geführt, aber die Angst vor der völligen Vernichtung durch die Bombe hat die Menschen nicht verlassen.
Der 3. Oktober 1951 ist kein Tag wie jeder andere: "Der Unterschied kommt, wenn der Ball geschlagen wird. Dann ist nichts mehr wie zuvor. Die Männer geraten in Bewegung, springen aus der Hocke auf, und alles gehorcht dem Kieselhüpfen des Balls, den Drehungen und Backspins und Luftströmungen. Es gibt Koeffizienten des Luftwiderstandes. Es gibt Rücktrittwirbel. Es gibt lauter Dinge, die unwiederholbar Anwendung finden, die Erinnerung der Muskeln, das Pumpen des Blutes, Staubpartikelchen, die Erzählung, die in den Zwischenräumen der offiziellen Spielberichterstattung gedeiht." Dieser Tag ist der Tag der Entscheidung. New York ist eine geteilte Stadt, denn die Giants spielen gegen die Dodgers, zwei New Yorker Mannschaften machen die Meisterschaft unter sich aus. Im Publikum sitzen Frank Sinatra und J. Edgar Hoover, der Chef des FBI. Ein farbiger Junge, ein vierzehnjähriger Schulschwänzer, der über das Drehkreuz am Eingang gesprungen ist, weil er das Geld für die Eintrittskarte nicht hat, sitzt zwischen weißen Männern in Anzügen auf der Tribüne. Denn erstaunlicherweise gibt es zwanzigtausend freie Plätze, als ob die Menschen sich scheuen würden, an diesem Tag, an dem die Sowjetunion eine Atombombe zünden wird, ihre Häuser zu verlassen. In der Bronx sitzt ein Sechzehnjähriger auf dem Dach des Hauses, um das Spiel im Radio zu verfolgen. Dieses Spiel "ändert nichts daran, wie du schläfst, dir das Gesicht wäschst oder dein Essen kaust. Es ändert nichts, nur dein Leben."Im Stadion trifft der Schläger aus Eschenholz auf einen Ball, dessen Umfang exakt der Größe des Kerns einer Atombombe entspricht, und am Ende seiner Flugbahn wird dieser Ball bei Nick Shay angekommen sein, dem Sechzehnjährigen aus der Bronx, der dann längst kein Sechzehnjähriger mehr sein wird, sondern ein Fachmann für Abfallbeseitigung, ein "Kosmologe des Mülls" von etwa vierzig Jahren.
Mit diesem furiosen Prolog, einer wahnwitzigen Kamerafahrt durch das Stadion und die Stadt, mit einem Wirbel aus Totalen und Nahaufnahmen, souverän geschnitten, hier beschleunigend, dort retardierend, die Allgegenwart des Erzählers behauptend und zugleich, im fliegenden Wechsel der Perspektiven, dementierend, hebt "Unterwelt" an. Es ist ein erzählerischer Auftakt, der lange nachwirkt. Nicht nur, weil die Figuren und Motive, die hier angesprochen werden, im Verlauf des Buches immer wieder zurückkehren, sondern auch, weil man lange nachdenken müßte, um sich an einen Roman zu erinnern, der mit ähnlicher Grandezza seinen Anfang nimmt. DeLillos Erzählweise ist filmisch auf eine Weise, die den Film in seine Schranken weist.
Nick Shay, der Junge auf dem Dach, ist die einzige unter den Stimmen dieses Romans, die aus der Ich-Perspektive erzählt. DeLillo spricht mit der Stimme von Nicks kleinem Bruder, der mit der Kunst des Schachspiels auch die Kunst des Verlierens erlernt. Er spricht mit der Stimme von Mattys Schachlehrer, der mit Klara Sax verheiratet war, der Frau, mit der Nick als Siebzehnjähriger eine Affäre hatte und die er viele Jahre später, als Klara längst eine berühmte Künstlerin ist, in der Wüste besucht, wo sie 230 ausrangierte B-52-Bomber nicht verpackt, sondern anmalt. In einem dieser Flugzeuge hat Chuck gesessen, als er Bomben über dem Ho-Tschi-Minh-Pfad abwarf und dabei an den längst verschwundenen Baseball dachte, den sein Vater in seine Obhut gegeben hatte, als er ein Junge war. In einer anderen der ausrangierten Maschinen sitzt der Richtschütze Louis Bakey, als viele tausend Fuß über dem Testgelände in Nevada eine Atombombe abgeworfen wird, deren Druckwelle die gigantische "Flying Fortress" durch die Luft wirbelt wie "ein Blatt an einem windigen Abend". Auf jedem Flug denkt Louis seither an die Skelette der Offiziere, die er im Lichtblitz tanzen sah.
DeLillo spricht mit der hellen Jungenstimme des vierzehnjährigen Cotter aus Harlem, und er spricht mit dem leisen Knistern der Stimmbänder des Baseballfetischisten Marvin Lundy aus Jersey. Der Junge hat den Ball, den Bobby Thomson nach Brancas Wurf zum spielentscheidenden Home Run in die Tribüne jagte, nach einem harten Kampf schließlich erobert und mit nach Hause genommen. Der Pensionär hat zweiundzwanzig Jahre damit verbracht, dieser Trophäe nachzujagen, die Liste ihrer Besitzer zu rekonstruieren, von dem Augenblick, da der Ball, vom Schlagholz getroffen, ins Publikum flog, bis zu dem Moment, da er in seiner eigenen Hand lag. Es ist wie bei allen Sammlerstücken: Die Provenienz muß lückenlos sein. Aber sie ist es nicht. Das drückt den Preis, es fügt der Aura des Balls einen Kratzer zu: ein winziger Kratzer nur auf der Oberfläche einer Lederkugel von 23 Zentimeter Umfang. Aber durch diesen Kratzer kann alles entweichen, was ein Vierteljahrhundert der Legenden und Gerüchte, der Jagd und der Träume zu einem Kern komprimiert hat, der sich ohne diesen Kratzer nicht spalten ließe.
Es ist nicht leicht zu beschreiben, wie DeLillo diese Motive verknüpft und wie er die Vielzahl der Stimmen vereint, wie er jeder einzelnen die ihr gemäße Melodie verleiht und die Figuren durch die Jahrzehnte lenkt, ihnen eine Entwicklung gibt und sie ihren Schicksalen zuführt. Die Lektüre dieses Buches gleicht dem Gang durch einen Irrgarten. Man spürt bei jedem Schritt und hinter jeder Abzweigung die geheime Architektur der Hecken und Wege, aber ihre Ordnung ließe sich nur aus großer Höhe ganz erfassen. Man könnte diesen Roman am Reißbrett lesen und viele Papierbögen mit Flugbahnen und Diagrammen füllen. Vermutlich wäre das sogar eine lohnende Beschäftigung. Wollte man alle Zusammenhänge und Anspielungen in diesem Roman notieren, brauchte man viele Karteikästen. Aber es bedarf mehr, um herauszufinden, mit welchem Magneten es DeLillo gelungen ist, nur jene Eisenspäne anzuziehen, die sich zu diesem Porträt einer waffenstarrenden, an Leib und Seele gepanzerten Epoche fügen ließen.
Neben die Bombe und den Baseball hat DeLillo noch ein drittes Leitmotiv gestellt, das seinen Roman durchzieht: den Müll. Wie in seinem früheren Roman "Weißes Rauschen" (deutsch 1987) und in "Die Versteigerung von Nr. 49", einem frühen Buch Thomas Pynchons, ist der Abfall das Signum der modernen Industriegesellschaft. Er ist der Gradmesser ihres Wohlstandes und das Menetekel ihrer Hybris. Die krude Schönheit der 230 Bomberflugzeuge im Wüstensand entspricht auf gewisse Weise der Ästhetik der gewaltigen Müllkippe, die auf Staten Island errichtet wird. Eine zwölf Quadratmeter große Aufschüttung namens "Fresh Kills", Science-fiction und Prähistorie zugleich, erbaut von Müllmanagern, Mitgliedern eines geheimen esoterischen Ordens, Eingeweihten und Sehern, "die an der Zukunft bauten, all die Städteplaner, Müllmanager, Komposttechniker und Landschaftsgestalter, die hier einmal hängende Gärten bauen, eines Tages einen Park aus allen möglichen gebrauchten und verlorenen und abgenutzten Objekten der Begierde erschaffen würden".
Der Epilog des Romans zeigt Nick Shay in der Sowjetunion, wo auf einem ehemaligen Atomwaffentestgelände Sondermüll jeglicher Art durch unterirdische Atomexplosionen beseitigt wird. Der Westen zahlt, damit der Osten die Überreste jenes Fortschritts beseitigt, der ihn in die Knie gezwungen hat. Auf der Fahrt im Jeep durch das Gelände sieht Nick Ruinen, Testsiedlungen, die damals in die Luft gejagt wurden. In den Regalen der Häuser, die noch stehen, lagern "Old-Dutch-Putzmittel und Rinso-White-Spüli, all die halb verlorenen Ikonen des alten Lebens". Der KGB hatte seinen Stolz dareingesetzt, eine bis ins Detail originalgetreue Kulisse für die Bombentests aufzubauen.
Nur dieses eine Mal verläßt der Roman Amerika, denn um nach Europa zu fahren und die Alte Welt zu sehen, muß DeLillo nicht den Ort, sondern nur die Zeit wechseln. Die Schilderung von Nick Shays Kindheit in der Bronx der fünfziger Jahre wird zur Beschwörung einer verlorenen Welt, in der Einwanderer aus Italien und vielen anderen Ländern die Sitten und Gebräuche ihrer Heimat aufrechterhalten, für eine kurze Weile noch. Nie zuvor hat DeLillo, der 1936 als Sohn italienischer Einwanderer in der Bronx geboren wurde, so unverhüllt autobiographisch geschrieben, so sinnlich die Welt beschrieben, aus der er stammt.
Kann man einem Roman von tausend Seiten Umfang eine strenge Ökonomie bescheinigen, kann man ihn detailbesessen, sinnlich und schlank zugleich nennen? DeLillo ist ein nüchterner Beobachter, ein Dokumentarist des Alltagslebens, mit einem begnadeten Blick für die aussagekräftige Kleinigkeit, deren Nennung ein ganzes Milieu evoziert. Wie William Gaddis, mit dessen großen Romanen "JR" und "Letzte Instanz" sich "Unterwelt" nicht nur im Umfang messen kann, ist dieser Autor ein Meister der Stimmenimitation. In den Dialogen seiner Figuren zeigt sich ein sprachmimetisches Vermögen, das in wenigen Sätzen Zeit und Ort eines Gespräches zu definieren versteht. DeLillos ungemein wandelbare Sprache macht die Lektüre dieses Romans zu einem Erlebnis. In seinen früheren Büchern hat DeLillo den unerträglichen Lärm dieser Epoche beschrieben und das "weiße Rauschen" der Bildschirme, vor denen sich unsere Mediengesellschaft betäubt. Er ist dem amerikanischen Albtraum nachgegangen, der Ermordung Kennedys und der Vorliebe seiner Landsleute für Verschwörungstheorien ("Sieben Sekunden", deutsch 1988).
In der Abenddämmerung dieses Jahrhunderts hat er einen Blick zurückgeworfen auf die Epoche des Kalten Krieges, in der die Furcht auf den Lehrplänen stand. Neben William Gaddis und Thomas Pynchon ist Don DeLillo der dritte große amerikanische Schriftsteller am Ende dieses Jahrhunderts.
Don DeLillo: "Unterwelt". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Frank Heibert. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998. 973 S., geb., 54,-DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Durch DeLilos virtuose Poesie wird Unterwelt zu einem monumentalen Werk, das zum Nachdenken anregt.« fluter 20130513