Die Liebe in den Zeiten moderner Kommunikationstechnologie
Er ist Leiter des Stilressorts einer großen deutschen Wochenzeitung, sie eine Philosophin. Bei einem gemeinsamen Bekannten begegnen sie sich am Bücherregal, entdecken ihre gemeinsame Liebe zum antiken Philosophen Plotin - und dann ist nichts mehr, wie es war, nur sie leider immer noch verheiratet. Joachim Bessing schreibt in seinem zweiten Roman über die Liebe. Wie man da reingerät, was einen dort hält, warum man nicht mehr rauskommt. Sein Held, der all der Schauen, Events und Reiserei längst überdrüssig ist, will eigentlich endlich seinen Roman mit dem Titel »Der Mann, der bei der Welt am Sonntag Joachim Bessing war« zu Ende schreiben. Stattdessen stürzt er sich in die größte Liebe seines Lebens, die aber fast ausschließlich in E-Mails, SMS und Bildnachrichten stattfindet. Intensiver geht es kaum, komplizierter mit Sicherheit nicht, denn sie liebt ihn auch, will aber auf keinen Fall ihren Mann verlassen. Und so entwickelt sich der Reiz des Geheimnisses schnell zum Fluch. Mit diesem Roman ist Joachim Bessing ganz nah dran an der Gegenwart. Wie körperlich kann und muss Liebe noch sein, wie innig kann man sich mitteilen, wie nah kann man sich kommen? »Untitled« zeigt, wie es geht und trotzdem nicht klappt.
Er ist Leiter des Stilressorts einer großen deutschen Wochenzeitung, sie eine Philosophin. Bei einem gemeinsamen Bekannten begegnen sie sich am Bücherregal, entdecken ihre gemeinsame Liebe zum antiken Philosophen Plotin - und dann ist nichts mehr, wie es war, nur sie leider immer noch verheiratet. Joachim Bessing schreibt in seinem zweiten Roman über die Liebe. Wie man da reingerät, was einen dort hält, warum man nicht mehr rauskommt. Sein Held, der all der Schauen, Events und Reiserei längst überdrüssig ist, will eigentlich endlich seinen Roman mit dem Titel »Der Mann, der bei der Welt am Sonntag Joachim Bessing war« zu Ende schreiben. Stattdessen stürzt er sich in die größte Liebe seines Lebens, die aber fast ausschließlich in E-Mails, SMS und Bildnachrichten stattfindet. Intensiver geht es kaum, komplizierter mit Sicherheit nicht, denn sie liebt ihn auch, will aber auf keinen Fall ihren Mann verlassen. Und so entwickelt sich der Reiz des Geheimnisses schnell zum Fluch. Mit diesem Roman ist Joachim Bessing ganz nah dran an der Gegenwart. Wie körperlich kann und muss Liebe noch sein, wie innig kann man sich mitteilen, wie nah kann man sich kommen? »Untitled« zeigt, wie es geht und trotzdem nicht klappt.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
"Wo bleiben die Hymnen, die großen Rezensionen?", wundert sich Rainald Goetz über die verhaltene Resonanz auf Joachim Bessings Roman "untitled" und verfasst kurzerhand selbst eine. Was andere Kritiker dem Roman vorwerfen, sieht der Rezensent als Stärke, die simple Story etwa, die Selbstbezogenheit oder generell die geäußerten Ansichten, von denen einige natürlich "kompletter Unsinn" sind, wie Goetz freimütig zugibt - aber genau darin, "dass man mit dem Buch und seinem Autor dauernd streitet", besteht für ihn ein besonderer Reiz des Romans. "Heiter und hell, verdrogt, abgerissen und verkommen und, am allerschönsten, unfassbar zeitgenössisch" sei dieses Buch, schwärmt der begeisterte Rezensent und verspricht, dass ganz am Ende sogar noch eine unerwartete Wendung wartet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.04.2013Im Gefängnis der Freiheit
Joachim Bessing erzählt vom Wahnsinn der Liebe
Von Helene Hegemann
Der neue Roman von Joachim Bessing heißt "untitled". "Untitled" ist der Name des Parfums, das der Protagonist einer Frau schenkt, in die er, ohne überhaupt mit ihr geschlafen zu haben, so fundamental verliebt ist, dass er einen gänzlich unkapitalistischen Akt begeht. Er macht sein Leben von einer unerreichbaren (weil in den Ruinen einer langjährigen Beziehung festgebackenen) geliebten Person abhängig, vollständig und ohne etwas dafür zurückzufordern. Die eingegangenen Risiken, seine Mühen, seine Entgleisungen, haben keinen Mehrwert. Dieser Mann kämpft um jemanden, gegen den er nur verlieren kann. Und zwar in einer Art geistig verwirrter Klarheit, die ziemlich weit über das hinausgeht, was in einer Gesellschaft, die ihre Liebesvorstellungen von den in vergangenen Jahrhunderten gedichteten Leidenschaftsphantasien geifernder Lustgreise oder reaktivierten Vernunftsehestandards abhängig macht, normalerweise aufgeschrieben wird.
Es gibt mehrere Möglichkeiten, mit dem brutalen Wahnsinn einer nicht lebbaren Liebe umzugehen. Man lässt den Wahnsinn entweder gar nicht erst zustande kommen, strampelt seine Wut auf einem Powerbike im Fitnesscenter ab, road to nowhere, oder redet sich in einer weitverbreiteten "I have no lover in my life because I am too much myself"-Manier ein, dass Menschen, die einen in zerstörerische Abgründe stürzen, die Liebe nicht wert sind. Man verzichtet somit auf einen Erfahrungswert und entscheidet sich, gesund zu bleiben. Wenn diese Normalisierungsmechanismen nicht mehr greifbar sind, weil das liebende Subjekt bereits zu tief in der Scheiße steckt, bleibt ihm, um nicht unterzugehen, vielleicht nur eine Möglichkeit: Das Elend von sich abzuspalten. Das Elend in eine Art hochspezialisierte emotionsgeführte Feinmechanik zu verwandeln, mit der man Extremerfahrungen aufschreiben, anderen zugänglich machen und ihnen, wenn man talentiert genug ist, höchst unterhaltsame Episoden abgewinnen kann. Mit diesem Satz will ich dem Autor nicht unterstellen, dass sein Roman auf seinem eigenen, von Künstlern permanent eingeforderten Elendsdelirium beruht. Viel wahrscheinlicher und cooler ist, dass er sowohl sich als auch die Menschen, die das Buch bisher gelesen haben, vom Skript des eigenen Lebens befreien konnte. Den unmittelbaren, teils unfassbar langweiligen, weil redundanten Verlauf dessen, was wir die große Liebe nennen, worauf wir uns einigen zu können glauben, obwohl wir gleichzeitig wissen, dass keine Liebesgeschichte einer anderen gleicht, hat er zur Struktur eines unterhaltsamen und teilweise niederschmetternden Romans gemacht. Eine Art drohender Donnerkeil der Ausweglosigkeit schwebt über allem wie der überdimensionale Schatten eines Monsters in Horrorfilmen. Keine Sekunde ist es möglich, sich als Leser einzureden, dass es zu dieser unglücklichen Verliebtheit eine gesündere Alternative gäbe. Das Metier, in dem die Story spielt, ist dabei nur deshalb erwähnenswert, weil es eine gewisse Freiheit ermöglicht, in der sich der Protagonist diesem Wahnsinn überhaupt hingeben kann. Die spezielle Berliner-Journalismus-plus-irgendwas-mit-Kunst-Szenerie, Lokalprominenz, gerne wird im "Kronengrill" diniert, einem Bordellhafen-Restaurant, in dem Abende mit einem "guten Glas Spätburgunder" beginnen und in intellektuell zerfahrenen Partyorgien enden.
SMS von Romeo
Zwischendurch hängt unser Antiheld plötzlich auch im Ausland rum, wird bei einem Abendessen neben Gwyneth Paltrow gesetzt oder lästert mit gleichsam durchgeballerten Kumpels auf Highclass-Drogenpartys darüber, dass Anna Wintour, die sich grade ebenfalls in der Nähe aufhält, nur sehr selten blinzelt - das Tolle ist, dass die Schilderungen solcher Nebenschauplätze keine Pointe abwerfen außer die, dass die einzige sich wahr und real anfühlende seiner Handlungen darin besteht, sich den kompletten Abend auf dem Klo einzuschließen, seinen Beruf, seine Freunde und sein prominentes schillerndes Umfeld an sich vorbeiziehen zu lassen und mit einer Person, die durch ihre bloße Existenz sein komplettes Verhältnis zur Welt entkräftet, die grade im selben Flanellhemd wie er selbst, 6000 km entfernt, auf dem Sofa sitzt und dort auf ihren offiziellen Lebensabschnittspartner wartet (der gleich nach Hause kommen wird), mit einer Person also, die eigentlich keine seiner Bemühungen rechtfertigt, über Lapalien zu telefonieren. Die beiden ballern sich aus absurdesten Entfernungen mit SMS, Youtube-Videos, Musik und E-Mails zu. Und das wird nicht niedergeschrieben als Medientheoretisch angehauchte Beispielabhandlung dessen, was moderne Kommunikation mit uns macht. Sondern als die gleiche Intensität, mit der Romeo einst vor Julias Balkon stand - die heutzutage allerdings schon in einer sphärischen Halbnähe herstellbar ist, die der verliebte Mensch, auf einem anderen Kontinent, zu deuten gezwungen ist, obwohl er sie eigentlich gar nicht deuten kann. Wenn extreme permanente Vernetztheit unsere heutigen Liebeserfahrungen von denen vergangener Generationen unterscheidet, dann durch die tiefgreifende Mutation des sogenannten mindfucks. Und dessen Schilderung in "untitled" ist zwar teilweise nervig, aber so detailliert, dass sich jeder Mensch, der mal länger als zwanzig Minuten auf die unterkomplexe Kurznachricht irgendeines love interests gewartet hat, mit ihr befassen sollte.
Außerdem hochinteressant, diese Abarbeitung an Freiheit im, bla, Kapitalismus. Wir haben hier einen Helden, der in seinem Leben nicht an zu erfüllende Standards gebunden ist, der sich, wenn er verliebt ist, innerhalb von wenigen Stunden aus seiner bisherigen Beziehung lösen oder nach Australien reisen kann, der im Laufe der Story einen schweren Unfall hat, der sein komplettes Arbeitsumfeld hinter sich lässt, weil er sich im Rahmen eines extrem starken, seinen eigenen Stolz in die Tonne tretenden moves dazu entscheidet, sich jemandem vollständig hinzugeben. Seine einzige Beschränkung ist die größte, der man zum Opfer fallen kann, sie besteht im Mangel an Freiheit der geliebten Person. Die entweder nicht verliebt genug oder zu sehr an objektiv abzunickender Sicherheit interessiert ist, um sich aus ihrer Langeweilebeziehung zu lösen. Mit dieser Begrenztheit übt sie eine Macht aus, die die eigene Freiheit zu einem Gefängnis macht.
In Feigheit vereint
Es ist natürlich auch völlig egal, was der Freundeskreis zu diesem realitätsfernen Gefängnis sagt. Obwohl sich der Freundeskreis der Hauptfigur aus linken, gut situierten Villenbesitzern im Grunewald und hysterischen Intellektuellomodels in Fashionmetropolen zusammensetzt, dementsprechend sehr viele verschiedene Erfahrungswerte, mit deren Hilfe man sich zurück in die normale Welt retten könnte, abdeckt. Zwischendurch sagt eine Freundin mal zur Beruhigung "It's only love". Man will dieses Statement für den Rest der Lektüre mantraähnlich nachbrabbeln, weil es gleichzeitig so richtig und so falsch ist.
Man muss Bücher lesen von Menschen, die bereit dazu sind, über gesellschaftlich akzeptierte Grenzen hinauszugehen - nicht weil Leidensdruck Leute zu guten Künstlern macht, sondern weil die von anderen durchlebten psychischen Brüche, sobald sie externalisiert, weil aufgeschrieben wurden, uns alle in unserer Feigheit vereinen können.
Was bestimmte Kritiker, die ihr Hauptaugenmerk tatsächlich nur darauf legen, dieses Buch mit dem Wort "Popliteratur" zu neutralisieren oder damit, dass an ein paar stellen das Wort "iphone" vorkommt, scheinbar nicht wissen.
Man muss diesen Text als ernsthafte Lebensrealität lesen und aufnehmen, danach kann man immer noch aufstehen, nach Hause gehen, kognitive Neurowissenschaften studieren und so tun, als dürfe Liebe nicht weh tun. Ich bin froh darüber, dass es dieses Buch gibt. Es bringt (man möchte fast sagen auf eine nonchalante Art und Weise) das auf den Punkt, was Neil Young einst mit der Songzeile "I FOUND MYSELF SINGING LIKE A LONG LOST FRIEND: the same thing, that makes you LIVE can kill you IN THE END" gemeint hat. Außerdem guckt man es ziemlich gerne an, weil es ein hübsches Cover hat.
Joachim Bessing: "untitled". Kiepenheuer & Witsch, 304 Seiten, 19,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Joachim Bessing erzählt vom Wahnsinn der Liebe
Von Helene Hegemann
Der neue Roman von Joachim Bessing heißt "untitled". "Untitled" ist der Name des Parfums, das der Protagonist einer Frau schenkt, in die er, ohne überhaupt mit ihr geschlafen zu haben, so fundamental verliebt ist, dass er einen gänzlich unkapitalistischen Akt begeht. Er macht sein Leben von einer unerreichbaren (weil in den Ruinen einer langjährigen Beziehung festgebackenen) geliebten Person abhängig, vollständig und ohne etwas dafür zurückzufordern. Die eingegangenen Risiken, seine Mühen, seine Entgleisungen, haben keinen Mehrwert. Dieser Mann kämpft um jemanden, gegen den er nur verlieren kann. Und zwar in einer Art geistig verwirrter Klarheit, die ziemlich weit über das hinausgeht, was in einer Gesellschaft, die ihre Liebesvorstellungen von den in vergangenen Jahrhunderten gedichteten Leidenschaftsphantasien geifernder Lustgreise oder reaktivierten Vernunftsehestandards abhängig macht, normalerweise aufgeschrieben wird.
Es gibt mehrere Möglichkeiten, mit dem brutalen Wahnsinn einer nicht lebbaren Liebe umzugehen. Man lässt den Wahnsinn entweder gar nicht erst zustande kommen, strampelt seine Wut auf einem Powerbike im Fitnesscenter ab, road to nowhere, oder redet sich in einer weitverbreiteten "I have no lover in my life because I am too much myself"-Manier ein, dass Menschen, die einen in zerstörerische Abgründe stürzen, die Liebe nicht wert sind. Man verzichtet somit auf einen Erfahrungswert und entscheidet sich, gesund zu bleiben. Wenn diese Normalisierungsmechanismen nicht mehr greifbar sind, weil das liebende Subjekt bereits zu tief in der Scheiße steckt, bleibt ihm, um nicht unterzugehen, vielleicht nur eine Möglichkeit: Das Elend von sich abzuspalten. Das Elend in eine Art hochspezialisierte emotionsgeführte Feinmechanik zu verwandeln, mit der man Extremerfahrungen aufschreiben, anderen zugänglich machen und ihnen, wenn man talentiert genug ist, höchst unterhaltsame Episoden abgewinnen kann. Mit diesem Satz will ich dem Autor nicht unterstellen, dass sein Roman auf seinem eigenen, von Künstlern permanent eingeforderten Elendsdelirium beruht. Viel wahrscheinlicher und cooler ist, dass er sowohl sich als auch die Menschen, die das Buch bisher gelesen haben, vom Skript des eigenen Lebens befreien konnte. Den unmittelbaren, teils unfassbar langweiligen, weil redundanten Verlauf dessen, was wir die große Liebe nennen, worauf wir uns einigen zu können glauben, obwohl wir gleichzeitig wissen, dass keine Liebesgeschichte einer anderen gleicht, hat er zur Struktur eines unterhaltsamen und teilweise niederschmetternden Romans gemacht. Eine Art drohender Donnerkeil der Ausweglosigkeit schwebt über allem wie der überdimensionale Schatten eines Monsters in Horrorfilmen. Keine Sekunde ist es möglich, sich als Leser einzureden, dass es zu dieser unglücklichen Verliebtheit eine gesündere Alternative gäbe. Das Metier, in dem die Story spielt, ist dabei nur deshalb erwähnenswert, weil es eine gewisse Freiheit ermöglicht, in der sich der Protagonist diesem Wahnsinn überhaupt hingeben kann. Die spezielle Berliner-Journalismus-plus-irgendwas-mit-Kunst-Szenerie, Lokalprominenz, gerne wird im "Kronengrill" diniert, einem Bordellhafen-Restaurant, in dem Abende mit einem "guten Glas Spätburgunder" beginnen und in intellektuell zerfahrenen Partyorgien enden.
SMS von Romeo
Zwischendurch hängt unser Antiheld plötzlich auch im Ausland rum, wird bei einem Abendessen neben Gwyneth Paltrow gesetzt oder lästert mit gleichsam durchgeballerten Kumpels auf Highclass-Drogenpartys darüber, dass Anna Wintour, die sich grade ebenfalls in der Nähe aufhält, nur sehr selten blinzelt - das Tolle ist, dass die Schilderungen solcher Nebenschauplätze keine Pointe abwerfen außer die, dass die einzige sich wahr und real anfühlende seiner Handlungen darin besteht, sich den kompletten Abend auf dem Klo einzuschließen, seinen Beruf, seine Freunde und sein prominentes schillerndes Umfeld an sich vorbeiziehen zu lassen und mit einer Person, die durch ihre bloße Existenz sein komplettes Verhältnis zur Welt entkräftet, die grade im selben Flanellhemd wie er selbst, 6000 km entfernt, auf dem Sofa sitzt und dort auf ihren offiziellen Lebensabschnittspartner wartet (der gleich nach Hause kommen wird), mit einer Person also, die eigentlich keine seiner Bemühungen rechtfertigt, über Lapalien zu telefonieren. Die beiden ballern sich aus absurdesten Entfernungen mit SMS, Youtube-Videos, Musik und E-Mails zu. Und das wird nicht niedergeschrieben als Medientheoretisch angehauchte Beispielabhandlung dessen, was moderne Kommunikation mit uns macht. Sondern als die gleiche Intensität, mit der Romeo einst vor Julias Balkon stand - die heutzutage allerdings schon in einer sphärischen Halbnähe herstellbar ist, die der verliebte Mensch, auf einem anderen Kontinent, zu deuten gezwungen ist, obwohl er sie eigentlich gar nicht deuten kann. Wenn extreme permanente Vernetztheit unsere heutigen Liebeserfahrungen von denen vergangener Generationen unterscheidet, dann durch die tiefgreifende Mutation des sogenannten mindfucks. Und dessen Schilderung in "untitled" ist zwar teilweise nervig, aber so detailliert, dass sich jeder Mensch, der mal länger als zwanzig Minuten auf die unterkomplexe Kurznachricht irgendeines love interests gewartet hat, mit ihr befassen sollte.
Außerdem hochinteressant, diese Abarbeitung an Freiheit im, bla, Kapitalismus. Wir haben hier einen Helden, der in seinem Leben nicht an zu erfüllende Standards gebunden ist, der sich, wenn er verliebt ist, innerhalb von wenigen Stunden aus seiner bisherigen Beziehung lösen oder nach Australien reisen kann, der im Laufe der Story einen schweren Unfall hat, der sein komplettes Arbeitsumfeld hinter sich lässt, weil er sich im Rahmen eines extrem starken, seinen eigenen Stolz in die Tonne tretenden moves dazu entscheidet, sich jemandem vollständig hinzugeben. Seine einzige Beschränkung ist die größte, der man zum Opfer fallen kann, sie besteht im Mangel an Freiheit der geliebten Person. Die entweder nicht verliebt genug oder zu sehr an objektiv abzunickender Sicherheit interessiert ist, um sich aus ihrer Langeweilebeziehung zu lösen. Mit dieser Begrenztheit übt sie eine Macht aus, die die eigene Freiheit zu einem Gefängnis macht.
In Feigheit vereint
Es ist natürlich auch völlig egal, was der Freundeskreis zu diesem realitätsfernen Gefängnis sagt. Obwohl sich der Freundeskreis der Hauptfigur aus linken, gut situierten Villenbesitzern im Grunewald und hysterischen Intellektuellomodels in Fashionmetropolen zusammensetzt, dementsprechend sehr viele verschiedene Erfahrungswerte, mit deren Hilfe man sich zurück in die normale Welt retten könnte, abdeckt. Zwischendurch sagt eine Freundin mal zur Beruhigung "It's only love". Man will dieses Statement für den Rest der Lektüre mantraähnlich nachbrabbeln, weil es gleichzeitig so richtig und so falsch ist.
Man muss Bücher lesen von Menschen, die bereit dazu sind, über gesellschaftlich akzeptierte Grenzen hinauszugehen - nicht weil Leidensdruck Leute zu guten Künstlern macht, sondern weil die von anderen durchlebten psychischen Brüche, sobald sie externalisiert, weil aufgeschrieben wurden, uns alle in unserer Feigheit vereinen können.
Was bestimmte Kritiker, die ihr Hauptaugenmerk tatsächlich nur darauf legen, dieses Buch mit dem Wort "Popliteratur" zu neutralisieren oder damit, dass an ein paar stellen das Wort "iphone" vorkommt, scheinbar nicht wissen.
Man muss diesen Text als ernsthafte Lebensrealität lesen und aufnehmen, danach kann man immer noch aufstehen, nach Hause gehen, kognitive Neurowissenschaften studieren und so tun, als dürfe Liebe nicht weh tun. Ich bin froh darüber, dass es dieses Buch gibt. Es bringt (man möchte fast sagen auf eine nonchalante Art und Weise) das auf den Punkt, was Neil Young einst mit der Songzeile "I FOUND MYSELF SINGING LIKE A LONG LOST FRIEND: the same thing, that makes you LIVE can kill you IN THE END" gemeint hat. Außerdem guckt man es ziemlich gerne an, weil es ein hübsches Cover hat.
Joachim Bessing: "untitled". Kiepenheuer & Witsch, 304 Seiten, 19,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein durchgeknallter und zugleich hochmoderner Liebesroman.« Gerrit Bartels Deutschlandradio Kultur 20130530