Der erfolgreiche Schrifsteller Lukas Cadisch steht kurz vor der Präsentation seines neuen Romans, als er eines Morgens feststellt, dass er ein "Unverschwundener" ist. Seine Mitmenschen bemerken ihn nicht mehr, Lebewesen kann er nicht mehr berühren. Was macht das mit einem Menschen, wenn er merkt,
einsam aber nicht allein zu sein? Und wie verkraften die anderen das Verschwinden einer geliebten…mehrDer erfolgreiche Schrifsteller Lukas Cadisch steht kurz vor der Präsentation seines neuen Romans, als er eines Morgens feststellt, dass er ein "Unverschwundener" ist. Seine Mitmenschen bemerken ihn nicht mehr, Lebewesen kann er nicht mehr berühren. Was macht das mit einem Menschen, wenn er merkt, einsam aber nicht allein zu sein? Und wie verkraften die anderen das Verschwinden einer geliebten Person? Darüber und über so viel mehr schreibt Philipp Gurt in seinem neuen Roman "Unverschwunden".
Bereits der Name des Romans deutet an, dass Gurt hier etwas ganz Neues und Individuelles erschaffen hat, das sich in der Kreation des Titels "Unverschwunden" ausdrückt. Und treffender könnte der Begriff wohl nicht sein, denn Protagonist Lukas ist für seine Umwelt verschwunden, doch er selbst erlebt mit zunehmender Dauer des Romans nahezu alle Eindrücke viel intensiver als zuvor. Für sich selbst ist er ein "Unverschwundener", der Rest sind die "Wahrhaftigen". Der Autor steigt tief in seine Figur hinein, lässt seine Leser*innen die gesamte Gefühlsklaviatur fast körperlich spüren. Ob Lukas aus nächster Nähe einen Wolf oder eine Bärenfamilie beobachtet, ob er einem existenziell-bedrohlichen Gewitter ausgesetzt ist: Gurt schafft unvergessliche Momente eindringlicher Intensität. Mit der Zeit fragte ich mich, wer eigentlich "wahrhaftig" ist. Ist es nicht derjenige, der ungefiltert all diese Eindrücke, die Gerüche und Farben aufnehmen kann? Ist es vielleicht sogar die größte Wahrhaftigkeit überhaupt, ganz mit und bei sich zu sein?
Philipp Gurt ist klug und zurückhaltend genug, seinen Leser*innen diese existenziellen Antworten zu überlassen und zu überlegen, wie man selbst mit einer solchen Situation umgehen würde. Als angenehm habe ich außerdem empfunden, dass sich der Autor seinen Figuren insgesamt mit großer Empathie nähert. Wenn Lukas seinem demenzkranken Vater gegenübersteht und für einen gewissen Moment glaubt, von diesem gesehen zu werden, setzt nicht nur bei ihm das Herz für eine Sekunde aus. Und just, als alles verloren scheint, kommt es zu einer fast biblischen Erlösungsszene - in Gestalt eines blinden kleinen Hundes, dessen Name "Hope" auf den ersten Blick plakativ wirkt, aber letztlich genau das ausdrückt, was ich mir für Lukas sehnlichst wünschte.
Da es am besten ist, inhaltlich vor allem über das wirklich überraschende letzte Viertel des Buches nichts zu verraten, möchte ich nur noch erwähnen, dass "Unverschwunden" auch so etwas wie eine große Liebeserklärung an sein Heimatland, die Schweiz, und ihre Natur ist. Lukas reist ständig durch dieses kleine Land, nähert sich ihm auch gesellschaftskritisch, doch die Natur überstrahlt in ihrer Erhabenheit alles. Sympathisch und wichtig fand ich auch die Erwähnung und Verwendung der rätoromanischen Sprache, die als Minderheitensprache gern einmal übersehen wird.
Den Schreibstil Gurts habe ich überwiegend als positiv empfunden. Insbesondere in den erwähnten Naturbeschreibungen spielt er sein gesamtes Können aus, lässt Farben und Gerüche auf die Leser*innen wirken. Teils weniger gelungen fand ich die Dialoge. Vor allem in Rückblicken auf vergangene Liebesbeziehungen wird schon mal die Grenze zum Kitsch zumindest gestreift. In anderen Fällen konnte ich Lukas' Handeln nicht nachvollziehen. Gerade zu Beginn, als er noch in der Experimentierphase ist, war für mich nicht zu erklären, warum er nicht zumindest versucht, den Polizist*innen die Tür zu öffnen. Chancen, die zu einem weiteren moralischen Dilemma - und ganz nebenbei zu hinreißenden Szenen - führen könnten, werden nicht genutzt. So wird nie ganz geklärt, was es für Lukas bedeutet, sämtliche Dinge stehlen zu müssen.
Insgesamt sind dies aber Kritikpunkte, die von der genialen Grundidee des Romans und von den wirklich eindringlichen Momenten, die Gurt schafft, größtenteils überlagert werden. So ist "Unverschwunden" für mich ein absolut lesenswerter, aufregender Roman, der zum Nachdenken anregt und lange nachwirkt.