Etwa die Hälfte der westlichen Bevölkerung ist nach mindestens einer Verhaltensweise süchtig. Wie unter Zwang hängen wir an unseren E-Mails, Instagram-Likes und Facebook-Posts; wir schießen uns mit Fernsehserien ins Koma, können das Online-Shoppen nicht lassen, arbeiten jedes Jahr noch ein paar Stunden länger an unseren Computern; wir starren im Schnitt drei Stunden am Tag auf unsere Smartphones. Ein Grund dafür liegt im suchterzeugenden Design dieser Technologien. Das Zeitalter der Verhaltenssüchte ist noch jung, doch immer deutlicher wird, wie sehr es sich um ein gesellschaftlich relevantes Problem handelt - mit zerstörerischer Wirkung auf unser Wohlergehen und besonders die Gesundheit und das Glück unserer Kinder. Der Psychologe Adam Alter zeigt, warum sich Verhaltenssüchte so wild wuchernd ausbreiten, wie sie aus der menschlichen Psyche Kapital schlagen und was wir tun müssen, damit wir und unsere Kinder es einfacher haben, ihnen zu widerstehen. Denn die gute Nachricht lautet, dass wir den Verhaltenssüchten nicht unumstößlich ausgeliefert sind.
»Adam Alter hat den Heiligen Gral erlangt: ein wichtiges Buch voller Einsicht, das zu lesen ein Vergnügen ist und auf neuester Forschung beruht.« Charles Duhigg
»Adam Alter hat den Heiligen Gral erlangt: ein wichtiges Buch voller Einsicht, das zu lesen ein Vergnügen ist und auf neuester Forschung beruht.« Charles Duhigg
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2018Willenskraft wird überschätzt
Haltet Kleinkinder fern von Bildschirmen: Adam Alter untersucht das Suchtpotential digitaler Helfer und verrät Ausstiegstipps.
Von Julia Bähr
Vielleicht hat, wer nicht süchtig ist, einfach nur noch nicht das Richtige für sich entdeckt. Schließlich ist die Welt voller Süchtiger: Menschen nehmen Drogen, essen viel zu wenig oder viel zu viel, verbringen ihre Nächte in Spielcasinos und machen Sport, bis ihr Körper den Dienst verweigert. Allerdings sind das nur die offensichtlichen Süchte, die eindeutig Probleme bereiten, gesundheitlich, finanziell oder beides. Wer dagegen alle fünf Minuten sein Handy entsperrt, um zu überprüfen, ob neue Nachrichten eingegangen sind, wird vielleicht von seiner Familie oder Freunden mal darauf angesprochen. Sehr viel mehr passiert so bald nicht - bis die Gewohnheit in die Nacht hinein wächst, die Anspannung niemals nachlässt und andere wichtige Dinge liegenbleiben.
Wie häufig ist die Sucht nach Smartphones, Handyspielen und Social Media wirklich? Wenn es nach dem Erfolg von Adam Alters neuem Buch "Unwiderstehlich" in Amerika geht, ziemlich enorm: Der "New York Times"-Bestseller mit dem Untertitel "Der Aufstieg suchterzeugender Technologien und das Geschäft mit unserer Abhängigkeit" verkaufte sich blendend und wurde hundertfach rezensiert und empfohlen. Er ist irgendwo zwischen klassischem Sachbuch und Ratgeber angesiedelt, möchte also zugleich fundiert informieren und Alternativen aufzeigen. Genau das ist allerdings seine größte Schwäche.
Denn Adam Alter, Professor für Psychologie und Marketing an der New York University, holt zu weit aus. Er beginnt mit Facebook, erzählt dann erst die Entdeckung von Kokain und den Siegeszug von Heroin ausgiebig nach, anschließend folgen Computerspiele, Perfektionismus, Fitness-Sucht, das permanente Streben nach Reichtum und das Phänomen des Ohrwurms. Schließlich geht es zurück zu Computerspielen und Empfehlungen für den Bildschirmkonsum von Kindern. Den Faden hat man da schon längst verloren: Das Buch schießt thematisch herum wie eine Flipperkugel.
Deshalb bleibt dem Leser nur, sich selbst interessante Details zusammenzusuchen und zu verknüpfen. Das ist möglich, denn Adam Alter hat etliche hochinformative Dinge aufgeschrieben, von denen eben nur nicht immer klar ist, warum sie jetzt da stehen. Eine besondere Vorliebe hat er offenbar für Verhaltenstests mit Ratten, die durchaus verblüffende Ergebnisse lieferten. Ausführlich schildert er Experimente, bei denen Ratten süchtig nach Stromschlägen werden und Risiken in Verbindung mit angenehmen Geräuschen und blinkenden Lichtern gerne in Kauf nehmen. Was das seiner Meinung nach für Technologiesüchtige bedeutet, verschweigt er - doch genau diese Erklärungen hätten dem Buch gutgetan.
Womöglich bedeutet es auch gar nichts, dann wiederum wäre allerdings die Entscheidung fragwürdig, diesen Experimenten so viel Platz einzuräumen. Bei den Geräuschen und Lichteffekten ist immerhin die Verbindung zu Computerspielen eindeutig, die den Spieler länger in ihren Bann schlagen, wenn sie solche Extras, den sogenannten "Juice", liefern. Die Empfehlung, den Ton abzuschalten, damit es ein bisschen leichter fällt, sich nach zehn Minuten von "Candy Crush" loszureißen, gibt der Autor jedoch nicht.
Dafür räumt er mit dem weit erbreiteten Glauben auf, Süchtige hätten eine bestimmte charakterliche Disposition oder einfach zu wenig Selbstdisziplin. Jeder kann abhängig werden, das zeigte der Vietnam-Krieg, in dem amerikanische Soldaten reihenweise heroinsüchtig wurden. Als sie jedoch zurückkamen, war ihre Rückfallquote deutlich niedriger als bei Heroinsucht üblich. Die Situation hatte sie süchtig gemacht, und nun, da sie der Situation entronnen waren, befriedigte ihr normales Leben ihre Bedürfnisse. Sie brauchten die Droge nicht mehr. "In Wahrheit scheitern die Menschen, die es mit Willenskraft versuchen, als Erste", schreibt er. "Jene, die gar nicht erst in Versuchung kommen, tun sich eindeutig leichter."
Auch Adam Alters wissenschaftliche Begründungen für das ungute Gefühl, das Eltern oft beim Anblick ihrer auf dem Handy spielenden Kinder befällt, sind lehrreich. Bis zum zweiten Lebensjahr sollten Kinder mit Monitoren überhaupt nichts zu tun haben und Computerspiele erst ab dem siebten in die Finger bekommen, weil ihre sozialen Fähigkeiten sonst verkümmern - vor dem Hintergrund der vom Autor dargestellten Studien ist das womöglich eine schwer umzusetzende, aber konkrete und überzeugende Handreichung.
An anderer Stelle dagegen überzieht Alter ein wenig, um die Bedeutung seines Themas zu betonen. Die eindeutig ironischen Kommentare der Nutzer, als der Hype um das Handyspiel "Flappy Bird" ausgebrochen war, klingen doch eindeutig ironisch: "Flappy Bird wird mein Verderben sein", "Es hat mein Leben ruiniert" - aus solchen Bewertungen, die wenige Tage nach Beginn der weltweiten Verbreitung des Spiels abgegeben wurden, einen echten Schaden herauszulesen ist kühn.
Ähnlich verhält es sich bei der Bloggerin Darleen Meier, die dem nur für Mitglieder zugänglichen Online-Shop Gilt verfallen ist, der in unberechenbarem Takt günstige Designerware anbietet, aber immer für kurze Zeit. Alter schreibt, sie habe sich gezwungen gesehen, einen Post mit dem Titel "Gilt-süchtig" zu veröffentlichen, in dem sie gestand, sie kaufe ständig bei Gilt und hätte beinahe sogar eine Vespa erstanden, obwohl sie keinerlei Verwendung für sie habe. Das klingt alles dramatisch, doch eine simple Internetrecherche zeigt, dass es sich eindeutig um einen Werbepost für Gilt handelt. Meier verlinkt sogar auf den Shop und zeigt stolz ihre neuesten Käufe. Später sprach sie tatsächlich mit der "Huffington Post" darüber, dass sie sich von Gilt kaum losreißen konnte und irgendwann die Notbremse ziehen musste - doch dieser Blogpost wurde von Adam Alter eindeutig überinterpretiert.
Dabei braucht sein Thema eigentlich keinen künstlichen Schub. Nicht jeder Blick aufs Handy ist Zeitverschwendung, schließlich führen etliche Leute große Teile ihres gesellschaftlichen Lebens mit Hilfe dieses Geräts. Trotzdem ahnen viele, dass sie den ständigen Griff zum Handy allmählich hinterfragen könnten. Dafür ist dieses Buch kein schlechter Einstieg.
Adam Alter: "Unwiderstehlich". Der Aufstieg suchterzeugender Technologien und das Geschäft mit unserer Abhängigkeit.
Berlin Verlag, München 2018.
384 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Haltet Kleinkinder fern von Bildschirmen: Adam Alter untersucht das Suchtpotential digitaler Helfer und verrät Ausstiegstipps.
Von Julia Bähr
Vielleicht hat, wer nicht süchtig ist, einfach nur noch nicht das Richtige für sich entdeckt. Schließlich ist die Welt voller Süchtiger: Menschen nehmen Drogen, essen viel zu wenig oder viel zu viel, verbringen ihre Nächte in Spielcasinos und machen Sport, bis ihr Körper den Dienst verweigert. Allerdings sind das nur die offensichtlichen Süchte, die eindeutig Probleme bereiten, gesundheitlich, finanziell oder beides. Wer dagegen alle fünf Minuten sein Handy entsperrt, um zu überprüfen, ob neue Nachrichten eingegangen sind, wird vielleicht von seiner Familie oder Freunden mal darauf angesprochen. Sehr viel mehr passiert so bald nicht - bis die Gewohnheit in die Nacht hinein wächst, die Anspannung niemals nachlässt und andere wichtige Dinge liegenbleiben.
Wie häufig ist die Sucht nach Smartphones, Handyspielen und Social Media wirklich? Wenn es nach dem Erfolg von Adam Alters neuem Buch "Unwiderstehlich" in Amerika geht, ziemlich enorm: Der "New York Times"-Bestseller mit dem Untertitel "Der Aufstieg suchterzeugender Technologien und das Geschäft mit unserer Abhängigkeit" verkaufte sich blendend und wurde hundertfach rezensiert und empfohlen. Er ist irgendwo zwischen klassischem Sachbuch und Ratgeber angesiedelt, möchte also zugleich fundiert informieren und Alternativen aufzeigen. Genau das ist allerdings seine größte Schwäche.
Denn Adam Alter, Professor für Psychologie und Marketing an der New York University, holt zu weit aus. Er beginnt mit Facebook, erzählt dann erst die Entdeckung von Kokain und den Siegeszug von Heroin ausgiebig nach, anschließend folgen Computerspiele, Perfektionismus, Fitness-Sucht, das permanente Streben nach Reichtum und das Phänomen des Ohrwurms. Schließlich geht es zurück zu Computerspielen und Empfehlungen für den Bildschirmkonsum von Kindern. Den Faden hat man da schon längst verloren: Das Buch schießt thematisch herum wie eine Flipperkugel.
Deshalb bleibt dem Leser nur, sich selbst interessante Details zusammenzusuchen und zu verknüpfen. Das ist möglich, denn Adam Alter hat etliche hochinformative Dinge aufgeschrieben, von denen eben nur nicht immer klar ist, warum sie jetzt da stehen. Eine besondere Vorliebe hat er offenbar für Verhaltenstests mit Ratten, die durchaus verblüffende Ergebnisse lieferten. Ausführlich schildert er Experimente, bei denen Ratten süchtig nach Stromschlägen werden und Risiken in Verbindung mit angenehmen Geräuschen und blinkenden Lichtern gerne in Kauf nehmen. Was das seiner Meinung nach für Technologiesüchtige bedeutet, verschweigt er - doch genau diese Erklärungen hätten dem Buch gutgetan.
Womöglich bedeutet es auch gar nichts, dann wiederum wäre allerdings die Entscheidung fragwürdig, diesen Experimenten so viel Platz einzuräumen. Bei den Geräuschen und Lichteffekten ist immerhin die Verbindung zu Computerspielen eindeutig, die den Spieler länger in ihren Bann schlagen, wenn sie solche Extras, den sogenannten "Juice", liefern. Die Empfehlung, den Ton abzuschalten, damit es ein bisschen leichter fällt, sich nach zehn Minuten von "Candy Crush" loszureißen, gibt der Autor jedoch nicht.
Dafür räumt er mit dem weit erbreiteten Glauben auf, Süchtige hätten eine bestimmte charakterliche Disposition oder einfach zu wenig Selbstdisziplin. Jeder kann abhängig werden, das zeigte der Vietnam-Krieg, in dem amerikanische Soldaten reihenweise heroinsüchtig wurden. Als sie jedoch zurückkamen, war ihre Rückfallquote deutlich niedriger als bei Heroinsucht üblich. Die Situation hatte sie süchtig gemacht, und nun, da sie der Situation entronnen waren, befriedigte ihr normales Leben ihre Bedürfnisse. Sie brauchten die Droge nicht mehr. "In Wahrheit scheitern die Menschen, die es mit Willenskraft versuchen, als Erste", schreibt er. "Jene, die gar nicht erst in Versuchung kommen, tun sich eindeutig leichter."
Auch Adam Alters wissenschaftliche Begründungen für das ungute Gefühl, das Eltern oft beim Anblick ihrer auf dem Handy spielenden Kinder befällt, sind lehrreich. Bis zum zweiten Lebensjahr sollten Kinder mit Monitoren überhaupt nichts zu tun haben und Computerspiele erst ab dem siebten in die Finger bekommen, weil ihre sozialen Fähigkeiten sonst verkümmern - vor dem Hintergrund der vom Autor dargestellten Studien ist das womöglich eine schwer umzusetzende, aber konkrete und überzeugende Handreichung.
An anderer Stelle dagegen überzieht Alter ein wenig, um die Bedeutung seines Themas zu betonen. Die eindeutig ironischen Kommentare der Nutzer, als der Hype um das Handyspiel "Flappy Bird" ausgebrochen war, klingen doch eindeutig ironisch: "Flappy Bird wird mein Verderben sein", "Es hat mein Leben ruiniert" - aus solchen Bewertungen, die wenige Tage nach Beginn der weltweiten Verbreitung des Spiels abgegeben wurden, einen echten Schaden herauszulesen ist kühn.
Ähnlich verhält es sich bei der Bloggerin Darleen Meier, die dem nur für Mitglieder zugänglichen Online-Shop Gilt verfallen ist, der in unberechenbarem Takt günstige Designerware anbietet, aber immer für kurze Zeit. Alter schreibt, sie habe sich gezwungen gesehen, einen Post mit dem Titel "Gilt-süchtig" zu veröffentlichen, in dem sie gestand, sie kaufe ständig bei Gilt und hätte beinahe sogar eine Vespa erstanden, obwohl sie keinerlei Verwendung für sie habe. Das klingt alles dramatisch, doch eine simple Internetrecherche zeigt, dass es sich eindeutig um einen Werbepost für Gilt handelt. Meier verlinkt sogar auf den Shop und zeigt stolz ihre neuesten Käufe. Später sprach sie tatsächlich mit der "Huffington Post" darüber, dass sie sich von Gilt kaum losreißen konnte und irgendwann die Notbremse ziehen musste - doch dieser Blogpost wurde von Adam Alter eindeutig überinterpretiert.
Dabei braucht sein Thema eigentlich keinen künstlichen Schub. Nicht jeder Blick aufs Handy ist Zeitverschwendung, schließlich führen etliche Leute große Teile ihres gesellschaftlichen Lebens mit Hilfe dieses Geräts. Trotzdem ahnen viele, dass sie den ständigen Griff zum Handy allmählich hinterfragen könnten. Dafür ist dieses Buch kein schlechter Einstieg.
Adam Alter: "Unwiderstehlich". Der Aufstieg suchterzeugender Technologien und das Geschäft mit unserer Abhängigkeit.
Berlin Verlag, München 2018.
384 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein packendes und unterhaltsames Buch.", ZDF "aspekte", 06.04.2018