Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.12.1995Der Zeltmacher Paulus und seine Gesellen
Mit ersten Zeichen von Ermüdung: Eine umfassende Sozialgeschichte des Urchristentums
"Mehr als wir uns gemeinhin vorstellen, war Paulus ,Paulus der Zeltmacher'. Seine Tätigkeit beanspruchte den größten Teil seiner Zeit. Sein Leben war zum großen Teil das Leben eines Menschen in einer Werkstatt, gebeugt über eine Werkbank wie ein Sklave und arbeitend an der Seite von Sklaven." Das zu wissen ist nützlich, auch um sich keinen Illusionen hinzugeben, als sei Paulus "selbständiger Handwerker" mit der Möglichkeit freier Zeiteinteilung und in wirtschaftlicher Unabhängigkeit gewesen. Solches und anderes mehr, auf das man neugierig sein kann, erforscht seit rund zwanzig Jahren die Sozialgeschichte des frühen Christentums. Ohne Zweifel ein Produkt der Achtundsechziger-Bewegung. Und wie die Eule der Minerva nicht vor der Abendstunde fliegt, so legen erst jetzt zwei deutsche Neutestamentler, Ekkehard W. und Wolfgang Stegemann, erstmals ein Werk vor, das beansprucht, das Ganze der sozialen Welt des Urchristentums darzustellen. Zuvor gab es im deutschen Sprachraum nur einzelne Traktate und Aufsätze, unter denen die von Martin Hengel und Gerd Theissen die bekanntesten sind. Im übrigen forscht man so in den Vereinigten Staaten - auch deshalb, weil Forschung dieser Art keiner Rechtgläubigkeit zu nahe tritt.
Die Verfasser schreiten vom Allgemeinen zum Besonderen voran, also von der Mittelmeerwelt über Palästina bis hin zu zwei Gestalten von Christentum: der Jesus-Nachfolge "im Land Israel" und den "christusgläubigen Gemeinden" in den Städten des Römischen Reiches. Ein letzter Teil ist der besonderen Rolle der Frauen gewidmet. Begleitet wird der Leser in jedem Abschnitt von "Sozialpyramiden", Zeichnungen, die verdeutlichen, wie breit die Unter-, wie schmal aber die Oberschicht war und wie man Christen dem zuordnen könnte, wenn, ja wenn die Quellen etwas mehr hergäben. Der eigene Theorieansatz wird in großer Nähe zu Géza Alföldy entfaltet, doch ersetzt man die römische Perspektive des ordo, des Standes, durch andere Faktoren. So ergeben sich als Schichtungskriterien: Macht, Position oder Besitz, Privilegien und Prestige. Anhand dieser Kriterien unterscheiden die beiden Verfasser zwischen Elite und Nicht-elite, also zwischen Ober- und Unterschicht. Bei der Unterschicht wird dann noch einmal zwischen relativ Armen und absolut Armen getrennt.
Abgesehen von dieser generellen Unterteilung, in die sich die spärlichen Daten, wenn man will, gut einordnen lassen, ist freilich das Problem der Methode der "soziologischen" Quellendeutung vielleicht doch nicht präzise genug gelöst, besonders in den Teilen, die aus der Vogelperspektive berichten. Die anekdotenreiche Schilderung der außerpalästinensischen Verhältnisse ähnelt in der Methode eher einem Traktat Plutarchs oder einer Goetheschen Steinesammlung.
Eine besondere Rolle spielt die sogenannte Devianz. Darunter versteht man "abweichendes Verhalten", das jemanden gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zum Außenseiter macht und die Entwicklung einer Subkultur ermöglicht. Die Frage ist also, wo und inwiefern die Christen die Normen und Regeln der Mehrheitsgesellschaft übertraten. Läßt sich dieses sehr moderne Modell auf das erste Jahrhundert anwenden? Gab es überhaupt die Größe "Gesellschaft" in unserem Sinne? Wo und wann waren "die" Juden "die" Mehrheitsgesellschaft?
Hier wie auch sonst scheuen sich die Verfasser nicht, soziologische Modelle, die etwa in Studien über die Mafia entwickelt wurden, auf das Palästina des ersten Jahrhunderts anzuwenden. So gelten fast alle Räuber der damaligen Zeit als "Sozialbanditen", also als Vertreter von Sozialutopien, als Helden wie Robin Hood, und vorsichtig wird auch Jesus in ihre Nähe gerückt. Aus moderner Soziologie entsprungen sind auch die durch das Werk geisternden retainer, "Gefolgsleute" der Oberschicht, die man, um ihre Existenz zu bekräftigen, doch mit recht wechselnden Gruppen identifizieren muß. Sind sie nicht doch ein Ansatz zu einer Mittelschicht, die es aber aus irgendwelchen Gründen der Systematik nicht geben darf?
Das Werk zeigt deutlich Vorlieben und Tendenzen der Interpretation. Jesus-Nachfolge war eine Bewegung von Armen. "Die absolut Armen und Notleidenden in Israel" gälten als der "Kern des Gottesvolkes für das Gottesreich". So exklusiv gilt das nicht, und außerdem ist nicht jedes Kind in den Evangelien schon ein Waisenkind! Besonders die Gesetzesauslegung Jesu spiegele die Situation der verelendeten Unterschicht. Das sieht dann so aus: Jesus verbot die Ehescheidung. Ehen aber sollen wegen Armut zerrüttet gewesen sein. Warum besonders wegen Armut? Und wie soll das überhaupt zueinander passen? Was hat denn das Scheidungsverbot mit der Armut zu tun? Ist es dann nicht eher unbarmherzig?
Wo die Netze der Jünger leer blieben, wird flugs von einer Krise in der Landwirtschaft gesprochen. Das paulinische Christentum komme generell aus der sozialen Unterschicht, auch das Christentum nach dem Jahr 70 aus der Unterschicht "oberhalb der Armutsgrenze". "Ämter" gab es in paulinischen Gemeinden nicht, nur "Rollen". Angaben über Höhergestellte unter den frühen Christen werden heruntergespielt, indem man den Quellenwert anzweifelt (zum Beispiel für Sergius Paulus, von dem Plinius berichtet).
Das Werk konzentriert sich auffällig auf die Evangelien, die Apostelgeschichte und Paulus, hört also ziemlich genau dort auf, wo der normale Lehrbetrieb ebenfalls weiße Flecken läßt. Auch ältere Geschichtsmuster wie die "Veralltäglichung des Charismas" bestimmen die Antworten, und ebenso wirkt es schematisch, wenn wegen Max Weber alle charismatischen Bewegungen eo ipso eine "Gegenwelt zur Überwindung der Krise der Gesellschaft" entworfen haben müssen. Auch ist die Verbindung von Unterschicht und Charisma sicher nicht naturgegeben.
Mit der Distanz zu den Ursprüngen der neutestamentlichen Sozialgeschichtsforschung wächst indes auch generell die Frage, was man eigentlich davon hat, wenn man weiß, daß eine Person aus dem frühen Christentum der Unter- und nicht der Oberschicht zuzuordnen ist. Was folgt daraus, daß Choni der Kreiszeichner, ein frührabbinischer Charismatiker, Bauer war? Wenn Jesus gegen das Sorgen angeht, das heißt, sich gegen jede Vorsorge für Nahrung und Kleidung wendet, was hat das wirklich zu tun mit Menschen, die mittellos waren? Könnte es da nicht zum Beispiel eher zynisch gewirkt haben, so zu reden?
Die Verfasser scheinen dieses Problem gleichwohl irgendwie bemerkt zu haben und sind daher bemüht, außer der Sozialgeschichte auch die Geschichte des Urchristentums, antike Wirtschaftsgeschichte, die Geschichte des Verhältnisses Juden/ Christen und die politische Geschichte Palästinas, dazu noch jede Menge Zeitgeschichte und auf 35 Seiten die Geschichte der Frauen im Mittelmeerraum, in Israel und im Urchristentum zu bieten, alles im Überblick. Ist Sozialgeschichte des Urchristentums also der Schlüssel für alle Fragen der Aktualität, Relevanz und Umsetzung der Botschaft? Dies ist doch wohl eher ein verblassender Mythos. KLAUS BERGER
Ekkehard W. Stegemann/Wolfgang Stegemann: "Urchristliche Sozialgeschichte". Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1995. 416 S., kt., 44,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit ersten Zeichen von Ermüdung: Eine umfassende Sozialgeschichte des Urchristentums
"Mehr als wir uns gemeinhin vorstellen, war Paulus ,Paulus der Zeltmacher'. Seine Tätigkeit beanspruchte den größten Teil seiner Zeit. Sein Leben war zum großen Teil das Leben eines Menschen in einer Werkstatt, gebeugt über eine Werkbank wie ein Sklave und arbeitend an der Seite von Sklaven." Das zu wissen ist nützlich, auch um sich keinen Illusionen hinzugeben, als sei Paulus "selbständiger Handwerker" mit der Möglichkeit freier Zeiteinteilung und in wirtschaftlicher Unabhängigkeit gewesen. Solches und anderes mehr, auf das man neugierig sein kann, erforscht seit rund zwanzig Jahren die Sozialgeschichte des frühen Christentums. Ohne Zweifel ein Produkt der Achtundsechziger-Bewegung. Und wie die Eule der Minerva nicht vor der Abendstunde fliegt, so legen erst jetzt zwei deutsche Neutestamentler, Ekkehard W. und Wolfgang Stegemann, erstmals ein Werk vor, das beansprucht, das Ganze der sozialen Welt des Urchristentums darzustellen. Zuvor gab es im deutschen Sprachraum nur einzelne Traktate und Aufsätze, unter denen die von Martin Hengel und Gerd Theissen die bekanntesten sind. Im übrigen forscht man so in den Vereinigten Staaten - auch deshalb, weil Forschung dieser Art keiner Rechtgläubigkeit zu nahe tritt.
Die Verfasser schreiten vom Allgemeinen zum Besonderen voran, also von der Mittelmeerwelt über Palästina bis hin zu zwei Gestalten von Christentum: der Jesus-Nachfolge "im Land Israel" und den "christusgläubigen Gemeinden" in den Städten des Römischen Reiches. Ein letzter Teil ist der besonderen Rolle der Frauen gewidmet. Begleitet wird der Leser in jedem Abschnitt von "Sozialpyramiden", Zeichnungen, die verdeutlichen, wie breit die Unter-, wie schmal aber die Oberschicht war und wie man Christen dem zuordnen könnte, wenn, ja wenn die Quellen etwas mehr hergäben. Der eigene Theorieansatz wird in großer Nähe zu Géza Alföldy entfaltet, doch ersetzt man die römische Perspektive des ordo, des Standes, durch andere Faktoren. So ergeben sich als Schichtungskriterien: Macht, Position oder Besitz, Privilegien und Prestige. Anhand dieser Kriterien unterscheiden die beiden Verfasser zwischen Elite und Nicht-elite, also zwischen Ober- und Unterschicht. Bei der Unterschicht wird dann noch einmal zwischen relativ Armen und absolut Armen getrennt.
Abgesehen von dieser generellen Unterteilung, in die sich die spärlichen Daten, wenn man will, gut einordnen lassen, ist freilich das Problem der Methode der "soziologischen" Quellendeutung vielleicht doch nicht präzise genug gelöst, besonders in den Teilen, die aus der Vogelperspektive berichten. Die anekdotenreiche Schilderung der außerpalästinensischen Verhältnisse ähnelt in der Methode eher einem Traktat Plutarchs oder einer Goetheschen Steinesammlung.
Eine besondere Rolle spielt die sogenannte Devianz. Darunter versteht man "abweichendes Verhalten", das jemanden gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zum Außenseiter macht und die Entwicklung einer Subkultur ermöglicht. Die Frage ist also, wo und inwiefern die Christen die Normen und Regeln der Mehrheitsgesellschaft übertraten. Läßt sich dieses sehr moderne Modell auf das erste Jahrhundert anwenden? Gab es überhaupt die Größe "Gesellschaft" in unserem Sinne? Wo und wann waren "die" Juden "die" Mehrheitsgesellschaft?
Hier wie auch sonst scheuen sich die Verfasser nicht, soziologische Modelle, die etwa in Studien über die Mafia entwickelt wurden, auf das Palästina des ersten Jahrhunderts anzuwenden. So gelten fast alle Räuber der damaligen Zeit als "Sozialbanditen", also als Vertreter von Sozialutopien, als Helden wie Robin Hood, und vorsichtig wird auch Jesus in ihre Nähe gerückt. Aus moderner Soziologie entsprungen sind auch die durch das Werk geisternden retainer, "Gefolgsleute" der Oberschicht, die man, um ihre Existenz zu bekräftigen, doch mit recht wechselnden Gruppen identifizieren muß. Sind sie nicht doch ein Ansatz zu einer Mittelschicht, die es aber aus irgendwelchen Gründen der Systematik nicht geben darf?
Das Werk zeigt deutlich Vorlieben und Tendenzen der Interpretation. Jesus-Nachfolge war eine Bewegung von Armen. "Die absolut Armen und Notleidenden in Israel" gälten als der "Kern des Gottesvolkes für das Gottesreich". So exklusiv gilt das nicht, und außerdem ist nicht jedes Kind in den Evangelien schon ein Waisenkind! Besonders die Gesetzesauslegung Jesu spiegele die Situation der verelendeten Unterschicht. Das sieht dann so aus: Jesus verbot die Ehescheidung. Ehen aber sollen wegen Armut zerrüttet gewesen sein. Warum besonders wegen Armut? Und wie soll das überhaupt zueinander passen? Was hat denn das Scheidungsverbot mit der Armut zu tun? Ist es dann nicht eher unbarmherzig?
Wo die Netze der Jünger leer blieben, wird flugs von einer Krise in der Landwirtschaft gesprochen. Das paulinische Christentum komme generell aus der sozialen Unterschicht, auch das Christentum nach dem Jahr 70 aus der Unterschicht "oberhalb der Armutsgrenze". "Ämter" gab es in paulinischen Gemeinden nicht, nur "Rollen". Angaben über Höhergestellte unter den frühen Christen werden heruntergespielt, indem man den Quellenwert anzweifelt (zum Beispiel für Sergius Paulus, von dem Plinius berichtet).
Das Werk konzentriert sich auffällig auf die Evangelien, die Apostelgeschichte und Paulus, hört also ziemlich genau dort auf, wo der normale Lehrbetrieb ebenfalls weiße Flecken läßt. Auch ältere Geschichtsmuster wie die "Veralltäglichung des Charismas" bestimmen die Antworten, und ebenso wirkt es schematisch, wenn wegen Max Weber alle charismatischen Bewegungen eo ipso eine "Gegenwelt zur Überwindung der Krise der Gesellschaft" entworfen haben müssen. Auch ist die Verbindung von Unterschicht und Charisma sicher nicht naturgegeben.
Mit der Distanz zu den Ursprüngen der neutestamentlichen Sozialgeschichtsforschung wächst indes auch generell die Frage, was man eigentlich davon hat, wenn man weiß, daß eine Person aus dem frühen Christentum der Unter- und nicht der Oberschicht zuzuordnen ist. Was folgt daraus, daß Choni der Kreiszeichner, ein frührabbinischer Charismatiker, Bauer war? Wenn Jesus gegen das Sorgen angeht, das heißt, sich gegen jede Vorsorge für Nahrung und Kleidung wendet, was hat das wirklich zu tun mit Menschen, die mittellos waren? Könnte es da nicht zum Beispiel eher zynisch gewirkt haben, so zu reden?
Die Verfasser scheinen dieses Problem gleichwohl irgendwie bemerkt zu haben und sind daher bemüht, außer der Sozialgeschichte auch die Geschichte des Urchristentums, antike Wirtschaftsgeschichte, die Geschichte des Verhältnisses Juden/ Christen und die politische Geschichte Palästinas, dazu noch jede Menge Zeitgeschichte und auf 35 Seiten die Geschichte der Frauen im Mittelmeerraum, in Israel und im Urchristentum zu bieten, alles im Überblick. Ist Sozialgeschichte des Urchristentums also der Schlüssel für alle Fragen der Aktualität, Relevanz und Umsetzung der Botschaft? Dies ist doch wohl eher ein verblassender Mythos. KLAUS BERGER
Ekkehard W. Stegemann/Wolfgang Stegemann: "Urchristliche Sozialgeschichte". Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1995. 416 S., kt., 44,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main