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Arnold Gehlens erstmals 1956 erschienenes Buch "Urmensch und Spätkultur" ist als Philosophie der Institutionen vor allem ein soziologisches Grundlagenwerk. Seine methodische Basis ist eine philosophisch-anthropologische Kategorienforschung, die sich auf kultur- und sozialanthropologische Materialien stützt. Das Buch ist bis heute eine der anregendsten Quellen für eine soziologische Institutionenanalyse. Niemand hat die symbolische Struktur der aus dem Zusammenhandeln von Menschen sich ergebenden Stabilisierungen durch rituelle Vergegenwärtigung besser herausgearbeitet als Gehlen. Dabei blieb…mehr

Produktbeschreibung
Arnold Gehlens erstmals 1956 erschienenes Buch "Urmensch und Spätkultur" ist als Philosophie der Institutionen vor allem ein soziologisches Grundlagenwerk. Seine methodische Basis ist eine philosophisch-anthropologische Kategorienforschung, die sich auf kultur- und sozialanthropologische Materialien stützt. Das Buch ist bis heute eine der anregendsten Quellen für eine soziologische Institutionenanalyse. Niemand hat die symbolische Struktur der aus dem Zusammenhandeln von Menschen sich ergebenden Stabilisierungen durch rituelle Vergegenwärtigung besser herausgearbeitet als Gehlen. Dabei blieb er ein konservativer "Institutionalist" in dem Sinne, daß er den institutionellen Sicherungen vor allen individuellen Interessen den Vorrang gab und die institutionelle Entlastung über jede institutionell erzeugte Belastung stellte und somit zu einer "hobbistischen" Lösung des Ordnungsproblems kam. Zugleich entwickelte er aber eine handlungsbezogene und dynamische Theorie der Kreation des Institutionellen; diese Einrichtungen sichern das indirekte Verhältnis, das der Mensch zu anderen und zu sich selbst aufzubauen gezwungen ist. Gehlen erkannte in diesen "Sozialregulationen" unwahrscheinliche und mühsam erreichte Stabilisierungen, deren geschichtlich legitimierte Ordnungsleistungen er seit der Aufklärung, den großen Revolutionen und spätestens seit dem 20. Jahrhundert in Auflösung sah.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.01.2004

Der Mensch kommt mit wenig aus
Aber er muß sich von Institutionen konsumieren lassen: Arnold Gehlen in neuen Ausgaben

Daß der Mensch im Grunde (seiner Instinkte und organischen Ausstattung) mit ganz wenig auskommt, daß er die Höhen seines Daseins also als Mängelwesen erklimmt, das ist der zentrale Gedanke, den Arnold Gehlen zwar nicht erfunden, aber prominent gemacht hat. Seine Bücher lesen sich als eine einzige Ausfaltung dieser schon in "Der Mensch" (1940) dargelegten Überlegung, so auch in den drei jetzt - zum hundertsten Geburtstag Gehlens am 29. Januar - vom Verlag Vittorio Klostermann neu aufgelegten Werken "Urmensch und Spätkultur" (1956), "Moral und Hypermoral" (1969) sowie in dem als Band sechs der Gesamtausgabe kritisch editierten Buch "Die Seele im technischen Zeitalter" (1957) mit diversen kleineren Schriften. Eine relecture von Gehlen ist eine reizvolle Sache in mehrerlei Hinsicht. Sie erst zeigt ihn als den wohl letzten seiner Art: als einen Konservativen, der - zumal in "Moral und Hypermoral" - sich so weit mit dem Rücken an der Wand des linken Zeitgeistes wähnte, daß er 1969 - sieben Jahre vor seinem Tod - außer pauschaler "Intellektuellenkritik" kaum noch etwas aufzubieten wagte.

Das bestürzt zumal bei einem Intellektuellen wie Gehlen, der den wesentlichen Effekt seiner institutionellen Entlastungstheorie doch stets so beschrieb, daß durch sie intellektuelle und künstlerische Potenzen freigesetzt würden. Das war es ja gerade, was seine in "Urmensch und Spätkultur" bravourös entwickelte Institutionenlehre vor Bornierungen zu schützen schien, daß "von diesem Unterbau innerer und äußerer Gewohnheiten her die geistigen Energien nach oben abgegeben werden können". Statt nun da oben den geistigen Energieaustausch frei walten zu lassen, wie es dem Geiste ziemt, weist Gehlen ihn von vornherein in die von ihm gezogenen Grenzen, identifiziert er im Vokabular angemaßter Objektivierung das Geistige mit seinen eigenen ideologischen Präferenzen - und siedelt alles, was sich jenseits dieses von ihm abgesteckten Parcours artikuliert, verschwörungstheoretisch bei "privilegierten Kreisen" an, "die die Folgen ihrer Agitation nicht zu verantworten haben, weil sie diese mangels Realkontakt gar nicht ermessen oder sich alles erlauben können". Roß und Reiter folgen in "Moral und Hypermoral" auf dem Fuße: "Das sind, um es kurz zu sagen, in großen und wortführenden Teilen die Schriftsteller und Redakteure, die Theologen, Philosophen und Soziologen, alle ideologisierenden Gruppen, erhebliche Teile der Lehrerschaft aller Schularten und der Studenten, und schließlich die generellen Nutznießer der gesellschaftlichen Nachsicht: Künstler und Literaten."

Es ist natürlich verkehrt, die hier durchgreifende Perspektive des Ressentiments für den ganzen Gehlen zu nehmen. Aber von hier aus gewinnt man einen Eindruck von der Intransigenz, die den Stil Gehlens auszeichnet und die als eine wesentliche Bedingung für die Durchschlagskraft seiner Analysen gelten darf - bis hin zu den prägnanten Formeln und Begriffen, die sich eingeprägt haben: Erfahrung aus zweiter Hand, Sachzwang, Eigenlogik der Systeme, Machbarkeit und dann eben die Schlüsselkategorien des Mängelwesens und der Entlastung. Der methodische Eklektizismus wurde von Gehlen mit einer solchen Wucht der Synthese überdeckt, daß sich jeder Zweifel daran von selbst zu verbieten schien. Tatsächlich bediente sich Gehlen der Befunde der Verhaltensforschung (Konrad Lorenz, Eibl-Eibesfeldt) in ähnlichen Ad-hoc-Konstruktionen, wie er die neuesten Meldungen des "Spiegel" auswertete und als Lebenswelt in seine Bücher einfließen ließ. Was bei ihm unter dem Stichwort einer biologischen Anthropologie firmierte, lief den Ergebnissen der Verhaltensforschung häufiger zuwider, als es ihr entsprach. Der Begriff der Reizauslösung ist im wesentlichen schon alles, was er von der Ethologie gebrauchen konnte, und selbst dieser Begriff kann sich bei Gehlen so recht nur am Kindchenschema entfalten. Und wie auch anders? Es ist ja gerade die Instinktarmut, die die Basis seiner Anthropologie hergibt. Gehlens grundlegender Gedanke, daß der Mensch erst als ein durch Institutionen vermittelter zu sich selber kommt, ist denn auch auf weiten Strecken ein gleichsam anti-ethologischer. So wundert man sich jedes Mal über die ausufernden Ableitungen, die Gehlen gleichwohl aus der Ethologie preßt. Da steht dann plötzlich eine ganze Ordnungstheorie auf Eibl-Eibesfeldts schmaler Bemerkung, "daß soziale Unordnung Aggression gegen Gruppenmitglieder freimacht", ein ganze Institutionentheorie profitiert von Konrad Lorenz' Beobachtung, daß der Mensch "nur mit dem Überbau kulturell ritualisierender Verhaltensweisen funktionsfähig ist".

Daß Gehlen trotz der Spärlichkeit der faktischen Anleihen so viel Wert darauf legte, seiner Anthropologie ein biologisches Design zu verpassen, muß seinem Gestus unbedingter Objektivität zugeschlagen werden, welcher den "Subjektivismus" als Dekadenzerscheinung der Zeit ebenso abbürstete wie den "Humanitarismus" - beide Schlagworte bewußt unscharf lassend. Dabei folgt bei Gehlen die These von Georges Sorel, wonach schon die Grundideen der modernen Moralisten aus der griechischen Verfallszeit stammen, unmittelbar auf die Wiedergabe einer "Spiegel"-Meldung von 1961, der zufolge ein Kölner Taxifahrer wegen Tierquälerei zu siebzig Mark Strafe verurteilt wurde, weil er mit seinem Wagen in einen Taubenschwarm geraten war und dabei drei der Tiere getötet hatte. Schluß mit dem Humanitarismus, bevor die Richter den Tierschutz noch weiter treiben!

Solche bisweilen präpotente Art des Argumentierens wirkt wie ein Stilmittel, um noch einmal zu unterstreichen: Der Mensch kommt mit wenig aus. Warum sollte sich ein Theoretiker naturgeschichtlicher Notwendigkeiten über Gebühr um argumentative Anschlüsse bemühen? Spricht hier nicht etwa alles für sich selbst? Seine Verachtung für jene, die "problematisieren", statt die Probleme einfach "wegzuleben" - so lautet der aktionistische Begriff in "Die Seele im technischen Zeitalter" -, ist nur ein anderer Ausdruck für die Legitimität des holprigen, im Zweifel mit tausend heterogenen Zitaten aus dem Bildungsschatz zusammengefügten Arguments. Das Pathos der Sachlichkeit, von Gehlen virtuos gehandhabt entlang der Begriffe "Sachzwang", "Kristallisation", "Automatismus", "necessitas rerum" - dieses Pathos distanziert jedwede Einwände als "aufgestöberte Reflexionsmasse" auf "dem perfiden Terrain des Subjektiven".

Es ist merkwürdig, wie es Gehlen gelingt, einerseits die gesellschaftliche Prägung selbst intimster Regungen zu betonen und als einer der ersten auf das entschiedenste die Ethosformen soziologisch zu verorten, anderseits dann aber Kultur und Ethos als gleichsam naturgegeben zu beschreiben, an denen man nur bei Strafe psychischer und sozialer Anomie zu rühren wagt. Stabilität wird in dieser Perspektive ein geistiger Grenzwert, die Warnung vor der Entriegelung des Menschlichen ein erkenntnistheoretisches Kriterium. Denken ist so gesehen ein institutioneller Akt, wie auch der Mensch in seiner reifen Form nicht als "Erlebnisstrom", sondern als Institution existiert. "Eine Persönlichkeit: das ist eine Institution in einem Fall." Mit diesem abgesetzten und oft zitierten Satz endet das Kapitel "Persönlichkeit" in der Schrift "Die Seele im technischen Zeitalter".

So entsteht ein abgeschnürter Diskursraum des "Schonverständigtseins", in dem Gehlen schließlich sein Staatsethos plaziert. Dessen Prägnanz gewinnt er auf weiten Strecken durch die apodiktische, historisch oft angezweifelte Entgegensetzung zum Ethos der Großfamilie, welches im Zuge des "Humanitarismus" auf den Staat erweitert worden sei, bis dieser als "Milchkuh" jede politische Substanz, und das heißt bei Gehlen: den Willen zur Macht vermissen lasse. Gehlen legt seine Theorie des Staates denn auch als eine "in deutscher Sprache reichlich paradoxe und unzeitgemäße Apologie der Macht" an. Es ist eine Macht, die sich nackt darstellt, die in der "kalte(n) Sprache des Sachzwangs Gehorsam fordert", bebildert ebenso mit Goethes Wort "Es gibt ein Dienenwollendes" wie mit der Rede Gregors VII. von der "Notwendigkeit der Dinge", erläutert durchaus auch am Stalinismus, "als die Russen im August 1968 in der Tschechoslowakei diese Art Freiheit, nämlich eine von der Kultur her aufgebaute Nebenregierung ausschlossen". Der Zwang zum staatlichen Überleben fordere nun einmal "ungestehbare Praktiken, und dies nicht nur wegen der Unentbehrlichkeit des Erfolgs, sondern weil man auf dem Lebensgrund blindgieriger Interessen operiert, wo Hegels Wort gilt, daß der Mensch sowohl an sich oder von Natur, als auch durch seine Reflexion und in sich böse ist". Für "unvermeidbar" hält Gehlen es, "daß an jeder Krone Blut und Schmutz und Lüge" hängen, "denn die im Palast des Staates residierenden Tugenden sind nicht die des Eigenheims". Wer etwas anderes zu bedenken gibt, ist ein subjektivistischer Humanitarist.

Gehlens klirrendes Ethos der Macht, in das er seine Theorie der staatlichen Souveränität hineinblendet, steht zum Begriff des Weltbürgertums natürlich ebenso quer wie zur Internationalisierung der Rechtsordnung, es verknüpft Konrad Lorenz mit Carl Schmitt und entledigt sich jedweden moralischen Rechtfertigungsdrucks, unter dem sich selbst amerikanische Falken bei der Programmierung ihrer neuen Weltordnung noch sehen: "In dauernd sich drängenden Kraftfeststellungen, Präventivgriffen, Überraschungen und Zugzwängen geht das Manövrieren und Aufmarschieren vor sich, nur gesteuert von der größten erreichbaren Rationalität." Macht und Moral werden nicht nur als getrennte, sondern auch als von vornherein nicht aufeinander beziehbare Systeme verstanden. "Not kennt kein Gebot. Der Sachzwang setzt die je dringenden Staatszwecke, und dieselbe Zwangsgewalt der Tatsachen erklärt den Staat selbst, legitimiert ihn." Strikt verbittet sich Gehlen Einwände. Er wisse schon: "Wer von Machtwille spricht, kann das Wort Machtmißbrauch nicht mehr verschlucken. Da ist der alte Spruch weitaus klüger: Wer auf dem Tiger reitet, kann nicht absteigen."

Es scheint so, als sei das die Metapher, die auch für Gehlen selbst gilt: Er hat vom Tiger nicht absteigen können. Die ungeheuren Spannungen, die Form und Inhalt seines Werkes zusammenzbr., wingen, verleihen diesem Werk in all seiner Heterogenität eine stupende Einheitlichkeit. Egal welchen Faden man aufnimmt - jeder führt zu einer Verknotung des Menschlichen, das ohne diese Verknotung von Ausfransung bedroht erscheint. So ist Gehlens Lehre bei aller vorgeblichen Reserve gegen metaphysische Anleihen die Erlösungslehre eines Anthropologen, der nicht weiß, wer der Mensch ist, und sich deshalb ermächtigt sieht, das Wissen über die Seele aus dem Wissen über ihre Gehäuse zu erschließen.

"Ob nun die Geschichte langen oder kurzen Prozeß macht, die Kultur in einem menschenwürdigen Sinne erhält sich dadurch, daß junge Menschen in vernünftige Einrichtungen hineinwachsen, die von langen Erfolgen legitimiert sind; sonst werden unersetzbare Erbschaften verschlissen: die Disziplin, die Geduld, die Selbstverständlichkeit und die Hemmungen, die man nie logisch begründen, nur zerstören und dann nur gewaltsam wiederaufrichten kann." Woher es kommt, daß man am Ende nicht mit Sicherheit zu sagen weiß, ob am Ausgang von Gehlens Anthropologie eine formierte oder eine deformierte Seele steht.

CHRISTIAN GEYER

Arnold Gehlen: "Die Seele im technischen Zeitalter und andere sozialpsychologische, soziologische und kulturanalytische Schriften". Band 6 der Gesamtausgabe, hrsg. von Karl-Siegbert Rehberg. Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2004. 898 S., geb., 94,- [Euro].

Arnold Gehlen: "Moral und Hypermoral". Eine pluralistische Ethik. 6., erweiterte Auflage. Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2004. 196 S., br., 19,- [Euro].

Arnold Gehlen: "Urmensch und Spätkultur". Philosophische Ergebnisse und Aussagen. 6., erweiterte Auflage. Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2004. 317 S., br., 21,- [Euro].

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