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Die Formation des Atheismus als einer philosophischen Position ist von der Geschichtsschreibung der Metaphysik auffällig, aber nicht zufällig vernachlässigt worden: Seine frühesten Manifestationen sind abseits der kanonischen Texte der Philosophie zu suchen, in der großenteils nicht edierten philosophischen Untergrundliteratur, der littérature clandestine seit der Mitte des 17. Jahrhunderts. Im Licht dieser Quellen lassen sich die theoriegeschichtlichen Wurzeln des Atheismus und sein Verhältnis zur antiken Religionskritik, zum Deismus, Skeptizismus und Rationalismus sowie zu den…mehr

Produktbeschreibung
Die Formation des Atheismus als einer philosophischen Position ist von der Geschichtsschreibung der Metaphysik auffällig, aber nicht zufällig vernachlässigt worden: Seine frühesten Manifestationen sind abseits der kanonischen Texte der Philosophie zu suchen, in der großenteils nicht edierten philosophischen Untergrundliteratur, der littérature clandestine seit der Mitte des 17. Jahrhunderts. Im Licht dieser Quellen lassen sich die theoriegeschichtlichen Wurzeln des Atheismus und sein Verhältnis zur antiken Religionskritik, zum Deismus, Skeptizismus und Rationalismus sowie zu den wissenschaftsgeschichtlichen Umbrüchen der Epoche freilegen. Die vierzig wichtigsten Quellen, zumeist Manuskripte, werden in einem literargeschichtlichen Anhang vorgestellt.

'Viele der von Schröder vermittelten Erkenntnisse, Entdeckungen und Diskussionsansätze werden der Forschung entscheidend weiterhelfen.' Detlef Döring, Theologische Literaturzeitung

'Da das autonome Denken heute ohne seine turbulenten Anfänge in atheistischen Umtrieben nicht verstehbar ist, muß dieses Buch jedem Denker empfohlen werden.' Friedrich Niewöhner, F.A.Z.

'Es liegt hiermit eine Arbeit vor, die die am Atheismus wissenschaftlich Interessierten unbedingt zu Kenntnis nehmen sollten.' Volker Mueller, Humanismus aktuell

'Yet as a guide to 17th- and 18th-century clandestine literature Schröder's book is unequalled.' Wiep van Bunge, Tijdschrift voor Filosofie

'Schröder gelingt es [.] in seiner aufregenden Studie [.] die Geschichte des Atheismus in Deutschland neu zu schreiben. [.] Die beeindruckende Arbeit wird durch einen umfangreichen und ausgesprochen verdienstvollen Anhang, der die bislang unveröffentlichten Hauptquellen, die Schröders Beweisführung zugrundeliegen, mit einführenden Kommentaren zur Überlieferungsgeschichte beschreibt, um ein weiteres aufgewertet.' Christine Haug, Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte

'Unzweifelhaft erfährt jeder, [.] welch enorme Hilfe ihm mit diesem Band geboten ist, welch nützliche und z. T. auch unerläßliche Vorarbeit ihm für eignes Weiterfragen und -denken dieser Band abnimmt.' Karl H. Neufeld, Zeitschrift für Theologie und Glaube

'Les 618 pages du livre de Winfried Schröder présentent toutes les qualités d'un ouvrage d'érudition et de synthèse; le lecteur découvre à la fois les documents, la doxographie, l'état du débat, une bibliographie umpressionnante, un index très utile, au soutien d'une démonstration nuancée mais ferme, menée selon une méthode rigoureuse et parvenant à un énoncé efficace des conclusions.' Sylvie Taussig, Papers on French 17th Century Literature'
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.07.1999

Der Zeuge als Henker
Für Winfried Schröder gibt es den Atheismus seit 1670

Der englische Biologe Thomas Henry Huxley ist vielleicht der einzige Gelehrte, der gleich zwei Begriffe geprägt hat, die heute in jedem philosophischen Lexikon stehen sollten: 1860 sprach er als erster vom "Darwinismus", 1869 bezeichnete er die philosophische Haltung, die unbegründeten Annahmen nicht nur nicht beipflichtet, sondern solche zu bestreiten bereit ist, als "Agnostizismus". Huxleys Agnostizismus steht für ein allgemeines methodologisches Prinzip, das besagt: In allen Fragen des Intellekts darf man ausschließlich nur seiner Vernunft folgen und keine Ergebnisse anerkennen, die nicht bewiesen oder beweisbar sind.

Winfried Schröder borgt sich bei Huxley, der sich selbst nicht als Atheist etikettiert haben wollte, die Begriffe "Agnostizismus" und "agnostisch", um mit dem Kompositum "agnostischer Atheismus" die ersten Texte zu charakterisieren, die für ihn den neuzeitlichen, theoretischen Atheismus vertreten: das monumentale Werk aus der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts mit dem Titel "Theophrastus redivivus" (erstmals von Guido Canzini und Gianni Paganini 1981-1982 ediert) und den noch unpublizierten Traktat "Symbolum sapientiae" (nicht vor 1670 entstanden). Die Verfasser beider Werke sind unbekannt. Die "Ursprünge des Atheismus" liegen für Schröder also erst um 1670 und zudem in Texten, die nicht allein die Existenz Gottes leugnen, sondern darüber hinaus die Gründe für jede Art von Theismus widerlegen und als falsch zurückweisen können.

Im Zweifel für den Angeklagten.

Daß diese Texte oft ihren Autor verschweigen, liegt in der Brisanz ihrer Aussagen, daß Schröder jedoch viele bis jetzt nicht veröffentlichte Traktate in über ganz Europa verstreuten Bibliotheken heranziehen kann, zeugt von dem detektivischen Spürsinn dieses gelehrten Berliner Philosophen, der mit den "Ursprüngen des Atheismus" die europäische und amerikanische Atheismus-Forschung auf eine ganz neue, doch sichere Basis stellt. Diese Sicherheit gewinnt Schröder dadurch, daß er streng und unerbittlich jede "Verdächtigungshermeneutik" ausschließt. Diese liegt nach Schröder dann vor, wenn der Zeuge für einen Atheismus gleichzeitig auch dessen Ankläger ist.

Wenn Platon zum Beispiel im 10. Buch der "Gesetze" den Atheisten mit Gottesbeweisen entgegentritt und diesen die Todesstrafe androht, so ist er zwar Ankläger für den Atheismus, doch gleichzeitig auch sein einziger Zeuge, denn es ist keine Schrift in der Antike bekannt, auf die Platons Atheismus-Vorwürfe zutreffen würden. Platons "Gesetze" können darum "nicht als Grundlage einer Doxographie des antiken Atheismus dienen. Den Atheismus im strikten Sinne finden wir in keinem theoretischen Text des Altertums tatsächlich vertreten." Atheismus-Vorwürfe sind für Schröder nur Unterstellungen, wenn sie nicht durch Selbstzeugnisse desjenigen erhärtet werden können, der des Atheismus beschuldigt wird. Ein prominentes Beispiel ist Johannes Calvin, der in einem Brief behauptet hatte, Jacques Gruet habe gesagt "Dieu n'est rien." Calvin ist der einzige Zeuge für diesen Satz, für den er Gruet 1547 hinrichten ließ. Hier ist der Zeuge gleichzeitig der Henker, der Satz ist für die Geschichtsschreibung des Atheismus wertlos.

Aber auch nachweislich atheistische Bekenntnisse läßt Schröder nicht gelten. Sie sind für ihn "ohne Interesse, wenn sie unerläutert bleiben und nicht in einen argumentativen Zusammenhang eingebettet sind". Apollinaires schöner Vers "Der süße Plan, die Liebe und Christus sind tot, die Katzen miauen wehmütig" ist kein philosophisches Dokument, und darum ist er uninteressant. Atheismus ist für Schröder ausschließlich die philosophisch begründete Negation der Existenz Gottes. Der Atheist muß einen philosophischen Standpunkt beziehen, keinen bloß bibelkritischen, antiklerikalen oder heterodoxen. Und darum kann Schröder eine kontinuierliche Geschichte des Atheismus seit der Antike verneinen und die These aufstellen: "Vor dem siebzehnten Jahrhundert ist kein philosophisches Dokument bekannt, in dem die Existenz Gottes, eines Welturhebers oder einer Weltursache bestritten wird."

Versteht man unter Atheismus ausschließlich die theoretisch-philosophische Begründung der Nichtexistenz Gottes, dann kann in der Tat erst im siebzehnten Jahrhundert von einem Atheismus "im strikten Sinne" gesprochen werden. Aber was waren Ursache und Grund dafür, daß Schlag 1670 die ersten atheistischen Entwürfe und der erste wirkliche Atheist in der Person des atheistische Flugblätter auf Kirchenbänken hinterlegenden Mathias Knutzer auftraten?

Bei der Jahreszahl 1670 denkt man sofort an Baruch de Spinozas "Tractatus Theologico-Politicus", das Ur-Buch der neuzeitlichen Bibelkritik. Gibt es eine Beziehung zwischen radikaler Bibelkritik und dem neuen Atheismus? Man denkt auch an die Wende in den Naturwissenschaften um 1670, an Isaac Newtons berühmten Satz "Hypotheses non fingo" - ist der Atheismus eine Folge des naturwissenschaftlichen Denkens und der neuen Rationalität? In der Geschichtsschreibung des Atheismus kann man beide Vermutungen bestätigt finden, doch Winfried Schröder lehnt solche und ähnliche Kausalzusammenhänge streng ab: Von der Bibelkritik führe kein Weg zum Atheismus und das wissenschaftliche Weltbild der Atheisten sei "vormodern" und "reaktionär", ihnen hafte "der Ruch der wissenschaftlichen Unseriösität an".

Mit diesen Thesen, die minutiös und scharf begründet werden, zerstört Schröder Legenden und ganze Forschungstraditionen. Für Hermann Ley ("Geschichte der Aufklärung und des Atheismus", ab 1966) und Fritz Mauthner ("Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande", ab 1920) bleibt nur noch ein müdes Lächeln, die neueren Arbeiten zum Atheismus (Ludger Honnefelder, Hartmut Zinser, Oswald Schemmer, Peter Gay und Michael Buckley) erscheinen als "Whig History", als Versuch also, Dokumente früherer Epochen zu Präfigurationen des modernen Liberalismus zu stilisieren.

Je länger man den Ausführungen Schröders folgt, desto brennender wird die Frage, was den Atheismus motiviert hat und woraus das Corpus der von Schröder beschriebenen 37 atheistischen Schriften vor Baron Holbachs "Le systême de la nature" (1771) hervorgegangen ist. Und die Antwort lautet: Es ist der fideistische Skeptizismus, der die Zerstörung der philosophischen Theologie ermöglicht hat. Schröder verweist besonders auf Pierre Charrons "Les trois veritez" (1625) und "De la sagesse" (1671). Wer einräumt, daß das rationaltheologische Fundament des Christentums mit philosophischen Argumenten nicht gesichert werden kann, wer die Unzulänglichkeit der philosophischen Gottesbeweise einsieht, wer die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele nicht rational begründen kann, der hat die Bemühungen der Rationaltheologie als gescheitert angesehen. Wer aber dennoch an den christlichen Glaubenswahrheiten festhält, tut dies aus eigenem Interesse und durch seine individuelle Entscheidung für den Glauben, die durch keine Wahrheitskriterien begründet werden kann. Aber gerade diese Mischung aus Skepsis und fideistischer Apologetik "boten sich geradezu an, von der atheistischen Seite aufgegriffen zu werden und zu einem Argument gegen das Christentum umgeschmiedet zu werden".

Das Argument gegen die fideistische Skepsis fand man durch die Wiederentdeckung des authentischen antiken Pyrrhonismus, der als Möglichkeit nicht nur Entscheidungen empfiehlt, sondern ausdrücklich auch die Enthaltung von Entscheidungen und Urteilen (die "epoché"). Gerade weil, so Sectus Empiricus, die Skeptiker dachten, "daß aufgrund der Gleichwertigkeit (Isosthenie) der entgegengesetzten Argumente die Existenz der Götter nicht eher anzunehmen ist als ihre Nichtexistenz", kann man (muß man) sich des Urteils auch ganz enthalten. Die Wiederentdeckung des authentischen antiken Skeptizismus wurde so zu einem Instrument der Kritik an dem "verkürzten" fideistischen Skeptizismus, der die Enthaltung als Möglichkeit nicht berücksichtigt hatte. Diese Kritik an dem Fideismus behauptete mit dem Fideismus das Scheitern der Rationaltheologie, gegen den Fideismus aber Einseitigkeit und somit die Untauglichkeit seiner Strategien. Und so folgte der letzten bedeutenden Rettung des Christentums bei Charron, Pascal und Montaigne, dem skeptischen Fideismus, als Konsequenz der agnostische Atheismus.

Von den drei Betrügern.

Schröders wichtigste These ist also die, daß der agnostische Atheismus durch die Wiederentdeckung des authentischen antiken Skeptizismus erst ermöglicht worden sei. In der Konfrontation des fideistischen Skeptizismus mit seiner bei Sextus Empiricus überlieferten Gestalt "stellten sich die Fragen, die den Atheismus in das Spektrum der diskutablen philosophischen Position aufrücken ließen. Es war vor allem die Frage nach der Berechtigung des Isosthenieprinzips, die den entscheidenden Schritt auf den agnostischen Atheismus hin anregte."

Schröder befestigt seine These mit einer überwältigenden Fülle von Detailuntersuchungen, von denen nur eine genannt werden soll: Er weist nach, daß der Autor des berüchtigten Buches "De tribus impostoribus" (Von den drei Betrügern Moses, Jesus und Muhammad) der Hamburger Jurist Johann Joachim Müller (1661 bis 1733) war und das Buch nicht früher geschrieben worden sein kann. Auch diese These dürfte schwer zu widerlegen sein.

Da das autonome Denken heute ohne seine turbulenten Anfänge in atheistischen Umtrieben nicht verstehbar ist, muß dieses Buch jedem Denker empfohlen werden. Es ist nicht immer leicht zu lesen, doch es tritt mit dem stolzen Anspruch auf, der Philosophiegeschichte der frühen Neuzeit neue Konturen zu geben. Das Buch und seine Thesen können nur widerlegt werden, wenn aus der Zeit vor dem siebzehnten Jahrhundert ein philosophisches Dokument gefunden wird, in dem die Existenz Gottes bestritten wird.

In der Geschichtensammlung "Gesta Romanorum" vom Ende des vierzehnten Jahrhunderts erklärt ein Philosoph den Verfall eines Königreiches mit dem knappen Satz: "Gott ist tot, deshalb ist das ganze Reich voller Sünder." Für Schröder wäre diese Geschichte mit dem Satz des Philosophen - er wird ausdrücklich als ein solcher bezeichnet - noch kein philosophisches Dokument. Aber vielleicht könnte man über den Wert eines solchen und ähnlichen Dokuments streiten. Mediävisten und Frühneuzeithistoriker sollten sich angesprochen fühlen.

FRIEDRICH NIEWÖHNER.

Winfried Schröder: "Ursprünge des Atheismus". Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts. Quaestiones, Band 11. Verlag Frommann-Holzboog, Stuttgart 1998. 618 S., geb., 167,- DM.

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