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Ein junger Deutscher in den sechziger Jahren schreibt hier, heimgesucht von einer übergroßen Sensibilität für die Allgegenwart der Vergangenheit. Geradezu körperlich trägt er in seiner eigenen Person die Unfähigkeit aus, zu vergessen, was er selbst nicht bewusst erlebt hat: Krieg und Vernichtung. Die stark autobiographisch geprägte Erzählung folgt den zahlreichen Etappen einer Suche nach den eigenen Ursprüngen, zeichnet Aufbrüche, Fluchten, Irrwege nach. Da sind die Kindheitserlebnisse der unmittelbaren Nachkriegsjahre auf dem väterlichen Fabrikgelände, wo die quälenden Fragen erwachen, da ist…mehr

Produktbeschreibung
Ein junger Deutscher in den sechziger Jahren schreibt hier, heimgesucht von einer übergroßen Sensibilität für die Allgegenwart der Vergangenheit. Geradezu körperlich trägt er in seiner eigenen Person die Unfähigkeit aus, zu vergessen, was er selbst nicht bewusst erlebt hat: Krieg und Vernichtung. Die stark autobiographisch geprägte Erzählung folgt den zahlreichen Etappen einer Suche nach den eigenen Ursprüngen, zeichnet Aufbrüche, Fluchten, Irrwege nach. Da sind die Kindheitserlebnisse der unmittelbaren Nachkriegsjahre auf dem väterlichen Fabrikgelände, wo die quälenden Fragen erwachen, da ist ein Jahr zwischen Überschwang und Angst in einem israelischen Kibbuz, da ist das auf einer Idylle des Vergessens wiedererstehende Freiburg der späten sechziger Jahre, in das der jüdische Freund auf Besuch kommt, da ist schließlich das mit Massen von Emigranten geteilte Bemühen um eine akademische Anstellung in Amerika, was zu grotesken Begegnungen, aber auch in eine neue Zukunft führt... »Ursprünge« ist ein sehr persönliches Buch, aber auch ein Schlüssel zum Verständnis einer ganzen Generation zwischen Enttäuschung und Wut, Anpassung und Aufbegehren. Schürmanns Schreibweise ist von irritierender Präzision, entwaffnender Direktheit und schmerzhafter Konsequenz. Schürmanns einziges literarisches Werk erschien 1976 in Frankreich und wurde mit dem Prix Broquette-Gonin der Académie Française ausgezeichnet. Im Umweg über die französische Sprache, über 30 Jahre nach Erscheinen, ist die hier vorgelegte deutsche Erstausgabe ein auch für die heutigen Generationen eminent wichtiges Buch.

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Autorenporträt
Schürmann, ReinerReiner Schürmann wurde 1941 in Amsterdam geboren und verbrachte seine Kindheit und Jugend in Krefeld. Ab 1960 studierte er Philosophie in München, unterbrochen durch einen Aufenthalt in einem israelischen Kibbuz. 1961 trat er als Novize bei den Dominikanern in Frankreich ein und studierte von 1962-69 Theologie im Saulchoir, Essonne, bei Paris, unterbrochen durch einen Studienaufenthalt in Freiburg i. Br. bei Heidegger. 1970 wurde er zum Dominikanerpriester ordiniert, verließ den Orden 1975 jedoch wieder. Seit den frühen siebziger Jahren lebte Schürmann in den USA und wurde 1975 von Hannah Arendt und Hans Jonas an die New School for Social Research in New York berufen. 1993 starb Reiner Schürmann an Aids. Sein umfangreiches philosophisches Werk verfasste Schürmann in französischer Sprache.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.01.2009

Spuren im Schnee

Überlebensbericht eines Unbedrohten: Der 1941 geborene Philosoph Reiner Schürmann haderte stets mit seinem Deutschsein. Jetzt liegt seine auf Französisch verfasste autobiographische Erzählung "Ursprünge" in deutscher Übersetzung vor.

Zu spät geboren, um den Krieg zu erleben, zu früh, um ihn zu vergessen - heißt ein Kernsatz dieses Buchs. Zu spät gelesen, um die Publikation in ihrer ursprünglichen Virulenz aufnehmen zu können - so muss der deutsche Leser hinzufügen. Der Autor, Jahrgang 1941, ist seit fünfzehn Jahren tot, das Buch erschien vor über dreißig Jahren, auf Französisch. Es liest sich heute als eine Mischung aus Zeitzeugenschaft, Vergangenheitssucht, Schuldobsession, schon ferner Memoirenliteratur: spannend in ihrer Einzigartigkeit wie auch in dem, was für jene ins historische Gedächtnisloch Deutschlands hineingeborene Nachkriegsgeneration gerade typisch war.

"Mai '40 müsst ihr ja gefeiert haben", sagt der Autor einmal beiläufig zu seinem Vater. "Wie bitte?" - Nun, neun Monate später sei dann ja er zur Welt gekommen. So klingt die eine, die freche Tonart des Buchs. Die andere ist ein Ringen um Sprache, im Bestreben, über den im eigenen Blut pulsierenden Vernichtungswahn hinwegzukommen. "Die Sprache lässt den Besiegten im Stich", heißt es an einer Stelle - "das ,deutsche Problem': zuallererst eine Rückeroberung der Sprache". Der Autor schreibt unter dem Einfluss einer "maskierten Sprache", die ihm bei jedem Satz sagt, dass in ihm dasselbe Blut fließe wie in den Adern Adolf Eichmanns.

Reiner Schürmann, dieser in Deutschland kaum bekannt gewordene Philosoph, Verfasser von Studien über Meister Eckhart und über Heidegger, der hauptsächlich in Frankreich und in den Vereinigten Staaten lebte, gehörte zu jenen Jahrgängen, die am Deutschsein schwer trugen. Auf Kreta wurde dem Sechzehnjährigen in einem Restaurant die Bedienung verweigert. Er reagierte mit Übersiedlung in einen israelischen Kibbuz, aus dem er wegen seiner Herkunft prompt wieder ausgeschlossen wurde. Deutsch-israelische Aussöhnung: alles Schwindel. ",Woher kommen Sie?' Lächeln. ,Aus Köln.' Schweigen. ,Ah.'" Im Land der Kibbuzim ist Schürmann auch Opfer einer Schlägerbande geworden. "Ich habe hierherkommen müssen, um meinen eigenen Totenkopf zu sehen", sagt er sich, während der Arzt im Krankenhaus von Haifa das Röntgenbild ans Fenster hält.

Diese leicht flapsige Emphase verleiht dem 1976 erschienenen Lebensbericht etwas schon Entrücktes und zugleich tief Anrührendes. Die schrillste Betroffenheitspoesie entgleist immerfort, absichtlich, in sarkastische Nebentöne. Beim Besuch des permanent Aspirin schluckenden israelischen Freundes in Freiburg verzerrt sich die Erhabenheit des Schwarzwalds zum unerträglich Normalität strotzenden Harzgeruch, wenn der redselige Apotheker, der das Aspirin verkauft, mit seinem Fluch "Heiliger Äskulap!" sich als ehemaliger Folterarzt von Belzec verrät. Das in Krefeld herangewachsene Nichtopfer Schürmann schreibt aus jener extrem gespannten Distanz, in der die überlebenden Opfer des Holocaust zu erzählen versuchten und oft nicht konnten.

"Los, gehen wir! Es ist dein Geburtstag, ich habe eine Überraschung für dich", sagte eine rothaarige Fabrikarbeiterin eines Tages zu dem auf dem väterlichen Unternehmen heranwachsenden Kind. Sie führte den Knaben dann durch lange feuchte Gänge, bis in einem dunklen Raum ein süßlich ekliger Gestank vor ihm aufstieg. Er erkennt zwei menschliche Schädel in einem modrig formlosen Haufen und die Knochen einer Hand, um den Griff eines verrosteten Messers geklammert. Man habe sie "Pyjamas" genannt, belehrt ihn die Frau: Zwangsarbeiter, die hier einquartiert waren. Und als der Vater des Knaben nach 1945 dann schwungvoll die Fabrik übernahm, seien die "Pyjamas" hier einfach vergessen worden.

Manchmal tritt Schürmann in seinem Bericht auch hinter eingestreute Zeitungsartikel oder fremde Erinnerung zurück. So zitiert er einen, der als Postbote im Ötztal dem Lagerschicksal zu entgehen suchte, wie er eines Tages auf den Skiern in einer Waldlichtung auf Spuren im Schnee stieß: Spuren von Frauenschuhen, mit hohen Absätzen, manche barfüßig, auch von kleinen Füßen, da eine Kindermütze am Boden, dort ein blutiges Taschentuch - alle Spuren dicht beieinander von rechts nach links die Lichtung durchquerend und daneben die Spuren massiver Nagelstiefel. Eindringlicher ist selten eine Massenverhaftung geschildert worden. Beim Aufschreiben befalle ihn ein Eifer, als übe er Kalligraphie, notiert der Autor Schürmann: "Eine Gier in der Kehle. Unersättlich, gefräßig." Er stopfe sich voll mit Vergangenheit, er sei ein Vergangenheitsfresser, und "in meiner Fresssucht hasse ich mich".

Diese Sucht und dieser Hass haben bei anderen seiner Generation zu Texten und Taten geführt, die heute ungenießbar sind. Hier schimmert durch die Verkrampfungen aus Pose und Obsession eine entwaffnende Aufrichtigkeit, die dem einzigen literarischen Text dieses Autors Bestand gibt. Fünf Jahre nach der französischen Neuauflage liest man ihn auch auf Deutsch mit Gewinn, in einer vorzüglichen Übersetzung, die mit Stilverknappung den Situationen alle Schwere austreibt.

JOSEPH HANIMANN

Reiner Schürmann: "Ursprünge". Erzählung. Aus dem Französischen von Michael Heitz und Esther von der Osten. Diaphanes Verlag, Zürich/Berlin 2008. 217 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Joseph Hanimann hat Reiner Schürmanns autobiografische Erzählung "Ursprünge", die 1976 auf Französisch publiziert wurde und erst jetzt auf Deutsch erscheint, bewegt gelesen, auch wenn er meint, dass das Buch zu spät kommt, um in seiner damaligen "Virulenz" wahrgenommen zu werden. Denn es ist eine eigentümliche Mixtur aus Erinnerung, Vergangenheitsverfallenheit und "Schuldobsession", die dem Buch des 1941 Geborenen Spannung und Reiz verleihen, betont der Rezensent. Der Philosoph, dessen "Ursprünge" sein einziges literarisches Werk blieb, hat sich neben der eigenen auch fremder Erinnerung bedient und beispielsweise mit der Schilderung eines Postboten, der Spuren einer Massenverhaftung im Schnee entdeckt, ein beklemmendes Bild gezeichnet, so der Rezensent beeindruckt. Während bei anderen Vertretern dieser Generation die "Vergangenheitssucht" und der "Hass", der auch dem Autor zuzuschreiben sei, zu heute kaum noch erträglichen Erzeugnissen führte, erkennt Hanimann im vorliegenden Buch bleibenden Wert und Lektüregewinn, was er besonders der zwischen den Zeilen stehenden "Aufrichtigkeit" zuschreibt. Dafür macht er nicht zuletzt auch die Übersetzung ins Deutsche mitverantwortlich, die dankenswerterweise das allzu "Schwere" meidet, wie er lobt.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Schürmanns Sprache, übersetzt von Michael Heitz und Esther von der Osten, ist klar und dynamisch, er formuliert knapp und körperlich-direkt. Reiner Schürmann hat ein kluges und leidenschaftliches Buch geschrieben, das auf die früh in sein Leben eingebrochene Gewalt und Verrohung mit dem literarischen Gegenprogramm hellsichtiger und feinfühliger Beobachtung antwortet.« Frank Kaspar, WDR 3