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In seiner historischen Novelle greift Gottfried Keller (1819-1890) auf die religiösen Auseinandersetzungen zwischen den reformierten und altkatholischen Schweizer Kantonen zu Beginn des 16. Jahrhunderts zurück. Als der Reformator Zwingli versucht, in Zürich die Reformation auch mit Gewalt durchzusetzen, schlägt sich der Söldner Hansli Gyr auf seine Seite. Damit aber gerät er in Konflikt mit seiner Verlobten Ursula, die zur radikal-religiösen Sekte der Wiedertäufer gehört. Beide werden unaufhaltsam immer weiter in das Grauen des Religionskrieges hineingezogen.

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Produktbeschreibung
In seiner historischen Novelle greift Gottfried Keller (1819-1890) auf die religiösen Auseinandersetzungen zwischen den reformierten und altkatholischen Schweizer Kantonen zu Beginn des 16. Jahrhunderts zurück. Als der Reformator Zwingli versucht, in Zürich die Reformation auch mit Gewalt durchzusetzen, schlägt sich der Söldner Hansli Gyr auf seine Seite. Damit aber gerät er in Konflikt mit seiner Verlobten Ursula, die zur radikal-religiösen Sekte der Wiedertäufer gehört. Beide werden unaufhaltsam immer weiter in das Grauen des Religionskrieges hineingezogen.
Autorenporträt
Gottfried Keller, geb. 1819 in Zürich, gest. 1890, wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf. Nachdem er wegen eines Streichs die Schule verlassen musste, lernte er das Zeichnen und begann zu schreiben. Im Jahr 1840 konnte er, unterstützt von seiner Mutter, ein Studium an der Münchner Kunstakademie beginnen, welches er aber nicht abschloss. 1842 kam er zurück nach Zürich. Stipendien und wiederum die finanzielle Unterstützung der Mutter ermöglichten ihm Aufenthalte in Heidelberg und Berlin, wo einige seiner bedeutendsten Werke entstanden. Er kehrte 1855 zurück zu seiner Mutter nach Zürich und wurde hier im Jahr 1861 zum Stadtschreiber. Dieses Amt übte er aus bis 1876, danach beanspruchte sein literarisches Arbeiten seine ganze Zeit. Gottfried Keller starb im Jahr 1890 in seiner Heimatstadt Zürich.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.06.2019

Eine Weltsekunde, die alles zerstört

Als die Wiedertäufer die Apokalypse erwarteten: Gottfried Kellers düstere Liebesgeschichte "Ursula", illustriert von Hannes Binder

Ein Text, entsprungen aus der Schraubzwinge des Literaturbetriebs: Als Gottfried Keller seinem Verleger Ferdinand Weibert am ersten Weihnachtstag 1875 vom Plan berichtet, seine in der "Deutschen Rundschau" erscheinenden Erzählungen unter dem Titel "Züricher Novellen" auf den Markt bringen zu wollen, beginnt die Rechnerei: Vier Novellen liegen bereits vor, welche die Zürcher Stadtgeschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart umspannen, hinzu kommt noch eine Rahmenerzählung - der "Herr Jacques". Aber noch fehlt etwas: Keller erwähnt "ein kleineres Stück, aus der Reformationszeit", das sich eventuell ausarbeiten ließe, so dass die Novellensammlung auf zwei Bände aufgeteilt werden könnte. Und in der Tat: "Ursula", so wird die Novelle am Ende heißen, beschließt die im Dezember 1877 erscheinende zweibändige Ausgabe der "Züricher Novellen".

Begonnen hatte Keller mit der Arbeit am Text freilich erst im Sommer des gleichen Jahres, so dass ihre Fertigstellung unter größtem Zeitdruck erfolgte. Gegenüber Theodor Storm räumte Keller entsprechende Mängel in der Gestaltung des Schlusses ein: "Ursula" sei "einfach nicht fertig und Schuld daran ist der buchhändlerische Weihnachtstrafic, der mir auf dem Nacken saß".

Nachgeschoben und unvollendet: Es gibt günstigere Vorzeichen für eine Novelle, die, um ihr chronologisches Recht gebracht, innerhalb jenes zweiten Bandes auch noch im Schatten von Kellers Publikumserfolg "Das Fähnlein der sieben Aufrechten" stand. Die Entscheidung des Galiani Verlags, "Ursula" jetzt aus dem Publikationskontext zu lösen und durch den Zürcher Illustrator Hannes Binder in sprechender Düsternis illustrieren zu lassen, mag man somit im Sinne einer höheren literarischen Gerechtigkeit durchaus begrüßen. Was aber ist das nun für ein Text?

Zunächst einmal eine Liebesgeschichte, eine sehr kellersche Liebesgeschichte, möchte man hinzufügen. Da ist das Paar: hier der Kriegsmann Hansli Gyr, soeben aus der Lombardei heimgekehrt, wo er das päpstliche Territorium gegen die Franzosen verteidigt hat - dort Ursula Schnurrenberger, deren Vater eine Täufergesellschaft anführt, deren Wahnsystem sie sich nicht zu entziehen vermag. Vor der historischen Zäsur der Reformation galt die Verbindung von Hansli und Ursula als ausgemacht; nun ist sie verschattet. Jene Weltsekunde, in der "die Religionen sich wenden", hat die beiden Liebenden durch einen epochalen Schnitt voneinander getrennt: Während Hans Gyr sich alsbald in der neuen Welt einfindet und zu einem Gefolgsmann Zwinglis wird, verharrt Ursula im Kosmos der Täufer und erwartet mit ihnen das Tausendjährige Reich. Um diese Liebe wieder zu heilen, muss man folglich durch die Eschatologie hindurch, muss man stillgestellte und zukunftsoffene Geschichte in eins bringen.

Es wird wohl gelingen: Am Ende findet Ursula ihren Hans nach der Zweiten Kappeler Schlacht halbtot in einem Graben, die beiden werden gefangen genommen, genesen, heiraten, und noch "gegen zweihundert Jahre lang" hausen ihre Nachfahren auf jenem "gut bestellten Hofe, welcher der Gyrenhof genannt wurde". Man kann jene so gerafft erzählte wie seltsam konstruierte Schlusswendung sicherlich Kellers bereits oben erwähntem Abgabedruck zuschreiben. Andererseits fügt sich der Novellenschluss in seiner Brachialität recht gut zu der Beobachtung, dass Kellers Liebesgeschichten - das gilt sowohl für "Romeo und Julia auf dem Dorfe" und für "Das verlorene Lachen" als auch für den "Landvogt vom Greifensee" - eigentlich Gleichungen sind: Das Resultat (Erfolg oder Scheitern) ist bereits gesetzt und in seiner erzählerischen Ausgestaltung mehr oder weniger interessant. Gesucht wird hingegen ein Prinzip, mit dessen Hilfe sich die Gleichung plausibilisieren lässt. Irgendwo in der erzählten Welt muss es aufzuspüren sein. Die Historie bleibt bei Keller nämlich selten Kulisse, sondern stiftet seinen Texten immer wieder auch ihr poetisches Fundament.

Auch in "Ursula" bleibt dieses Fundament nicht unverborgen, ja es wird geradezu mit großer Geste enthüllt. So steht sich in der Mitte der Erzählung das Paar unversehens auf einer Bergmatte gegenüber. Der Mann hat die Sonne hinter sich, und so treffen sich für einen kurzen Augenblick chiliastische Verklärung und zwinglianische Nüchternheit in der sonnenumglänzten Gestalt Hansli Gyrs, in der Ursula den Erzengel Gabriel zu erkennen glaubt. Ins Recht gesetzt wird die Vereinigung beider Welten durch einen "seltsamen Schönheitsstrahle" auf Ursulas Gesicht - doch entsteht "diese Schönheit sozusagen in Abwesenheit des Geistes wie der Sonnenblick, der über ein stilles Wasser läuft".

Wer die Novelle kennt, der wartet geradezu auf die graphische Umsetzung dieses Lichtspiels im Wechsels - und wird ausgerechnet hier von Binders Illustration doch enttäuscht. Viel zu grob, viel zu szenisch passt sich die Schabkartongrafik in die Erzählung ein, was durchaus ärgerlich ist, beweisen doch einige der anderen Illustrationen, dass der Verzicht auf eine bildliche Übertragung des Narrativs und die Wende hin zur Emblematik (musterhaft etwa der Teufel über der Zürcher Quaibrücke) Kellers Text noch eine zweite Ebene hinzuzusetzen vermag. So zeigt Binder leider doch viel zu oft nur das, was nun einmal da ist. Und wenn es etwas gibt, gegen das jene Szene auf der Bergmatte sich wendet, dann ist es eben: die unverrückbare Anwesenheit einer vorgefassten Erzählung in der sinnlichen Erfahrung. Ihren Zauber verdankt sie der Abwesenheit des Geistes.

Diese bezeichnet aber den eigentlichen Geschichtsort der Novelle. Alle Figuren der Erzählung verbindet die gleiche Schwellenerfahrung, der Eintritt in das, was Hannah Arendt in der "Vita activa" eine "Weltlosigkeit ohnegleichen" genannt hat. Im Horizont des Reformationsgeschehens zersplittern die Gewissheiten der sinnlichen Erfahrung - konkret im Zürcher Bildersturm 1523 - in auseinanderstrebende Raisonnements. Wenn Kellers Novelle das neuzeitliche Subjekt im Moment seiner Entstehung einzufangen versucht, dann macht sie durchaus deutlich, dass es niemanden auf dieser Welt mehr gibt, der hinter den Geist noch zurück kann. Das gilt selbst und gerade für Sektierer wie den "kalten Wirtz von Goßau", für den die Heilige Schrift nur Bedeutung besitzt, insofern er selbst den Heiligen Geist in sie "hineinblasen" kann. Womöglich ist es gerade die Radikalität der Trennung von Materie und Bedeutung (die umgekehrt wieder dazu führt, dass alles mit allem verknüpft wird, Gott "als Kot auf der Gasse" glänzt), welche die Auseinandersetzung mit den Täufern in diesem Text so wichtig werden lässt. In ihrer haltlosen Raserei durch die "fluterregenden Zeichen und Gestirne" - Ernst Bloch setzt das ja in seinem Thomas Münzer-Buch auseinander - legen die Ketzer des 16. Jahrhunderts den Zustand ihrer Zeit viel deutlicher offen als ihre katholischen oder reformatorischen Kontrahenten.

Wenn man aus dieser Welt heraus erzählen und verstehen will, welche Verlusterfahrung ihr vorausliegt, muss man von den Rändern her kommen. Keller wusste das nur zu gut. Gerade weil er so ein ausgeprägtes Sensorium für den Prozess der Säkularisierung besitzt, verharrt er nicht bei den ,großen Linien', dem Aufstieg und Tod Zwinglis, den Zürcher Disputationen, der Kappeler Schlacht. Auf diesen Linien finden sich die Heldentaten, die herakleischen Romane, mit denen der Mensch der Neuzeit die Geschichte seiner Herkunft zu übersprechen versucht, Erzählungen von "den Männern der Landschaft, welche mit wohlwollender Offenheit ihre Stimme erhoben, aber zugleich mit eiserner Zuverlässigkeit für das gemeine Wesen einstanden". Erzählungen von Männern wie Hansli Gyr.

Aus gutem Grund heißt die Novelle aber eben nicht - wie ursprünglich geplant - "Hansli Gyr", sondern "Ursula". Alles liegt bei der Frau. Das Geheimnis dieser Liebe, die Auferstehung von den Toten, die Verschmelzung der Heilserwartung mit der fortschreitenden Zeit. Die Schönheit. Denn nur Ursula weiß, was sich dort einst zeigte, in der Abwesenheit des Geistes.

PHILIPP THEISOHN

Gottfried Keller: "Ursula".

Illustriert von Hannes Binder. Verlag Galiani Berlin, Berlin 2019. 128 S., geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Eine kraftvoll erzählte Liebesgeschichte. Die kostbare Ausstattung dieser wunderbar illustrierten Ausgabe trägt dem 200. Geburtstag wie der Aktualität des Themas Religionen auf eindrückliche Weise Rechnung. Harald Loch Hessische/Niedersächsische Allgemeine
Eine Weltsekunde, die alles zerstört

Als die Wiedertäufer die Apokalypse erwarteten: Gottfried Kellers düstere Liebesgeschichte "Ursula", illustriert von Hannes Binder

Ein Text, entsprungen aus der Schraubzwinge des Literaturbetriebs: Als Gottfried Keller seinem Verleger Ferdinand Weibert am ersten Weihnachtstag 1875 vom Plan berichtet, seine in der "Deutschen Rundschau" erscheinenden Erzählungen unter dem Titel "Züricher Novellen" auf den Markt bringen zu wollen, beginnt die Rechnerei: Vier Novellen liegen bereits vor, welche die Zürcher Stadtgeschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart umspannen, hinzu kommt noch eine Rahmenerzählung - der "Herr Jacques". Aber noch fehlt etwas: Keller erwähnt "ein kleineres Stück, aus der Reformationszeit", das sich eventuell ausarbeiten ließe, so dass die Novellensammlung auf zwei Bände aufgeteilt werden könnte. Und in der Tat: "Ursula", so wird die Novelle am Ende heißen, beschließt die im Dezember 1877 erscheinende zweibändige Ausgabe der "Züricher Novellen".

Begonnen hatte Keller mit der Arbeit am Text freilich erst im Sommer des gleichen Jahres, so dass ihre Fertigstellung unter größtem Zeitdruck erfolgte. Gegenüber Theodor Storm räumte Keller entsprechende Mängel in der Gestaltung des Schlusses ein: "Ursula" sei "einfach nicht fertig und Schuld daran ist der buchhändlerische Weihnachtstrafic, der mir auf dem Nacken saß".

Nachgeschoben und unvollendet: Es gibt günstigere Vorzeichen für eine Novelle, die, um ihr chronologisches Recht gebracht, innerhalb jenes zweiten Bandes auch noch im Schatten von Kellers Publikumserfolg "Das Fähnlein der sieben Aufrechten" stand. Die Entscheidung des Galiani Verlags, "Ursula" jetzt aus dem Publikationskontext zu lösen und durch den Zürcher Illustrator Hannes Binder in sprechender Düsternis illustrieren zu lassen, mag man somit im Sinne einer höheren literarischen Gerechtigkeit durchaus begrüßen. Was aber ist das nun für ein Text?

Zunächst einmal eine Liebesgeschichte, eine sehr kellersche Liebesgeschichte, möchte man hinzufügen. Da ist das Paar: hier der Kriegsmann Hansli Gyr, soeben aus der Lombardei heimgekehrt, wo er das päpstliche Territorium gegen die Franzosen verteidigt hat - dort Ursula Schnurrenberger, deren Vater eine Täufergesellschaft anführt, deren Wahnsystem sie sich nicht zu entziehen vermag. Vor der historischen Zäsur der Reformation galt die Verbindung von Hansli und Ursula als ausgemacht; nun ist sie verschattet. Jene Weltsekunde, in der "die Religionen sich wenden", hat die beiden Liebenden durch einen epochalen Schnitt voneinander getrennt: Während Hans Gyr sich alsbald in der neuen Welt einfindet und zu einem Gefolgsmann Zwinglis wird, verharrt Ursula im Kosmos der Täufer und erwartet mit ihnen das Tausendjährige Reich. Um diese Liebe wieder zu heilen, muss man folglich durch die Eschatologie hindurch, muss man stillgestellte und zukunftsoffene Geschichte in eins bringen.

Es wird wohl gelingen: Am Ende findet Ursula ihren Hans nach der Zweiten Kappeler Schlacht halbtot in einem Graben, die beiden werden gefangen genommen, genesen, heiraten, und noch "gegen zweihundert Jahre lang" hausen ihre Nachfahren auf jenem "gut bestellten Hofe, welcher der Gyrenhof genannt wurde". Man kann jene so gerafft erzählte wie seltsam konstruierte Schlusswendung sicherlich Kellers bereits oben erwähntem Abgabedruck zuschreiben. Andererseits fügt sich der Novellenschluss in seiner Brachialität recht gut zu der Beobachtung, dass Kellers Liebesgeschichten - das gilt sowohl für "Romeo und Julia auf dem Dorfe" und für "Das verlorene Lachen" als auch für den "Landvogt vom Greifensee" - eigentlich Gleichungen sind: Das Resultat (Erfolg oder Scheitern) ist bereits gesetzt und in seiner erzählerischen Ausgestaltung mehr oder weniger interessant. Gesucht wird hingegen ein Prinzip, mit dessen Hilfe sich die Gleichung plausibilisieren lässt. Irgendwo in der erzählten Welt muss es aufzuspüren sein. Die Historie bleibt bei Keller nämlich selten Kulisse, sondern stiftet seinen Texten immer wieder auch ihr poetisches Fundament.

Auch in "Ursula" bleibt dieses Fundament nicht unverborgen, ja es wird geradezu mit großer Geste enthüllt. So steht sich in der Mitte der Erzählung das Paar unversehens auf einer Bergmatte gegenüber. Der Mann hat die Sonne hinter sich, und so treffen sich für einen kurzen Augenblick chiliastische Verklärung und zwinglianische Nüchternheit in der sonnenumglänzten Gestalt Hansli Gyrs, in der Ursula den Erzengel Gabriel zu erkennen glaubt. Ins Recht gesetzt wird die Vereinigung beider Welten durch einen "seltsamen Schönheitsstrahle" auf Ursulas Gesicht - doch entsteht "diese Schönheit sozusagen in Abwesenheit des Geistes wie der Sonnenblick, der über ein stilles Wasser läuft".

Wer die Novelle kennt, der wartet geradezu auf die graphische Umsetzung dieses Lichtspiels im Wechsels - und wird ausgerechnet hier von Binders Illustration doch enttäuscht. Viel zu grob, viel zu szenisch passt sich die Schabkartongrafik in die Erzählung ein, was durchaus ärgerlich ist, beweisen doch einige der anderen Illustrationen, dass der Verzicht auf eine bildliche Übertragung des Narrativs und die Wende hin zur Emblematik (musterhaft etwa der Teufel über der Zürcher Quaibrücke) Kellers Text noch eine zweite Ebene hinzuzusetzen vermag. So zeigt Binder leider doch viel zu oft nur das, was nun einmal da ist. Und wenn es etwas gibt, gegen das jene Szene auf der Bergmatte sich wendet, dann ist es eben: die unverrückbare Anwesenheit einer vorgefassten Erzählung in der sinnlichen Erfahrung. Ihren Zauber verdankt sie der Abwesenheit des Geistes.

Diese bezeichnet aber den eigentlichen Geschichtsort der Novelle. Alle Figuren der Erzählung verbindet die gleiche Schwellenerfahrung, der Eintritt in das, was Hannah Arendt in der "Vita activa" eine "Weltlosigkeit ohnegleichen" genannt hat. Im Horizont des Reformationsgeschehens zersplittern die Gewissheiten der sinnlichen Erfahrung - konkret im Zürcher Bildersturm 1523 - in auseinanderstrebende Raisonnements. Wenn Kellers Novelle das neuzeitliche Subjekt im Moment seiner Entstehung einzufangen versucht, dann macht sie durchaus deutlich, dass es niemanden auf dieser Welt mehr gibt, der hinter den Geist noch zurück kann. Das gilt selbst und gerade für Sektierer wie den "kalten Wirtz von Goßau", für den die Heilige Schrift nur Bedeutung besitzt, insofern er selbst den Heiligen Geist in sie "hineinblasen" kann. Womöglich ist es gerade die Radikalität der Trennung von Materie und Bedeutung (die umgekehrt wieder dazu führt, dass alles mit allem verknüpft wird, Gott "als Kot auf der Gasse" glänzt), welche die Auseinandersetzung mit den Täufern in diesem Text so wichtig werden lässt. In ihrer haltlosen Raserei durch die "fluterregenden Zeichen und Gestirne" - Ernst Bloch setzt das ja in seinem Thomas Münzer-Buch auseinander - legen die Ketzer des 16. Jahrhunderts den Zustand ihrer Zeit viel deutlicher offen als ihre katholischen oder reformatorischen Kontrahenten.

Wenn man aus dieser Welt heraus erzählen und verstehen will, welche Verlusterfahrung ihr vorausliegt, muss man von den Rändern her kommen. Keller wusste das nur zu gut. Gerade weil er so ein ausgeprägtes Sensorium für den Prozess der Säkularisierung besitzt, verharrt er nicht bei den ,großen Linien', dem Aufstieg und Tod Zwinglis, den Zürcher Disputationen, der Kappeler Schlacht. Auf diesen Linien finden sich die Heldentaten, die herakleischen Romane, mit denen der Mensch der Neuzeit die Geschichte seiner Herkunft zu übersprechen versucht, Erzählungen von "den Männern der Landschaft, welche mit wohlwollender Offenheit ihre Stimme erhoben, aber zugleich mit eiserner Zuverlässigkeit für das gemeine Wesen einstanden". Erzählungen von Männern wie Hansli Gyr.

Aus gutem Grund heißt die Novelle aber eben nicht - wie ursprünglich geplant - "Hansli Gyr", sondern "Ursula". Alles liegt bei der Frau. Das Geheimnis dieser Liebe, die Auferstehung von den Toten, die Verschmelzung der Heilserwartung mit der fortschreitenden Zeit. Die Schönheit. Denn nur Ursula weiß, was sich dort einst zeigte, in der Abwesenheit des Geistes.

PHILIPP THEISOHN

Gottfried Keller: "Ursula".

Illustriert von Hannes Binder. Verlag Galiani Berlin, Berlin 2019. 128 S., geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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