Eigentlich hatten Therese und ihre Freundin Francoise vor, nach Paris zu gehen und dort berühmte Literaturkritikerinnen, Schauspielerinnen oder Geigerinnen zu werden. Wie ihre Freunde aus dem Cafe "Diable au corps", der blasse Daniel, der begabte, etwas arrogante Jean oder der verträumte Luc stellten sich die beiden Mädchen irgend etwas Außergewöhnliches für ihre Zukunft vor. Dann aber wird Francoise schwanger, und plötzlich müssen Entscheidungen gefällt werden, die mit einem Bohemeleben nicht zu vereinbaren sind. Dieser fragmentarisch gebliebene Roman der großen belgischen Autorin, von der Presse einhellig alseine der wichtigsten Entdeckungen der letzten Jahre gefeiert, ergänzt ihre Werkausgabe bei Piper.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.06.2002Die zweite Phase
Madeleine Bourdouxhes Clique wird erwachsen
Eine weitere Perle in der Kette europäischer Adoleszenzliteratur aus den Sturm- und-Drang-Phasen des zwanzigsten Jahrhunderts ist wiederaufgetaucht. Piper wagt die Erstausgabe von "Vacances", dem fragmentarisch gebliebenen Debütroman der Belgierin Madeleine Bourdouxhe, der 1936 nur auszugsweise - in einer Brüsseler Anarchistenzeitschrift - erschienen war.
"Vacances" steht in der Tradition von Wedekinds "Frühlings Erwachen", Fleißers "Fegefeuer in Ingolstadt", Werfels "Abituriententag" und Annette Kolbs "Daphne Herbst". Auch Gide und Queneau sind seine Paten. Das Buch handelt von einer Gymnasiasten-Clique in einer nordischen Stadt, die in ihrem Stammlokal vom Künstlerleben träumt, flirtet und über Gott und die Welt debattiert. Parties im Tennisclub, Spaziergänge im Wald und heimliche Treffen in einem Stundenhotel rhythmisieren das schöne Einerlei des Schülerdaseins, bis die Kurbel der wohlfeilen Muße plötzlich überdreht wird. Aus Liebeskummer und übergroßen Ansprüchen an sich selbst bringt Daniel, ein Musiker, sich um. Françoise ist in ihrer ersten Affäre schwanger geworden; gemeinsam mit Jean, dem Vater des Kindes, gibt sie nach einer mißglückten Abtreibung die Studienpläne auf und beginnt ein bürgerliches Familienleben. Damit landen sie genau dort, wo sie nie hinkommen wollten: im spießigen Alltag der Eltern.
Bourdouxhes Roman fängt den transitorischen Moment an der Grenze zum Erwachsenenleben ein, die Phase, in der zahllose Möglichkeiten sich in begrenzte Realitäten verwandeln und der ganze Reichtum der jugendlichen Gedankenwelt sich wie ein Parfum verflüchtigt. Am schärfsten herausgearbeitet ist die Freundschaft von Françoise und Thérèse. Sie tauschen Zärtlichkeiten und malen sich eine gemeinsame berufliche Zukunft aus. Bemerkenswert ist Bourdouxhes schnörkellose Darstellung der weiblichen Psyche. Von den erotischen Gespinsten ihrer Heldinnen und den paradoxen Gefühlen beim Beischlaf erzählt sie ebenso en détail wie von einer Fehlgeburt und der Last des Stillens. Erst der Kult, den Françoise um Jean treibt, macht dem Mädchenbund ein Ende. Als Liebling der Damen wird Jean anfangs sehr realistisch gezeichnet, seine Urlaubsabenteuer mit einer Pensionswirtin und ihrer Tochter nehmen Camus' lakonische Kühle vorweg.
Doch im Verlauf des Textes verwandelt sich Bourdouxhes Bel-Ami-Figur in eine Frauenphantasie: Françoises unbedingte Hingabe erzieht ihn zum treusorgenden Ehemann, der als Lehrer für den Mittagsschlaf nach Hause kommt. Das Ungenügen, das mit dieser undramatischen Lösung einhergeht, zeigt sich symptomatisch in der Gereiztheit, die von nun an Françoise ergreift. Eine neue, durch Langeweile gespeiste Eitelkeit ließe die junge Hausfrau einfach flach erscheinen, wäre da nicht eine bizarre Aggressivität, die in der Verspottung Jeans und einer neuen Grausamkeit Thérèse gegenüber zum Ausdruck kommt. "Am liebsten", heißt es von Françoise nach einem Besuch ihrer Freundin, "würde sie diese Gestalt, die sie so sehr mochte, an den Schultern packen, auf die Erde drücken und diesen Augen für immer die Hoffnung nehmen."
Es ist Bourdouxhe nicht gelungen, ihre Heldin entweder über den Tod der Illusion der großen Liebe hinaus zu entwickeln oder aber eine solche Liebe mit all ihren Widersprüchen und Komplikationen zu entfalten. Für eine Momentaufnahme der verwirrenden Freiheit, die der Wachstumsschub der Pubertät auslöst, besitzt die Autorin alle nötigen Instrumente, für den Umgang mit Phase zwei, der Zeit, in der Befreiung erst von Zwängen zu ertrotzen wäre, fehlt ihr noch die Reife. Sie hätte der Versuchung widerstehen sollen, Jean zu zähmen.
INGEBORG HARMS
Madeleine Bourdouxhe: "Vacances". Die letzten großen Ferien. Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Monika Schlitzer. Piper Verlag, München 2002. 153 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Madeleine Bourdouxhes Clique wird erwachsen
Eine weitere Perle in der Kette europäischer Adoleszenzliteratur aus den Sturm- und-Drang-Phasen des zwanzigsten Jahrhunderts ist wiederaufgetaucht. Piper wagt die Erstausgabe von "Vacances", dem fragmentarisch gebliebenen Debütroman der Belgierin Madeleine Bourdouxhe, der 1936 nur auszugsweise - in einer Brüsseler Anarchistenzeitschrift - erschienen war.
"Vacances" steht in der Tradition von Wedekinds "Frühlings Erwachen", Fleißers "Fegefeuer in Ingolstadt", Werfels "Abituriententag" und Annette Kolbs "Daphne Herbst". Auch Gide und Queneau sind seine Paten. Das Buch handelt von einer Gymnasiasten-Clique in einer nordischen Stadt, die in ihrem Stammlokal vom Künstlerleben träumt, flirtet und über Gott und die Welt debattiert. Parties im Tennisclub, Spaziergänge im Wald und heimliche Treffen in einem Stundenhotel rhythmisieren das schöne Einerlei des Schülerdaseins, bis die Kurbel der wohlfeilen Muße plötzlich überdreht wird. Aus Liebeskummer und übergroßen Ansprüchen an sich selbst bringt Daniel, ein Musiker, sich um. Françoise ist in ihrer ersten Affäre schwanger geworden; gemeinsam mit Jean, dem Vater des Kindes, gibt sie nach einer mißglückten Abtreibung die Studienpläne auf und beginnt ein bürgerliches Familienleben. Damit landen sie genau dort, wo sie nie hinkommen wollten: im spießigen Alltag der Eltern.
Bourdouxhes Roman fängt den transitorischen Moment an der Grenze zum Erwachsenenleben ein, die Phase, in der zahllose Möglichkeiten sich in begrenzte Realitäten verwandeln und der ganze Reichtum der jugendlichen Gedankenwelt sich wie ein Parfum verflüchtigt. Am schärfsten herausgearbeitet ist die Freundschaft von Françoise und Thérèse. Sie tauschen Zärtlichkeiten und malen sich eine gemeinsame berufliche Zukunft aus. Bemerkenswert ist Bourdouxhes schnörkellose Darstellung der weiblichen Psyche. Von den erotischen Gespinsten ihrer Heldinnen und den paradoxen Gefühlen beim Beischlaf erzählt sie ebenso en détail wie von einer Fehlgeburt und der Last des Stillens. Erst der Kult, den Françoise um Jean treibt, macht dem Mädchenbund ein Ende. Als Liebling der Damen wird Jean anfangs sehr realistisch gezeichnet, seine Urlaubsabenteuer mit einer Pensionswirtin und ihrer Tochter nehmen Camus' lakonische Kühle vorweg.
Doch im Verlauf des Textes verwandelt sich Bourdouxhes Bel-Ami-Figur in eine Frauenphantasie: Françoises unbedingte Hingabe erzieht ihn zum treusorgenden Ehemann, der als Lehrer für den Mittagsschlaf nach Hause kommt. Das Ungenügen, das mit dieser undramatischen Lösung einhergeht, zeigt sich symptomatisch in der Gereiztheit, die von nun an Françoise ergreift. Eine neue, durch Langeweile gespeiste Eitelkeit ließe die junge Hausfrau einfach flach erscheinen, wäre da nicht eine bizarre Aggressivität, die in der Verspottung Jeans und einer neuen Grausamkeit Thérèse gegenüber zum Ausdruck kommt. "Am liebsten", heißt es von Françoise nach einem Besuch ihrer Freundin, "würde sie diese Gestalt, die sie so sehr mochte, an den Schultern packen, auf die Erde drücken und diesen Augen für immer die Hoffnung nehmen."
Es ist Bourdouxhe nicht gelungen, ihre Heldin entweder über den Tod der Illusion der großen Liebe hinaus zu entwickeln oder aber eine solche Liebe mit all ihren Widersprüchen und Komplikationen zu entfalten. Für eine Momentaufnahme der verwirrenden Freiheit, die der Wachstumsschub der Pubertät auslöst, besitzt die Autorin alle nötigen Instrumente, für den Umgang mit Phase zwei, der Zeit, in der Befreiung erst von Zwängen zu ertrotzen wäre, fehlt ihr noch die Reife. Sie hätte der Versuchung widerstehen sollen, Jean zu zähmen.
INGEBORG HARMS
Madeleine Bourdouxhe: "Vacances". Die letzten großen Ferien. Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Monika Schlitzer. Piper Verlag, München 2002. 153 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main