Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.02.2018Jemand muss die Rolle Gottes übernehmen
Rückkehr eines Klassikers: Gerald Seymour gräbt die Geheimdienst-Geschichte um
Eric Ambler, John le Carré, Frederick Forsyth - die große Zeit des englischen Spionageromans scheint sich ihrem Ende zuzuneigen, wäre da nicht noch einer, der die Fahne hochhalten würde: Gerald Seymour. Nie gehört? Dann liegt das daran, dass man - ganz gegen die deutsche Verlagsgewohnheiten - in den letzten zwanzig Jahren darauf verzichtet hat, den regelmäßig publizierenden Autor zu übersetzen. Mittlerweile ist er sechsundsiebzig Jahre alt und hat seit seinem Debüt 1975 mehr als dreißig Romane vorgelegt.
Nun kann eine neue Generation von Lesern Bekanntschaft mit ihm machen, weil sich Suhrkamp ermannt hat, den 2014 unter dem Titel "Vagabond" erschienenen Roman in identischer Titelei auf deutsch vorzulegen. Zoë Beck, selbst ausgewiesene Krimiautorin ("Die Lieferantin", F.A.Z. vom 7. August 2017), und Andrea O'Brien haben das Buch übersetzt.
Seymour, Jahrgang 1941, hat als Reporter bei seinem Zug um den Erdball kaum ein Krisengebiet ausgelassen. Er war in Vietnam, im Italien der Roten Brigaden, im Deutschland der RAF, in Afghanistan, dem Irak, Iran, Syrien - und seit seinem Debüt "Das tödliche Patt" immer wieder in Nordirland. Dorthin kehrt er mit "Vagabond" erneut zurück. Diesmal bohrt Seymour besonders tief im Brunnen der Geschichte: bis zum Attentat auf den Nationalsozialisten Heydrich im Jahr 1942.
Die Ausgangslage ist klassisch: Geheimdienst reaktiviert entlaufenen Mitarbeiter, um einen Handel zwischen der IRA und einem ehemaligen Kommunisten zu unterbinden. Danny Curnow, vormals "Vagabond", hat seinen Scheinfrieden als Fremdenführer an den Stränden Nordfrankreichs gefunden, wo er Touristen über die Schlachtfelder und Soldatenfriedhöfe der alliierten Invasion führt. Eine zarte Romanze mit einer Malerin, die an Dannys Bindungsunfähigkeit scheitert, zeigt wie brüchig dessen bürgerliche Existenz ist. Als sein früherer Führungsoffizier Bentinick einfliegt, ist Vagabond in Windeseile wieder in Diensten des Inlandsgeheimdienstes. Bentinick ist nicht nur weit oben in der Hierarchie des MI5, er ist auch einer, der von sich glaubt, qua Amt die Welt auf den Schultern zu tragen: "Jemand muss die Rolle Gottes übernehmen, und das sind wir." In seinem Privatleben zahlt er für solche Sprüche, weil Gott andere Pläne mit seiner einzigen Tochter hatte.
Gottgegeben scheint jedoch der Mechanismus der Reaktivierung ehemaliger Agenten zu sein. Einmal Geheimdienst, immer Geheimdienst. Vagabond weiß, dass er nein sagen könnte, aber dass dies die falsche Antwort wäre. Bis zum Kern der Geschichte führt allerdings ein steiniger Weg. Denn Seymour schreibt multiperspektivisch mit vielen kurzen Rückblenden, die Einstieg und Orientierung in die vielfach verschlungene Geschichte bewusst erschweren.
Da sind Brennie Murphy und Malachy Riordan, alte und mittelalte Kämpfer der IRA, die ihre besten Tage hinter sich haben und dringend zeitgemäße Waffen brauchen, wenn der Kampf weitergehen soll. Da ist Gaby Davies vom MI5, eine gar nicht begabte Agentin, die trotz übler Regelverstöße Karriere machen wird. Da ist der von ihr geführte Ralph Exton, ein betrogenes Würstchen und notorischer Hochstapler, der noch ein Guthaben hat bei Timofei Simonow, einem ehemaligen Offizier des sowjetischen Militärgeheimdienstes. Heute lebt Simonow als reicher Schacherer und Zwischenhändler, der es geschafft hat, sich im Zusammenbruch des Sowjetimperiums im vornehmen Karlsbad niederzulassen, bedient von seinem ehemaligen Brigadier, den er mit in die neue Zeit gerettet hat. Hinzu kommen Londoner Geheimdienstler, ein sehr aufrechter tschechischer Polizist, Boten, Spitzel, Drogenhändler und Bürgerkriegswitwen.
Das Netz zieht sich schließlich in Tschechien zu, beim Testen der Waffen kommt es zum klassisch arrangierten Showdown nach dem Strickmuster: Wer die Fäden zieht und warum, erfahren manche nie, die dafür mit ihrem Leben bezahlen. Allerdings belässt es Seymour nicht dabei, das Erzählmuster des Spionageromans abzuarbeiten. Er hat auch die seelischen Folgen des nordirischen Bürgerkriegs im Blick. Dessen Aufarbeitung hat begonnen, die Frauen kommen meist zuerst, mit etwas Glück folgen ihnen die Männer zur Therapie, wie eine Psychologin verrät: "Jeder kannte jemanden, der getötet oder verstümmelt worden war. Da tickt eine Zeitbombe - genau das ist nämlich eine posttraumatische Belastungsstörung. Wir sollen jetzt seit zehn Jahren Frieden haben, aber die Anzahl derer, die zu uns kommen, steigt weiter. Für sehr viele ist die Vorstellung, es einfach hinter sich zu lassen, keine glaubwürdige Option."
Gerald Seymour beherrscht als Routinier alle Register des Thrillers, und er kann ein mitreißender Erzähler sein. Dennoch kommen bei der Lektüre gelegentlich Ermüdungserscheinungen auf. Bis am Ende alle tot oder wenigstens existentiell erschöpft sind, ist es ein weiter Weg hinaus aus der Geschichte der vergangenen siebzig Jahre.
HANNES HINTERMEIER
Gerald Seymour:
"Vagabond". Thriller.
Aus dem Englischen
von Zoë Beck und
Andrea O'Brien. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 498 S., br., 14,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rückkehr eines Klassikers: Gerald Seymour gräbt die Geheimdienst-Geschichte um
Eric Ambler, John le Carré, Frederick Forsyth - die große Zeit des englischen Spionageromans scheint sich ihrem Ende zuzuneigen, wäre da nicht noch einer, der die Fahne hochhalten würde: Gerald Seymour. Nie gehört? Dann liegt das daran, dass man - ganz gegen die deutsche Verlagsgewohnheiten - in den letzten zwanzig Jahren darauf verzichtet hat, den regelmäßig publizierenden Autor zu übersetzen. Mittlerweile ist er sechsundsiebzig Jahre alt und hat seit seinem Debüt 1975 mehr als dreißig Romane vorgelegt.
Nun kann eine neue Generation von Lesern Bekanntschaft mit ihm machen, weil sich Suhrkamp ermannt hat, den 2014 unter dem Titel "Vagabond" erschienenen Roman in identischer Titelei auf deutsch vorzulegen. Zoë Beck, selbst ausgewiesene Krimiautorin ("Die Lieferantin", F.A.Z. vom 7. August 2017), und Andrea O'Brien haben das Buch übersetzt.
Seymour, Jahrgang 1941, hat als Reporter bei seinem Zug um den Erdball kaum ein Krisengebiet ausgelassen. Er war in Vietnam, im Italien der Roten Brigaden, im Deutschland der RAF, in Afghanistan, dem Irak, Iran, Syrien - und seit seinem Debüt "Das tödliche Patt" immer wieder in Nordirland. Dorthin kehrt er mit "Vagabond" erneut zurück. Diesmal bohrt Seymour besonders tief im Brunnen der Geschichte: bis zum Attentat auf den Nationalsozialisten Heydrich im Jahr 1942.
Die Ausgangslage ist klassisch: Geheimdienst reaktiviert entlaufenen Mitarbeiter, um einen Handel zwischen der IRA und einem ehemaligen Kommunisten zu unterbinden. Danny Curnow, vormals "Vagabond", hat seinen Scheinfrieden als Fremdenführer an den Stränden Nordfrankreichs gefunden, wo er Touristen über die Schlachtfelder und Soldatenfriedhöfe der alliierten Invasion führt. Eine zarte Romanze mit einer Malerin, die an Dannys Bindungsunfähigkeit scheitert, zeigt wie brüchig dessen bürgerliche Existenz ist. Als sein früherer Führungsoffizier Bentinick einfliegt, ist Vagabond in Windeseile wieder in Diensten des Inlandsgeheimdienstes. Bentinick ist nicht nur weit oben in der Hierarchie des MI5, er ist auch einer, der von sich glaubt, qua Amt die Welt auf den Schultern zu tragen: "Jemand muss die Rolle Gottes übernehmen, und das sind wir." In seinem Privatleben zahlt er für solche Sprüche, weil Gott andere Pläne mit seiner einzigen Tochter hatte.
Gottgegeben scheint jedoch der Mechanismus der Reaktivierung ehemaliger Agenten zu sein. Einmal Geheimdienst, immer Geheimdienst. Vagabond weiß, dass er nein sagen könnte, aber dass dies die falsche Antwort wäre. Bis zum Kern der Geschichte führt allerdings ein steiniger Weg. Denn Seymour schreibt multiperspektivisch mit vielen kurzen Rückblenden, die Einstieg und Orientierung in die vielfach verschlungene Geschichte bewusst erschweren.
Da sind Brennie Murphy und Malachy Riordan, alte und mittelalte Kämpfer der IRA, die ihre besten Tage hinter sich haben und dringend zeitgemäße Waffen brauchen, wenn der Kampf weitergehen soll. Da ist Gaby Davies vom MI5, eine gar nicht begabte Agentin, die trotz übler Regelverstöße Karriere machen wird. Da ist der von ihr geführte Ralph Exton, ein betrogenes Würstchen und notorischer Hochstapler, der noch ein Guthaben hat bei Timofei Simonow, einem ehemaligen Offizier des sowjetischen Militärgeheimdienstes. Heute lebt Simonow als reicher Schacherer und Zwischenhändler, der es geschafft hat, sich im Zusammenbruch des Sowjetimperiums im vornehmen Karlsbad niederzulassen, bedient von seinem ehemaligen Brigadier, den er mit in die neue Zeit gerettet hat. Hinzu kommen Londoner Geheimdienstler, ein sehr aufrechter tschechischer Polizist, Boten, Spitzel, Drogenhändler und Bürgerkriegswitwen.
Das Netz zieht sich schließlich in Tschechien zu, beim Testen der Waffen kommt es zum klassisch arrangierten Showdown nach dem Strickmuster: Wer die Fäden zieht und warum, erfahren manche nie, die dafür mit ihrem Leben bezahlen. Allerdings belässt es Seymour nicht dabei, das Erzählmuster des Spionageromans abzuarbeiten. Er hat auch die seelischen Folgen des nordirischen Bürgerkriegs im Blick. Dessen Aufarbeitung hat begonnen, die Frauen kommen meist zuerst, mit etwas Glück folgen ihnen die Männer zur Therapie, wie eine Psychologin verrät: "Jeder kannte jemanden, der getötet oder verstümmelt worden war. Da tickt eine Zeitbombe - genau das ist nämlich eine posttraumatische Belastungsstörung. Wir sollen jetzt seit zehn Jahren Frieden haben, aber die Anzahl derer, die zu uns kommen, steigt weiter. Für sehr viele ist die Vorstellung, es einfach hinter sich zu lassen, keine glaubwürdige Option."
Gerald Seymour beherrscht als Routinier alle Register des Thrillers, und er kann ein mitreißender Erzähler sein. Dennoch kommen bei der Lektüre gelegentlich Ermüdungserscheinungen auf. Bis am Ende alle tot oder wenigstens existentiell erschöpft sind, ist es ein weiter Weg hinaus aus der Geschichte der vergangenen siebzig Jahre.
HANNES HINTERMEIER
Gerald Seymour:
"Vagabond". Thriller.
Aus dem Englischen
von Zoë Beck und
Andrea O'Brien. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 498 S., br., 14,95 [Euro].
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