Lord Vansittart war der Stichwortgeber antideutscher Ressentiments in England während des zweiten Weltkriegs.Sind die Deutschen alle Nazis? Das war eine der wichtigsten Fragen, welche die Öffentlichkeit in Großbritannien während des Zweiten Weltkrieges bewegte und spaltete. Ausgelöst hatte sie der ehemalige Chefdiplomat des Foreign Office, Lord Robert Vansittart. In seiner eine halbe Million Mal verkauften Broschüre Black Record hatte er das Bild eines von Neid, Selbstmitleid und Grausamkeit gekennzeichneten kriegerischen deutschen Volkes gemalt und den wütenden Protest vornehmlich liberaler und linker Intellektueller, aber auch des deutschen sozialistischen Exils in London geerntet. Der Autor beschreibt die konflikthafte Aneignung der deutschen Geschichte in Großbritannien während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die im Streit um Vansittart mündete. Er rekonstruiert darüber hinaus die erbittert geführten Auseinandersetzungen um das »deutsche Problem« im Londoner Exil der Sozialdemokratie, wo eine Gruppe von Sympathisanten Vansittarts vergeblich einen neuen moralischen, geistigen und politischen Standort für die SPD einforderte. Im Zentrum der Darstellung aber steht jenes britische Pendant Morgenthaus, dessen Name als Metapher für einen antideutschen Rassismus in deutsche Geschichtsbücher eingegangen ist: Vansittart.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.11.2003Van und die Deutschen
Keine Kollektivschuld, aber Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen
Jörg Später: Vansittart. Britische Debatten über Deutsche und Nazis 1902-1945. Wallstein Verlag, Göttingen 2003. 495 Seiten, 40,- [Euro].
Mit einem verbalen Rundumschlag gegen die Deutschen - als Vortragsreihe zwischen dem 14. November und dem 6. Dezember 1940 im "B.B.C. Overseas Programme" auf der Nordamerika-Frequenz ausgestrahlt - machte Robert Vansittart im zweiten Kriegsjahr auf sich aufmerksam. Der 1881 geborene Diplomat, der 1902 in das Foreign Office eingetreten war, von 1930 bis 1937 als Staatssekretär an der Spitze des Außenministeriums gestanden hatte und seither auf einem einflußlosen Posten mit hochtrabendem Titel - "Erster Diplomatischer Berater der Regierung Großbritanniens" - ausharrte, wollte sich endlich Gehör verschaffen.
Über seine antideutschen Auslassungen berichtete die britische Presse ausführlich, und schon im Januar 1941 lagen die Vorträge in der Broschüre "Black Record. Germans Past and Present" gedruckt vor und fanden reißenden Absatz. Binnen kürzester Zeit waren mehr als eine halbe Million Exemplare des Pamphlets über den "deutschen Charakter" verkauft. Nach Vansittarts Auffassung kennzeichneten Neid, Selbstmitleid und Grausamkeit die "Deutschen im Plural" - als Gegensatz zu einzelnen "guten" Deutschen -, außerdem eine seit Generationen vorhandene "Lust nach Weltherrschaft". Immerhin gab er zu, daß das "Wesen eines Volkes geändert werden" könne. Daher müßten die Deutschen dazu gezwungen werden, "das Buch ihrer falschen Götter wegzuwerfen".
Durch ehrenvolle "Beförderung" ins Oberhaus trennte sich die Regierung Churchill/Attlee 1941 von ihrem "Ersten Diplomatischen Berater", dessen öffentliches Auftreten als skandalös empfunden wurde. In zahlreichen Reden und Publikationen übernahm der 1. Baron Vansittart dann bis zum Kriegsende 1945 wortgewaltig die selbstgewählte Rolle eines britischen Chefanklägers des deutschen Nationalcharakters. Für die von ihm und seinen Anhängern formulierten Empfehlungen zum "deutschen Problem" bürgerte sich die Bezeichnung "Vansittartismus" ein - ein Schimpfwort, über das Jörg Später meint, es umschreibe einen geistigen Zustand, der im Zuge der Kriegshysterie "Opfer von niederen Instinkten wie Rache, Haß und Vergeltung" geworden sei.
Später arbeitet in seiner quellennahen Studie, die "Vans" Vorläufer, Sympathisanten und Gegner in aller Breite berücksichtigt, heraus, wie der junge Diplomat vor dem Ersten Weltkrieg zum Meisterschüler von Sir Eyre Crowe wurde, dem britischen Chefdiplomaten mit deutscher Mutter und dem ständigen Gefühl deutscher Bedrohung. Aus Crowes Sicht ging vom preußisch-deutschen Militarismus die größte Gefahr für das Empire aus, und in sein Feindbild paßten auch die Recherchen eines von der britischen Regierung eingesetzten Komitees, das deutsche Greueltaten im besetzten Belgien untersuchen sollte. Der Komiteebericht vom Mai 1915 erzählte "von öffentlich durchgeführten Massenvergewaltigungen, bei denen die Soldaten die Brüste ihrer anschließend ermordeten Opfer abschnitten, von Kleinkindern, die an eine Scheunentür genagelt worden seien, oder von einem Soldaten, der ein Baby mit dem Bajonett aufgespießt habe, das er dann über seinen Kopf geschwungen habe, während die Kameraden sangen. Dem Bryce-Komitee war nicht vorzuwerfen, daß es seine Quellen übertrieben wiedergab oder gar gefälscht hatte. Was es unterließ, war, den Wahrheitsgehalt zu überprüfen." So habe das halbamtliche Dokument eine scheinbar seriöse Grundlage für das "atrocity mongering" geschaffen - mit fatalen Folgen für den Zweiten Weltkrieg.
Den propagandistischen Überspanntheiten und Lügen der Jahre 1914 bis 1918 habe eine "relativ ausgeprägte Trägheit" während der Jahre 1939 bis 1945 gegenübergestanden. Eine rühmliche Ausnahme bildete jedoch Vansittart, der über Informationen der Exilregierungen in London verfügte und Anfang September 1942 in einer BBC-Sendung offen aussprach: "The fate of Polish Jews is unspeakably tragic. They are murdered by thousands daily, even children - and poison gas is used to do the dreadful work. Hundreds of thousands of Polish Jews have already perished. Hitler has no use for the Jews; he does not even consider them as potential slaves like the Poles. Never in history were terror and oppression so well organised or on such scale of cruelty." Bestürzung herrschte daraufhin bei den politisch Verantwortlichen in London weniger über die Verbrechen selbst als vielmehr darüber, daß Vansittart sie öffentlich angeprangert hatte.
Vansittart habe - so das um großes Verständnis und Differenzierung bemühte Resümee Späters über den oft als "Deutschenhasser" beschimpften Diplomaten und frühen Kritiker der britischen Appeasement-Politik gegenüber dem "Dritten Reich" - nie einer Kollektivschuld der Deutschen das Wort geredet. Er habe dem deutschen Volk während des Krieges nur vorgeworfen, mehrheitlich hinter Hitler zu stehen. Nie habe Vansittart behauptet, "alle Deutschen seien Nazis, aber er sah eine Logik darin, daß die Nazis Deutsche waren. Er forderte nicht Vergeltung und Bestrafung der ganzen Nation, glaubte aber, eine moralische Wende und geistige Erneuerung Deutschlands erfordere ein Schuldeingeständnis und die Übernahme der politischen Verantwortung für die Taten Nazideutschlands."
Die durch seine Nietzsche-Lektüre beeinflußte Vorstellung vom andersartigen deutschen Nationalcharakter - reduziert auf Kriegslüsternheit, Grausamkeit und Morbidität der Psyche - versetzte den ressentimentbeladenen Vansittart in die Lage, "den Deutschen jede Tat, ob Geniestreich oder größenwahnsinniges Verbrechen, zuzutrauen". Nach Späters Meinung habe er aus vielen falschen Grundannahmen richtige Prognosen gewonnen. Beruhigend oder bewundernswert ist eine solche Form politischer Weitsicht, die im Vorurteil und im Vorverurteilen wurzelt, sicherlich nicht.
RAINER BLASIUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Keine Kollektivschuld, aber Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen
Jörg Später: Vansittart. Britische Debatten über Deutsche und Nazis 1902-1945. Wallstein Verlag, Göttingen 2003. 495 Seiten, 40,- [Euro].
Mit einem verbalen Rundumschlag gegen die Deutschen - als Vortragsreihe zwischen dem 14. November und dem 6. Dezember 1940 im "B.B.C. Overseas Programme" auf der Nordamerika-Frequenz ausgestrahlt - machte Robert Vansittart im zweiten Kriegsjahr auf sich aufmerksam. Der 1881 geborene Diplomat, der 1902 in das Foreign Office eingetreten war, von 1930 bis 1937 als Staatssekretär an der Spitze des Außenministeriums gestanden hatte und seither auf einem einflußlosen Posten mit hochtrabendem Titel - "Erster Diplomatischer Berater der Regierung Großbritanniens" - ausharrte, wollte sich endlich Gehör verschaffen.
Über seine antideutschen Auslassungen berichtete die britische Presse ausführlich, und schon im Januar 1941 lagen die Vorträge in der Broschüre "Black Record. Germans Past and Present" gedruckt vor und fanden reißenden Absatz. Binnen kürzester Zeit waren mehr als eine halbe Million Exemplare des Pamphlets über den "deutschen Charakter" verkauft. Nach Vansittarts Auffassung kennzeichneten Neid, Selbstmitleid und Grausamkeit die "Deutschen im Plural" - als Gegensatz zu einzelnen "guten" Deutschen -, außerdem eine seit Generationen vorhandene "Lust nach Weltherrschaft". Immerhin gab er zu, daß das "Wesen eines Volkes geändert werden" könne. Daher müßten die Deutschen dazu gezwungen werden, "das Buch ihrer falschen Götter wegzuwerfen".
Durch ehrenvolle "Beförderung" ins Oberhaus trennte sich die Regierung Churchill/Attlee 1941 von ihrem "Ersten Diplomatischen Berater", dessen öffentliches Auftreten als skandalös empfunden wurde. In zahlreichen Reden und Publikationen übernahm der 1. Baron Vansittart dann bis zum Kriegsende 1945 wortgewaltig die selbstgewählte Rolle eines britischen Chefanklägers des deutschen Nationalcharakters. Für die von ihm und seinen Anhängern formulierten Empfehlungen zum "deutschen Problem" bürgerte sich die Bezeichnung "Vansittartismus" ein - ein Schimpfwort, über das Jörg Später meint, es umschreibe einen geistigen Zustand, der im Zuge der Kriegshysterie "Opfer von niederen Instinkten wie Rache, Haß und Vergeltung" geworden sei.
Später arbeitet in seiner quellennahen Studie, die "Vans" Vorläufer, Sympathisanten und Gegner in aller Breite berücksichtigt, heraus, wie der junge Diplomat vor dem Ersten Weltkrieg zum Meisterschüler von Sir Eyre Crowe wurde, dem britischen Chefdiplomaten mit deutscher Mutter und dem ständigen Gefühl deutscher Bedrohung. Aus Crowes Sicht ging vom preußisch-deutschen Militarismus die größte Gefahr für das Empire aus, und in sein Feindbild paßten auch die Recherchen eines von der britischen Regierung eingesetzten Komitees, das deutsche Greueltaten im besetzten Belgien untersuchen sollte. Der Komiteebericht vom Mai 1915 erzählte "von öffentlich durchgeführten Massenvergewaltigungen, bei denen die Soldaten die Brüste ihrer anschließend ermordeten Opfer abschnitten, von Kleinkindern, die an eine Scheunentür genagelt worden seien, oder von einem Soldaten, der ein Baby mit dem Bajonett aufgespießt habe, das er dann über seinen Kopf geschwungen habe, während die Kameraden sangen. Dem Bryce-Komitee war nicht vorzuwerfen, daß es seine Quellen übertrieben wiedergab oder gar gefälscht hatte. Was es unterließ, war, den Wahrheitsgehalt zu überprüfen." So habe das halbamtliche Dokument eine scheinbar seriöse Grundlage für das "atrocity mongering" geschaffen - mit fatalen Folgen für den Zweiten Weltkrieg.
Den propagandistischen Überspanntheiten und Lügen der Jahre 1914 bis 1918 habe eine "relativ ausgeprägte Trägheit" während der Jahre 1939 bis 1945 gegenübergestanden. Eine rühmliche Ausnahme bildete jedoch Vansittart, der über Informationen der Exilregierungen in London verfügte und Anfang September 1942 in einer BBC-Sendung offen aussprach: "The fate of Polish Jews is unspeakably tragic. They are murdered by thousands daily, even children - and poison gas is used to do the dreadful work. Hundreds of thousands of Polish Jews have already perished. Hitler has no use for the Jews; he does not even consider them as potential slaves like the Poles. Never in history were terror and oppression so well organised or on such scale of cruelty." Bestürzung herrschte daraufhin bei den politisch Verantwortlichen in London weniger über die Verbrechen selbst als vielmehr darüber, daß Vansittart sie öffentlich angeprangert hatte.
Vansittart habe - so das um großes Verständnis und Differenzierung bemühte Resümee Späters über den oft als "Deutschenhasser" beschimpften Diplomaten und frühen Kritiker der britischen Appeasement-Politik gegenüber dem "Dritten Reich" - nie einer Kollektivschuld der Deutschen das Wort geredet. Er habe dem deutschen Volk während des Krieges nur vorgeworfen, mehrheitlich hinter Hitler zu stehen. Nie habe Vansittart behauptet, "alle Deutschen seien Nazis, aber er sah eine Logik darin, daß die Nazis Deutsche waren. Er forderte nicht Vergeltung und Bestrafung der ganzen Nation, glaubte aber, eine moralische Wende und geistige Erneuerung Deutschlands erfordere ein Schuldeingeständnis und die Übernahme der politischen Verantwortung für die Taten Nazideutschlands."
Die durch seine Nietzsche-Lektüre beeinflußte Vorstellung vom andersartigen deutschen Nationalcharakter - reduziert auf Kriegslüsternheit, Grausamkeit und Morbidität der Psyche - versetzte den ressentimentbeladenen Vansittart in die Lage, "den Deutschen jede Tat, ob Geniestreich oder größenwahnsinniges Verbrechen, zuzutrauen". Nach Späters Meinung habe er aus vielen falschen Grundannahmen richtige Prognosen gewonnen. Beruhigend oder bewundernswert ist eine solche Form politischer Weitsicht, die im Vorurteil und im Vorverurteilen wurzelt, sicherlich nicht.
RAINER BLASIUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Benedikt Stuchtey lobt diese Studie als ausgezeichnet, bahnbrechend und perspektivenreich. Allerdings möchte er sie nicht als biografische Darstellung des wegen seiner leidenschaftlichen Anti-Deutschlandhaltung legendären britischen Diplomaten verstanden wissen, "sondern als Analyse eines Spannungsfeldes". Vansittart stellte als antideutsche Denkfigur für den Autor Jörg Später den "unbestrittenen Höhepunkt des deutsch-britischen Antagonismus dar", fasst der Rezensent einen Hauptstrang des Buches zusammen. Eindrucksvoll sieht der Rezensent in der Untersuchung dieses Antagonismus auch veranschaulicht, "welchen Mustern Feindbilder folgen, und wie weit sie ihre Schatten werfen".
© Perlentaucher Medien GmbH
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