Lord Vansittart war der Stichwortgeber antideutscher Ressentiments in England während des zweiten Weltkriegs.Sind die Deutschen alle Nazis? Das war eine der wichtigsten Fragen, welche die Öffentlichkeit in Großbritannien während des Zweiten Weltkrieges bewegte und spaltete. Ausgelöst hatte sie der ehemalige Chefdiplomat des Foreign Office, Lord Robert Vansittart. In seiner eine halbe Million Mal verkauften Broschüre Black Record hatte er das Bild eines von Neid, Selbstmitleid und Grausamkeit gekennzeichneten kriegerischen deutschen Volkes gemalt und den wütenden Protest vornehmlich liberaler und linker Intellektueller, aber auch des deutschen sozialistischen Exils in London geerntet. Der Autor beschreibt die konflikthafte Aneignung der deutschen Geschichte in Großbritannien während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die im Streit um Vansittart mündete. Er rekonstruiert darüber hinaus die erbittert geführten Auseinandersetzungen um das »deutsche Problem« im Londoner Exil der Sozialdemokratie, wo eine Gruppe von Sympathisanten Vansittarts vergeblich einen neuen moralischen, geistigen und politischen Standort für die SPD einforderte. Im Zentrum der Darstellung aber steht jenes britische Pendant Morgenthaus, dessen Name als Metapher für einen antideutschen Rassismus in deutsche Geschichtsbücher eingegangen ist: Vansittart.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.11.2003Gegen die Zuckerbrotpropaganda
Auftritt Peter Vansittart, der größte aller Anti-Deutschen: Eine Biographie von Jörg Später
Eigentlich habe er einen Ballsport in den Mittelpunkt seines Lebens stellen wollen, vertraute er den Lesern seiner Autobiographie an. Dass alles anders kam, lag nicht an Eton. Denn dort gewann Robert Vansittart bei Cricketwettbewerben die höchsten Preise. Wohl aber deutete seine außergewöhnlichen Sprachbegabungen schon früh auf eine diplomatische Karriere hin. „Van”, wie ihn seine Freunde nannten, lernte mit den Bällen der internationalen Politik in Paris, Teheran und Kairo jonglieren, bevor er sich in die englische Politik mengte. Dennoch behauptete er später von sich, sein Leben sei gescheitert. Wollte man ihm zustimmen, müsste man wohl eher sagen, dass es seine Mission war, die misslang.
Vansittart, im zweiten Kriegsjahr zum Baron erhoben und bald darauf vielgeehrtes Mitglied des Oberhauses, war ein politisches Talent, das auf Churchill zunächst großen Eindruck machte. Am Ende seiner Laufbahn brachte er es aber doch nur zum diplomatischen Chefberater seiner königlichen Regierung, ein Posten, auf den er 1938 abgeschoben wurde, als das geschwächte Auswärtige Amt vor Chamberlains Appeasement zurückstecken musste. Diese Politik war Sir Roberts Sache nicht.
Niemand hat im Großbritannien seiner Zeit so leidenschaftlich vor den Gefahren des nationalsozialistischen Deutschlands gewarnt, niemand so wortgewaltig und in so grellen Farben den Feind von Nation und Zivilisation beschworen. Zeitweise wurde sogar gemutmaßt, Vansittart müsse ein Verbündeter der Nazis sein, der sein Urteil über die Deutschen deshalb so dramatisiere, um eine entgegengesetzte, positive Sicht hervorzurufen. Nichts hätte unwahrscheinlicher sein können als das, wie Jörg Späters ausgezeichnete und bahnbrechende Untersuchung zeigt.
Als Vansittart zum Jahreswechsel 1902/03 in den diplomatischen Dienst eintrat, hatte sich das englische Deutschlandbild auf die Konstante eines gefährlichen Rivalen eingerichtet. Im umgekehrtenFall war das natürlich nicht anders. Lange Zeit von beiden Seiten gepflegte Stereotypen wuchsen sich zu einem Antagonismus aus, in dem die Konstrukte von Kultur und Heroismus hier, Zivilisation und Krämergeist dort noch gemäßigt erscheinen. Die Überzeugung, das deutsche Volk habe aufgrund seines kriegerischen Charakters seit dem Beginn seiner Geschichte eine Bedrohung für Europa und die Welt dargestellt, musste konsequent zu dem Glauben führen, Hitler und der Zweite Weltkrieg seien kein Zufall. In der deutschen Vergangenheit meinte Vansittart einenFluch zu erkennen, der aus allen Deutschen Nazis machte. Ob Karl der Große oder Friedrich der Große, Dreißigjähriger Krieg oder Bismarcks Feldzüge: alles in der eroberungssüchtigen deutschen Geschichte habe nur die Alternative zwischen Weltmacht oder Untergang gekannt.
Damit rief der Baron bei seinenZeitgenossen weniger Zustimmung als Irritation hervor. Und wurde selbst zum Gegenstand heftiger politischer Debatten, der Empörung und schließlich des Skandals. Denn er hatte sich bei allem auch vorgenommen, vermeintliche Unzulänglichkeiten in der englischen Regierung anzuklagen. Diese sei zu sehr mit sich selbst beschäftigt, und mit ihrer friedensseligen Zuckerbrotpropaganda mache sie die deutsche Katastrophe nur noch schlimmer. Zu seinen unerbittlichsten Kritikern gehörte Henry Brailsford, ein Sozialist alter Schule. Er lehnte die Dämonisierung Preußen-Deutschlands, aber auch die bestehende internationale Ordnung ab, die einem Feindbilddenken wie dem Vansittarts geschuldet war. Brailsfords 1944 erschienene Schrift „Germans and Nazis” gibt Späters Buch ein entscheidendes Stichwort, das die Lektüre seines Buches zu einem besonderen Vergnügen macht. Lernen wir in derBeschreibung des anderen nicht vornehmlich über uns selbst?
Folglich ist Späters perspektivenreiche Studie nicht als biografische Darstellung Vansittarts zu verstehen, sondern als Analyse eines Spannungsfelds, für das der Protagonist und seine hunderttausendfach verkaufte Broschüre „Black Record” beispielhaft stehen. Nach wie vor ist A. J. P. Taylors Klassiker von 1945, „The Course of German History”, ein Bestseller, der sicher nicht als besonders deutschfreundlich gelten kann.
Vansittartismus als anti-deutsche Denkfigur stellt den unbestrittenen Höhepunkt des deutsch-britischen Antagonismus dar. Ein Ende haben die kritischen Debatten linker und liberaler Intellektueller noch nicht erreicht. Eindrucksvoll veranschaulicht Später, welchen Mustern Feindbilder folgen und wie weit sie ihre Schatten werfen.
Denn die britischen Antivansittartisten mussten, trotz aller Vereinfachungen und Vorurteile, derer sich Sir Robert bediente, schließlich anerkennen, dass seine Argumentation und ihre praktische politische Umsetzung zwar höchst anfechtbar waren. Die Prognosen stellten sich aber als richtig heraus. Vansittarts Selbststilisierung als Gescheiterter reflektierte das Scheitern der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Indem Jörg Später Hannah Arendts Begriff von der „vollendeten Sinnlosigkeit”, dieHolocaust und totaler Krieg verursachten, aufgreift, illustriert er, warum viele Probleme dieser Epoche nicht über die Sinnfrage zu verstehen sind. Wollte nicht auch Vansittart für den Wahnsinn eine Erklärung finden?
BENEDIKT STUCHTEY
JÖRG SPÄTER: Vansittart. Britische Debatten über Deutsche und Nazis 1902-1945. Wallstein Verlag, Göttingen 2003. 495 Seiten, 46 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Auftritt Peter Vansittart, der größte aller Anti-Deutschen: Eine Biographie von Jörg Später
Eigentlich habe er einen Ballsport in den Mittelpunkt seines Lebens stellen wollen, vertraute er den Lesern seiner Autobiographie an. Dass alles anders kam, lag nicht an Eton. Denn dort gewann Robert Vansittart bei Cricketwettbewerben die höchsten Preise. Wohl aber deutete seine außergewöhnlichen Sprachbegabungen schon früh auf eine diplomatische Karriere hin. „Van”, wie ihn seine Freunde nannten, lernte mit den Bällen der internationalen Politik in Paris, Teheran und Kairo jonglieren, bevor er sich in die englische Politik mengte. Dennoch behauptete er später von sich, sein Leben sei gescheitert. Wollte man ihm zustimmen, müsste man wohl eher sagen, dass es seine Mission war, die misslang.
Vansittart, im zweiten Kriegsjahr zum Baron erhoben und bald darauf vielgeehrtes Mitglied des Oberhauses, war ein politisches Talent, das auf Churchill zunächst großen Eindruck machte. Am Ende seiner Laufbahn brachte er es aber doch nur zum diplomatischen Chefberater seiner königlichen Regierung, ein Posten, auf den er 1938 abgeschoben wurde, als das geschwächte Auswärtige Amt vor Chamberlains Appeasement zurückstecken musste. Diese Politik war Sir Roberts Sache nicht.
Niemand hat im Großbritannien seiner Zeit so leidenschaftlich vor den Gefahren des nationalsozialistischen Deutschlands gewarnt, niemand so wortgewaltig und in so grellen Farben den Feind von Nation und Zivilisation beschworen. Zeitweise wurde sogar gemutmaßt, Vansittart müsse ein Verbündeter der Nazis sein, der sein Urteil über die Deutschen deshalb so dramatisiere, um eine entgegengesetzte, positive Sicht hervorzurufen. Nichts hätte unwahrscheinlicher sein können als das, wie Jörg Späters ausgezeichnete und bahnbrechende Untersuchung zeigt.
Als Vansittart zum Jahreswechsel 1902/03 in den diplomatischen Dienst eintrat, hatte sich das englische Deutschlandbild auf die Konstante eines gefährlichen Rivalen eingerichtet. Im umgekehrtenFall war das natürlich nicht anders. Lange Zeit von beiden Seiten gepflegte Stereotypen wuchsen sich zu einem Antagonismus aus, in dem die Konstrukte von Kultur und Heroismus hier, Zivilisation und Krämergeist dort noch gemäßigt erscheinen. Die Überzeugung, das deutsche Volk habe aufgrund seines kriegerischen Charakters seit dem Beginn seiner Geschichte eine Bedrohung für Europa und die Welt dargestellt, musste konsequent zu dem Glauben führen, Hitler und der Zweite Weltkrieg seien kein Zufall. In der deutschen Vergangenheit meinte Vansittart einenFluch zu erkennen, der aus allen Deutschen Nazis machte. Ob Karl der Große oder Friedrich der Große, Dreißigjähriger Krieg oder Bismarcks Feldzüge: alles in der eroberungssüchtigen deutschen Geschichte habe nur die Alternative zwischen Weltmacht oder Untergang gekannt.
Damit rief der Baron bei seinenZeitgenossen weniger Zustimmung als Irritation hervor. Und wurde selbst zum Gegenstand heftiger politischer Debatten, der Empörung und schließlich des Skandals. Denn er hatte sich bei allem auch vorgenommen, vermeintliche Unzulänglichkeiten in der englischen Regierung anzuklagen. Diese sei zu sehr mit sich selbst beschäftigt, und mit ihrer friedensseligen Zuckerbrotpropaganda mache sie die deutsche Katastrophe nur noch schlimmer. Zu seinen unerbittlichsten Kritikern gehörte Henry Brailsford, ein Sozialist alter Schule. Er lehnte die Dämonisierung Preußen-Deutschlands, aber auch die bestehende internationale Ordnung ab, die einem Feindbilddenken wie dem Vansittarts geschuldet war. Brailsfords 1944 erschienene Schrift „Germans and Nazis” gibt Späters Buch ein entscheidendes Stichwort, das die Lektüre seines Buches zu einem besonderen Vergnügen macht. Lernen wir in derBeschreibung des anderen nicht vornehmlich über uns selbst?
Folglich ist Späters perspektivenreiche Studie nicht als biografische Darstellung Vansittarts zu verstehen, sondern als Analyse eines Spannungsfelds, für das der Protagonist und seine hunderttausendfach verkaufte Broschüre „Black Record” beispielhaft stehen. Nach wie vor ist A. J. P. Taylors Klassiker von 1945, „The Course of German History”, ein Bestseller, der sicher nicht als besonders deutschfreundlich gelten kann.
Vansittartismus als anti-deutsche Denkfigur stellt den unbestrittenen Höhepunkt des deutsch-britischen Antagonismus dar. Ein Ende haben die kritischen Debatten linker und liberaler Intellektueller noch nicht erreicht. Eindrucksvoll veranschaulicht Später, welchen Mustern Feindbilder folgen und wie weit sie ihre Schatten werfen.
Denn die britischen Antivansittartisten mussten, trotz aller Vereinfachungen und Vorurteile, derer sich Sir Robert bediente, schließlich anerkennen, dass seine Argumentation und ihre praktische politische Umsetzung zwar höchst anfechtbar waren. Die Prognosen stellten sich aber als richtig heraus. Vansittarts Selbststilisierung als Gescheiterter reflektierte das Scheitern der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Indem Jörg Später Hannah Arendts Begriff von der „vollendeten Sinnlosigkeit”, dieHolocaust und totaler Krieg verursachten, aufgreift, illustriert er, warum viele Probleme dieser Epoche nicht über die Sinnfrage zu verstehen sind. Wollte nicht auch Vansittart für den Wahnsinn eine Erklärung finden?
BENEDIKT STUCHTEY
JÖRG SPÄTER: Vansittart. Britische Debatten über Deutsche und Nazis 1902-1945. Wallstein Verlag, Göttingen 2003. 495 Seiten, 46 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.11.2003Van und die Deutschen
Keine Kollektivschuld, aber Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen
Jörg Später: Vansittart. Britische Debatten über Deutsche und Nazis 1902-1945. Wallstein Verlag, Göttingen 2003. 495 Seiten, 40,- [Euro].
Mit einem verbalen Rundumschlag gegen die Deutschen - als Vortragsreihe zwischen dem 14. November und dem 6. Dezember 1940 im "B.B.C. Overseas Programme" auf der Nordamerika-Frequenz ausgestrahlt - machte Robert Vansittart im zweiten Kriegsjahr auf sich aufmerksam. Der 1881 geborene Diplomat, der 1902 in das Foreign Office eingetreten war, von 1930 bis 1937 als Staatssekretär an der Spitze des Außenministeriums gestanden hatte und seither auf einem einflußlosen Posten mit hochtrabendem Titel - "Erster Diplomatischer Berater der Regierung Großbritanniens" - ausharrte, wollte sich endlich Gehör verschaffen.
Über seine antideutschen Auslassungen berichtete die britische Presse ausführlich, und schon im Januar 1941 lagen die Vorträge in der Broschüre "Black Record. Germans Past and Present" gedruckt vor und fanden reißenden Absatz. Binnen kürzester Zeit waren mehr als eine halbe Million Exemplare des Pamphlets über den "deutschen Charakter" verkauft. Nach Vansittarts Auffassung kennzeichneten Neid, Selbstmitleid und Grausamkeit die "Deutschen im Plural" - als Gegensatz zu einzelnen "guten" Deutschen -, außerdem eine seit Generationen vorhandene "Lust nach Weltherrschaft". Immerhin gab er zu, daß das "Wesen eines Volkes geändert werden" könne. Daher müßten die Deutschen dazu gezwungen werden, "das Buch ihrer falschen Götter wegzuwerfen".
Durch ehrenvolle "Beförderung" ins Oberhaus trennte sich die Regierung Churchill/Attlee 1941 von ihrem "Ersten Diplomatischen Berater", dessen öffentliches Auftreten als skandalös empfunden wurde. In zahlreichen Reden und Publikationen übernahm der 1. Baron Vansittart dann bis zum Kriegsende 1945 wortgewaltig die selbstgewählte Rolle eines britischen Chefanklägers des deutschen Nationalcharakters. Für die von ihm und seinen Anhängern formulierten Empfehlungen zum "deutschen Problem" bürgerte sich die Bezeichnung "Vansittartismus" ein - ein Schimpfwort, über das Jörg Später meint, es umschreibe einen geistigen Zustand, der im Zuge der Kriegshysterie "Opfer von niederen Instinkten wie Rache, Haß und Vergeltung" geworden sei.
Später arbeitet in seiner quellennahen Studie, die "Vans" Vorläufer, Sympathisanten und Gegner in aller Breite berücksichtigt, heraus, wie der junge Diplomat vor dem Ersten Weltkrieg zum Meisterschüler von Sir Eyre Crowe wurde, dem britischen Chefdiplomaten mit deutscher Mutter und dem ständigen Gefühl deutscher Bedrohung. Aus Crowes Sicht ging vom preußisch-deutschen Militarismus die größte Gefahr für das Empire aus, und in sein Feindbild paßten auch die Recherchen eines von der britischen Regierung eingesetzten Komitees, das deutsche Greueltaten im besetzten Belgien untersuchen sollte. Der Komiteebericht vom Mai 1915 erzählte "von öffentlich durchgeführten Massenvergewaltigungen, bei denen die Soldaten die Brüste ihrer anschließend ermordeten Opfer abschnitten, von Kleinkindern, die an eine Scheunentür genagelt worden seien, oder von einem Soldaten, der ein Baby mit dem Bajonett aufgespießt habe, das er dann über seinen Kopf geschwungen habe, während die Kameraden sangen. Dem Bryce-Komitee war nicht vorzuwerfen, daß es seine Quellen übertrieben wiedergab oder gar gefälscht hatte. Was es unterließ, war, den Wahrheitsgehalt zu überprüfen." So habe das halbamtliche Dokument eine scheinbar seriöse Grundlage für das "atrocity mongering" geschaffen - mit fatalen Folgen für den Zweiten Weltkrieg.
Den propagandistischen Überspanntheiten und Lügen der Jahre 1914 bis 1918 habe eine "relativ ausgeprägte Trägheit" während der Jahre 1939 bis 1945 gegenübergestanden. Eine rühmliche Ausnahme bildete jedoch Vansittart, der über Informationen der Exilregierungen in London verfügte und Anfang September 1942 in einer BBC-Sendung offen aussprach: "The fate of Polish Jews is unspeakably tragic. They are murdered by thousands daily, even children - and poison gas is used to do the dreadful work. Hundreds of thousands of Polish Jews have already perished. Hitler has no use for the Jews; he does not even consider them as potential slaves like the Poles. Never in history were terror and oppression so well organised or on such scale of cruelty." Bestürzung herrschte daraufhin bei den politisch Verantwortlichen in London weniger über die Verbrechen selbst als vielmehr darüber, daß Vansittart sie öffentlich angeprangert hatte.
Vansittart habe - so das um großes Verständnis und Differenzierung bemühte Resümee Späters über den oft als "Deutschenhasser" beschimpften Diplomaten und frühen Kritiker der britischen Appeasement-Politik gegenüber dem "Dritten Reich" - nie einer Kollektivschuld der Deutschen das Wort geredet. Er habe dem deutschen Volk während des Krieges nur vorgeworfen, mehrheitlich hinter Hitler zu stehen. Nie habe Vansittart behauptet, "alle Deutschen seien Nazis, aber er sah eine Logik darin, daß die Nazis Deutsche waren. Er forderte nicht Vergeltung und Bestrafung der ganzen Nation, glaubte aber, eine moralische Wende und geistige Erneuerung Deutschlands erfordere ein Schuldeingeständnis und die Übernahme der politischen Verantwortung für die Taten Nazideutschlands."
Die durch seine Nietzsche-Lektüre beeinflußte Vorstellung vom andersartigen deutschen Nationalcharakter - reduziert auf Kriegslüsternheit, Grausamkeit und Morbidität der Psyche - versetzte den ressentimentbeladenen Vansittart in die Lage, "den Deutschen jede Tat, ob Geniestreich oder größenwahnsinniges Verbrechen, zuzutrauen". Nach Späters Meinung habe er aus vielen falschen Grundannahmen richtige Prognosen gewonnen. Beruhigend oder bewundernswert ist eine solche Form politischer Weitsicht, die im Vorurteil und im Vorverurteilen wurzelt, sicherlich nicht.
RAINER BLASIUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Keine Kollektivschuld, aber Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen
Jörg Später: Vansittart. Britische Debatten über Deutsche und Nazis 1902-1945. Wallstein Verlag, Göttingen 2003. 495 Seiten, 40,- [Euro].
Mit einem verbalen Rundumschlag gegen die Deutschen - als Vortragsreihe zwischen dem 14. November und dem 6. Dezember 1940 im "B.B.C. Overseas Programme" auf der Nordamerika-Frequenz ausgestrahlt - machte Robert Vansittart im zweiten Kriegsjahr auf sich aufmerksam. Der 1881 geborene Diplomat, der 1902 in das Foreign Office eingetreten war, von 1930 bis 1937 als Staatssekretär an der Spitze des Außenministeriums gestanden hatte und seither auf einem einflußlosen Posten mit hochtrabendem Titel - "Erster Diplomatischer Berater der Regierung Großbritanniens" - ausharrte, wollte sich endlich Gehör verschaffen.
Über seine antideutschen Auslassungen berichtete die britische Presse ausführlich, und schon im Januar 1941 lagen die Vorträge in der Broschüre "Black Record. Germans Past and Present" gedruckt vor und fanden reißenden Absatz. Binnen kürzester Zeit waren mehr als eine halbe Million Exemplare des Pamphlets über den "deutschen Charakter" verkauft. Nach Vansittarts Auffassung kennzeichneten Neid, Selbstmitleid und Grausamkeit die "Deutschen im Plural" - als Gegensatz zu einzelnen "guten" Deutschen -, außerdem eine seit Generationen vorhandene "Lust nach Weltherrschaft". Immerhin gab er zu, daß das "Wesen eines Volkes geändert werden" könne. Daher müßten die Deutschen dazu gezwungen werden, "das Buch ihrer falschen Götter wegzuwerfen".
Durch ehrenvolle "Beförderung" ins Oberhaus trennte sich die Regierung Churchill/Attlee 1941 von ihrem "Ersten Diplomatischen Berater", dessen öffentliches Auftreten als skandalös empfunden wurde. In zahlreichen Reden und Publikationen übernahm der 1. Baron Vansittart dann bis zum Kriegsende 1945 wortgewaltig die selbstgewählte Rolle eines britischen Chefanklägers des deutschen Nationalcharakters. Für die von ihm und seinen Anhängern formulierten Empfehlungen zum "deutschen Problem" bürgerte sich die Bezeichnung "Vansittartismus" ein - ein Schimpfwort, über das Jörg Später meint, es umschreibe einen geistigen Zustand, der im Zuge der Kriegshysterie "Opfer von niederen Instinkten wie Rache, Haß und Vergeltung" geworden sei.
Später arbeitet in seiner quellennahen Studie, die "Vans" Vorläufer, Sympathisanten und Gegner in aller Breite berücksichtigt, heraus, wie der junge Diplomat vor dem Ersten Weltkrieg zum Meisterschüler von Sir Eyre Crowe wurde, dem britischen Chefdiplomaten mit deutscher Mutter und dem ständigen Gefühl deutscher Bedrohung. Aus Crowes Sicht ging vom preußisch-deutschen Militarismus die größte Gefahr für das Empire aus, und in sein Feindbild paßten auch die Recherchen eines von der britischen Regierung eingesetzten Komitees, das deutsche Greueltaten im besetzten Belgien untersuchen sollte. Der Komiteebericht vom Mai 1915 erzählte "von öffentlich durchgeführten Massenvergewaltigungen, bei denen die Soldaten die Brüste ihrer anschließend ermordeten Opfer abschnitten, von Kleinkindern, die an eine Scheunentür genagelt worden seien, oder von einem Soldaten, der ein Baby mit dem Bajonett aufgespießt habe, das er dann über seinen Kopf geschwungen habe, während die Kameraden sangen. Dem Bryce-Komitee war nicht vorzuwerfen, daß es seine Quellen übertrieben wiedergab oder gar gefälscht hatte. Was es unterließ, war, den Wahrheitsgehalt zu überprüfen." So habe das halbamtliche Dokument eine scheinbar seriöse Grundlage für das "atrocity mongering" geschaffen - mit fatalen Folgen für den Zweiten Weltkrieg.
Den propagandistischen Überspanntheiten und Lügen der Jahre 1914 bis 1918 habe eine "relativ ausgeprägte Trägheit" während der Jahre 1939 bis 1945 gegenübergestanden. Eine rühmliche Ausnahme bildete jedoch Vansittart, der über Informationen der Exilregierungen in London verfügte und Anfang September 1942 in einer BBC-Sendung offen aussprach: "The fate of Polish Jews is unspeakably tragic. They are murdered by thousands daily, even children - and poison gas is used to do the dreadful work. Hundreds of thousands of Polish Jews have already perished. Hitler has no use for the Jews; he does not even consider them as potential slaves like the Poles. Never in history were terror and oppression so well organised or on such scale of cruelty." Bestürzung herrschte daraufhin bei den politisch Verantwortlichen in London weniger über die Verbrechen selbst als vielmehr darüber, daß Vansittart sie öffentlich angeprangert hatte.
Vansittart habe - so das um großes Verständnis und Differenzierung bemühte Resümee Späters über den oft als "Deutschenhasser" beschimpften Diplomaten und frühen Kritiker der britischen Appeasement-Politik gegenüber dem "Dritten Reich" - nie einer Kollektivschuld der Deutschen das Wort geredet. Er habe dem deutschen Volk während des Krieges nur vorgeworfen, mehrheitlich hinter Hitler zu stehen. Nie habe Vansittart behauptet, "alle Deutschen seien Nazis, aber er sah eine Logik darin, daß die Nazis Deutsche waren. Er forderte nicht Vergeltung und Bestrafung der ganzen Nation, glaubte aber, eine moralische Wende und geistige Erneuerung Deutschlands erfordere ein Schuldeingeständnis und die Übernahme der politischen Verantwortung für die Taten Nazideutschlands."
Die durch seine Nietzsche-Lektüre beeinflußte Vorstellung vom andersartigen deutschen Nationalcharakter - reduziert auf Kriegslüsternheit, Grausamkeit und Morbidität der Psyche - versetzte den ressentimentbeladenen Vansittart in die Lage, "den Deutschen jede Tat, ob Geniestreich oder größenwahnsinniges Verbrechen, zuzutrauen". Nach Späters Meinung habe er aus vielen falschen Grundannahmen richtige Prognosen gewonnen. Beruhigend oder bewundernswert ist eine solche Form politischer Weitsicht, die im Vorurteil und im Vorverurteilen wurzelt, sicherlich nicht.
RAINER BLASIUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Benedikt Stuchtey lobt diese Studie als ausgezeichnet, bahnbrechend und perspektivenreich. Allerdings möchte er sie nicht als biografische Darstellung des wegen seiner leidenschaftlichen Anti-Deutschlandhaltung legendären britischen Diplomaten verstanden wissen, "sondern als Analyse eines Spannungsfeldes". Vansittart stellte als antideutsche Denkfigur für den Autor Jörg Später den "unbestrittenen Höhepunkt des deutsch-britischen Antagonismus dar", fasst der Rezensent einen Hauptstrang des Buches zusammen. Eindrucksvoll sieht der Rezensent in der Untersuchung dieses Antagonismus auch veranschaulicht, "welchen Mustern Feindbilder folgen, und wie weit sie ihre Schatten werfen".
© Perlentaucher Medien GmbH
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