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Die Vielfalt nationaler Entwicklungen im Sozialwesen sowie die daraus resultierenden Modelle wohlfahrtsstaatlicher Traditionsbildung werden in sechs eigenständigen, vergleichend aufgebauten Studien zur Sowjetunion, den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Schweden, Frankreich und Deutschland nachgezeichnet. Vergleichsdimensionen sind: das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, Wirtschaftssystem und industrielle Beziehungen, Leitprobleme der jeweiligen Sozialpolitik, Einkommenssicherungssysteme und soziale Dienste. Das Werk stellt eine ergänzte Version der im Rahmen der Geschichte der…mehr

Produktbeschreibung
Die Vielfalt nationaler Entwicklungen im Sozialwesen sowie die daraus resultierenden Modelle wohlfahrtsstaatlicher Traditionsbildung werden in sechs eigenständigen, vergleichend aufgebauten Studien zur Sowjetunion, den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Schweden, Frankreich und Deutschland nachgezeichnet. Vergleichsdimensionen sind: das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, Wirtschaftssystem und industrielle Beziehungen, Leitprobleme der jeweiligen Sozialpolitik, Einkommenssicherungssysteme und soziale Dienste. Das Werk stellt eine ergänzte Version der im Rahmen der Geschichte der Sozialpolitik seit 1945, Bd. 1: Grundlagen der Sozialpolitik (2001) erschienenen Abhandlung dar und eignet sich auch als Einführung in diese komplexe Materie.
Autorenporträt
Franz-Xaver Kaufmann is Professor emeritus for Social Policy and Sociology at the University of Bielefeld, Germany. He studied law, economics and sociology in Zurich, St. Gall and Paris. He is the doyen of the sociology of social policy in Germany and has been awarded honorary doctorates and prizes, including the Preller Prize for Social Policy and the Schader Prize for Applied Social Science.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.07.2003

Los der Versicherungsnehmer
Franz-Xaver Kaufmann vergleicht Europas Wohlfahrtsstaaten

Die Staatsform, in der wir leben, ist der Wohlfahrtsstaat. Zwar sind auch Demokratie, Parlamentarismus und liberaler Rechtsstaat für die gegenwärtige Form politischer Organisation Schlüsselbegriffe. Doch gegenüber den von ihnen bezeichneten Sachverhalten hat sich das System der sozialen Vorsorge und kollektiven Risikoübernahme als die eigentlich prägende Kraft erwiesen. Die ideologischen und finanziellen Spielräume moderner Politik werden durch Sicherheitserwartungen und Gerechtigkeitsvorstellungen, also durch Ansprüche auf Ausgleich unverdienten Schicksals bestimmt. Leid, selbstempfundenes wie an anderen beobachtetes, und Mitleid, mit den Armen und mit denen, die sich zu kurz gekommen fühlen, haben eine Adresse: den Steuereinnehmer und seine Verwaltungen.

Selbst die Idee der Freiheit muß sich an der Tatsache messen lassen, daß inzwischen jeder ein subventioniertes Leben führt. Auch alle Träume vom richtigen politischen Leben berücksichtigen das. Beruhen sie doch entweder darauf, den Wohlfahrtsstaat, seine Funktionen und Rechtsfolgen, in das Bild der guten Gesellschaft nicht aufzunehmen: Europa minus Brüssel, Partizipation minus Bürokratie, Solidarität minus Bundesversicherungsanstalt. Oder sie machen ihn gleich zum Maß dieses richtigen, nämlich gerechten, um Fatalitäten des Marktes oder der familiären Herkunft korrigierten Lebens. Beides beweist, wie sehr er zum Schicksal geworden ist.

Besonders in Deutschland führt diese Macht des Wohlfahrtsgedankens oft zur Ohnmacht, sich eine andere als die gegenwärtige Versorgungslage vorstellen zu können. Jenseits des erreichten Niveaus beginnt dann die Barbarei, der Neoliberalismus oder, neuerdings, etwas ganz und gar Uneuropäisches. Solche Sorgen kann das vorliegende Buch kurieren. Es beschreibt beeindruckend klar und gedankenanregend, wie verschieden selbst innerhalb Europas sozialpolitische Erwartungen die Gestalt der modernen Demokratie bestimmen. Weder die angeblich alles gleichmachenden Kräfte des Weltmarktes noch die aus Brüssel haben es vermocht, die Eigenart der hier untersuchten englischen, französischen, schwedischen und deutschen Fassungen der "sozialen Frage" zu verwischen.

Franz-Xaver Kaufmann, Soziologe und Nestor der deutschen Theorie der Sozialpolitik, informiert also nicht nur in aller wünschenswerten Dichte über die sozialen Sicherungssysteme in jenen Ländern. Er erklärt jene Beharrungskraft unterschiedlicher sozialpolitischer Auffassungen auch, indem er die Entstehung der Wohlfahrtsstaaten historisch nachzeichnet und beschreibt, welche Krisenerfahrungen, Rechtsideen, Verwaltungstraditionen und organisierten Interessen in das Handeln der staatlichen Agenturen jeweils eingegangen sind.

Jeder moderne Staat stand im Verlauf des langen neunzehnten Jahrhunderts vor der Aufgabe, es seiner Bevölkerung zu erleichtern, sich mit den Zumutungen der Industrialisierung abzufinden. Sozialpolitik dient insofern der Besänftigung innenpolitischer Konflikte. Eliten kaufen sich durch sie Loyalität, die Bereitschaft der Arbeiter zur Teilnahme an einem Krieg oder zur Reserve gegenüber radikalen politischen Versprechen. Andere Funktionen des Wohlfahrtsstaates kommen hinzu: Er gewährt den Massen Konsumchancen, stabilisiert die Binnennachfrage. Seine Existenz erlaubt es jedem einzelnen Bürger, Risiken einzugehen, die andernfalls kaum tragbar wären, das Risiko einer spezialisierten Berufswahl etwa, des Lebens in den Städten und des Verzichts auf Selbstversorgung oder einer gesteigerten Mobilität. Nicht zuletzt kann Sozialpolitik auch die Akzeptanz für marktwirtschaftliche Wünschbarkeiten, den Freihandel beispielsweise, bei der Wählerschaft erhöhen.

Die Varianten des Wohlfahrtsstaates ergeben sich aus der Vielfalt dieser Funktionen und daraus, daß die englische Arbeiterschaft eben eine andere war als die deutsche, schwedische Eliten andere Sorgen hatten als französische, der Loyalitätsbedarf in den Vereinigten Staaten sich von dem in Deutschland oder der Sowjetunion unterschied. Vor allem aber zeigt Kaufmann, wie die Nationalstaaten vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftspolitischen Lage ganz unterschiedliche Probleme als die wichtigsten wahrnehmen, um sie mittels öffentlicher Vorsorge zu bearbeiten. So war es in England die Armut, auf die sich das staatliche Engagement konzentrierte. Frauen, Kinder, Obdachlose und nicht die Arbeiter waren Adressaten einer Fürsorge, die bis heute eine steuerfinanzierte bescheidene Grundsicherung und Anreize zur Selbsthilfe in den Vordergrund stellt. Das führt zu einer Präferenz für soziale Dienste gegenüber Einkommensbeihilfen und überläßt die industriellen Beziehungen dem Arbeitsmarkt.

Armut in England, Gleichheit und Gesellschaftsplanung in Schweden, Bevölkerungswachstum und die Zufriedenstellung von Berufsgruppen in Frankreich - welches Bezugsproblem hat der deutsche Wohlfahrtsstaat? Kaufmanns Antwort "die Arbeiterfrage" leuchtet historisch ein. Familie, Demographie, Armenfürsorge oder Bildung spielen für den Träger hiesiger politischer Kontinuität über vier Staatsformen hinweg, das Sozialversicherungssystem, als sozialpolitische Größen nur eine äußerst untergeordnete Rolle, "Gleichheit" oder Demokratie schon gar nicht.

Statt dessen ging es hierzulande von Anfang des Sozialstaats an um die Stellung der Arbeiter in den Unternehmen, ihre kollektive Interessenvertretung in Wirtschaft und Politik sowie die Absicherung von Erwerbslosigkeit und Einbußen an Arbeitskraft. Dazu wurde ein System von Organisationen geschaffen, das Kaufmann etwas euphemistisch als "vernetzt" bezeichnet, man könnte auch undurchdringlich dazu sagen. Bund, Länder und Kommunen, Kassen, Versicherungsanstalten, Wohlfahrtsverbände, Sozialgerichte und Gewerkschaften - kein Land im hier angestellten Vergleich verfügt über eine so große Zahl an sozialpolitischen Entscheidungsquellen. Entsprechend entpolitisiert und arm an Parteigegensätzen sind die Diskussionen um den Wohlfahrtsstaat. Müßte man seine deutsche Variante auf eine knappe Formel bringen, so könnte es die der Ersetzung von Sozialpolitik durch Sozial- und Arbeitsrecht sowie der Ersetzung von entscheidungsbewußtem Staatshandeln durch eine fragmentierte Verbändewirtschaft sein.

Damit ist freilich der einzige Wunsch berührt, den Kaufmanns dichte Erläuterungen offenlassen. Denn nur in wenigen Andeutungen befaßt sich der Autor mit dem naheliegenden Einwand, ob sich denn "die Arbeiterfrage" noch in derselben Weise stellt wie ehemals und ob sie ebenso als Bezugsproblem für Sozialpolitik genutzt werden kann, wie Armut, Ungleichheit, Exklusion oder demographische Verläufe. Mit anderen Worten: Man wüßte gerne mehr über die Fähigkeit historisch gewordener Strukturen, sich selbst zu korrigieren. Die Anpassungsgeschwindigkeit des deutschen Sozialstaates, die bekanntlich äußerst gering ist, wäre hier dem "Wohlfahrtssektor" der Vereinigten Staaten gegenüberzustellen, der auf sozialpolitische Probleme mit einzelnen Programmen, lokalen Experimenten oder Lohnsubventionen reagiert und ansonsten Fragen der Gleichheit über ein inklusives Bildungssystem zu lösen versucht. Kaufmann verweigert dem dortigen System den Titel "Wohlfahrtsstaat", gerade weil es nur locker gekoppelte und - von der Alterssicherung abgesehen - leichter revidierbare Strukturen besitzt. Die Frage nach dem Anregungsgehalt einer solchen Sozialpolitik, die sich die Arbeiterfrage nie gestellt hat, für eine Lage, in der sie sich nicht mehr stellt, nimmt er nicht auf, weil es sich hierbei um ein "normatives Problem" handele. Für die Diskussion solcher normativen, also politischen Probleme alle nötigen Materialien zu bieten und eine Fülle an Gedanken ist das große Verdienst dieses Buches.

JÜRGEN KAUBE

Franz-Xaver Kaufmann: "Varianten des Wohlfahrtsstaats". Der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 329 S., br., 12,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Die Regeln der Ökonomie diktieren nach Ansicht von Rezensent Thomas Schramme heute die Form des Gemeinwesens. Dass dies einmal anders war, zeige Franz-Xaver Kaufmanns Vergleich von Wohlfahrtsstaaten, wie der beeindruckte Schramme erklärt. Ohne den Leser mit Zahlen und Statistiken zu langweilen, schildere Kaufmann im historischen Überblick die institutionellen Entwicklungen in Großbritannien, Frankreich, Schweden und schließlich Deutschland, wobei die USA und die Sowjetunion als Kontrastfolie gegenüber den europäischen Varianten des Wohlfahrtsstaats dienten, lobt Schramme. Er hebt hervor, dass sich Kaufmann vor allem für die historischen Prägungen und nationalen Eigenheiten interessiert und auf die kulturelle Dimension der Sozialpolitik aufmerksam macht. Auffällig am deutschen Sozialstaat sei etwa die große historische Kontinuität, die Kaufmann mit dem gesellschaftlich vorherrschenden Konsens erkläre, wonach sozialpolitische Eingriffe prinzipiell als legitim gelten, solange sie marktkonform bleiben. Bei der Lektüre des Buches überkommt einen laut Schramme eine "wachsende Missstimmung" gegenüber der aktuellen politischen Debatte in Deutschland. Deutlich werde nämlich, dass einige Vorschläge zur Reform des deutschen Sozialstaats angebliche Sachzwänge vorschieben, "wo doch in Wirklichkeit spezifische Interessen vorherrschen".

© Perlentaucher Medien GmbH…mehr